Denkschrift betreffend die Lenne-Lahn-Bahn

Textdaten
Autor: J. Heinzerling
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Titel: Denkschrift betreffend die Lenne-Lahn-Bahn
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Erscheinungsdatum: ohne Jahresangabe (vermutlich zwischen 1871 und 1889)
Verlag: Selbstverlag
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Erscheinungsort: Biedenkopf
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Quelle: Uni Köln, Kopie auf Commons
Kurzbeschreibung:
Siehe auch Eisenbahn sowie Biedenkopf und Wittgenstein
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Indexseite
[1]
Denkschrift,
betreffend
die Lenne-Lahn-Bahn.

[2]
Schnellpressendruck von J. Heinzerling in Biedenkopf.

[3] Lage des Landes
im Allgemeinen
Das vormals hessische Hinterland, ein Gebiet von 12 Quadratmeilen mit circa 40,000 Einwohnern, wurde mit dem 1. October 1867 ein integrirender Theil des preußischen Staates. Hatte sich auch der genannte Landstrich unter der hessendarmstädtischen Regierung grade keiner besonderen Protection zu erfreuen, so waren seine Gesammtverhältnisse im Allgemeinen immerhin zufriedenstellender Art. Erst von dem Zeitpunkte an, wo durch Erbauung der verschiedenen benachbarten Bahnen das Land in die vollständigste Abgeschlossenheit gerieth, von da an kränkelte es in allen seinen Verhältnissen und wird, wenn nicht rasch energische Abhilfe erfolgt, ganz sicher seinen vollständigen Ruin entgegen gehen. Diese Abhilfe kann aber nur einzig und allein durch die Erbauung einer Eisenbahn, welche die Sieg-Ruhr- mit der Main-Weserbahn verbindet, bewerkstelligt werden, und es ist daher erklärlich, daß die Gesammtbevölkerung des Kreises Biedenkopf und des in fast gleicher Lage befindlichen Kreises Wittgenstein es als ihre Lebensaufgabe betrachtet, die Eisenbahnfrage, die für sie in Wirklichkeit zu einer Existenzfrage geworden ist, zu einem befriedigenden Abschluß gebracht zu sehen.

Landwirthschaft.Langjährige Beobachtungen und genaue statistische Nachweise haben festgestellt, daß der magere Gebirgsboden des Kreises Biedenkopf bei Weitem nicht das aufbringt, was der Consum erfordert. Ueber ein Drittel der nothwendigsten Lebensbedürfnisse muß auf schwierige und kostspielige Weise per Achse von Außen beschafft werden. Viele der vorhandenen Güterstücke, welche hier und da nicht unbedeutende Theile einzelner Gemarkungen bilden, gehören außerdem dem Fiskus und sind, weil in todter Hand liegend und bei dem sich mehr und mehr einstellenden Rückgang unseres Bauernstandes, dem Erwerb Viehzucht.und der freien Benutzung der Gemeindeangehörigen nicht zugänglich. Mehrjährige Mißernten haben überdies auf die Viehzucht, einen Haupterwerbszweig der Bewohner, äußerst nachtheilig eingewirkt, und wenn trotzdem mit vieler Mühe ein Resultat in dieser Beziehung erzielt ist, so muß der Landmann, eben des Verkehrsmangels wegen, die Producte seines Fleißes stets unter dem Preise verwerthen, auf Handel und
Gewerbe.
der andern Seite aber die Import-Artikel, aus demselben Grunde, viel theurer bezahlen. In gleicher Weise stocken Handel und Gewerbe. Niemand wagt es, das etwa vorhandene Kapital in industriellen Unternehmungen anzulegen, weil Jeder von vorneherein weiß, daß er aus den angeführten Gründen eine Concurrenz unmöglich aufnehmen kann.

Arbeiterverhältnisse.Die kräftigen, brauchbaren Arbeiter finden demzufolge, auch bei dem ernstesten Streben, die Mittel zum bescheidensten Auskommen nicht. Entweder wandern sie daher aus, oder sie gehen in die industriellen Gebiete Westphalens und der Rheinlande. Aus dem Kreise Biedenkopf allein sind jetzt, nach den statistischen Erhebungen der letzten Jahre, alljährlich über 4000 Männer, mithin über 1/10 der gesammten Bevölkerung des Kreises, abwesend, um in der Ferne ihr Brod zu verdienen, was sie zu Hause nicht konnten; allein es dauert nicht lange, so kehren sie, weil hinweggerissen von Haus und Eisenindustrie.Familie, in den meisten Fällen demoralisirt in den armen Kreis zurück. Die vorhandene bedeutende Eisenindustrie, welcher auf kurzer Strecke im Gebiet der oberen Lahn allein auf fünf Hüttenwerken mit sieben Hochöfen betrieben wird und jetzt noch über 8000 Menschen erhält, war früher vollkommen lebensfähig und durfte bis gegen Ende der 50. Jahre sogar eine blühende genannt werden, da die Concurrenzwerke an der Dill, der unteren Lahn und im Vogelsberg in Bezug auf die Beschaffung der Rohmaterialien und den Versandt der Fabrikate wesentlich in gleicher Lage sich befanden. Allein nach der Erbauung der Deutz-Gießener-, der Ruhr-Sieg- und der Oberhessischen Bahn hat sich dieses Verhältniß begreiflicherweise total und zum großen Nachtheil der hiesigen Industrie geändert. Eine Concurrenz ist für unsere Hüttenwerke vollständig zur Unmöglichkeit geworden und die Besitzer, nachdem ihnen auch noch die beabsichtigte Anlage von Ladegeleisen bei Cölbe nur unter erdrückenden Bedingungen, [4] deren Annahme unmöglich war, gestattet werden sollte, haben den Entschluß gefaßt, ihre Werke, im Falle der Nichtausführung der Lenne-Lahn-Bahn, in besser situirte Gegenden zu verlegen. Die Folgen dieses Schrittes wären für unseren Kreis gradezu unberechenbar, weil sie der Hinwegnahme der einzigen Hilfquelle, der letzten Stütze, gleichkämen.

Und doch bedarf es andererseits nur des gewünschten Verkehrsaufschlusses durch Anlage der erwähnten Eisenbahn, um grade diese Eisenindustrie wieder zu einer äußerst concurrenzfähigen zu machen; sie wird sich rasch auf das Vierfache steigern und im Stande sein, die Masse der vorhandenen Arbeitskräfte vollständig und lohnend zu beschäftigen. Andere industrielle Etablissements, als Spinnereien, Gerbereien, Papierfabriken, Brauereien etc. werden dann nicht zurückbleiben, sondern mit Freude die im Hinblick auf die baldige Erbauung der Bahn bereits mit bedeutenden Opfern bewirkten Erweiterungen ihrer Werke fortsetzen.

Bergwerksproducte.Die sämmtlichen Producte des Bergbaues, deren Muthungen sich alle in fester Hand befinden und von welchen nur vorzüglicher Eisenstein, Braunstein, Kalk, Dachschiefer und Bausteine erwähnt werden sollen, haben, wie auch die überaus großen Reichthümer an Holz, bie jetzt, der beregten ungünstigen Verhältnisse wegen, entsprechende Beachtung nicht gefunden. Rechnet man hierzu die vielfach unbenutzten bedeutenden Gefälle der Lahn und der Eder, sowie den durch Treue, Biederkeit, Fleiß und Ausdauer sprüchwörtlich gewordenen Volksstamm, so möchten hierin doch wahrlich die Grundbedingungen einer gesunden Entwickelung industriellen Lebens gefunden werden und es kann und wird nicht schwer halten, neuen Zweigen der Industrie erfolgreichen und blühenden Eingang zu verschaffen.

Staatsvertrag.Dieser Einsicht konnte sich denn nun auch schon die Regierung des Großherzogs von Hessen nicht verschließen. Schon im Jahre 1863 schloß sie mit der preußischen und kurhessischen Regierung einen Staatsvertrag Behufs Erbauung einer Eisenbahn von Siegen über Laasphe und Biedenkopf bis zur Main-Weserbahn und stellte später der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft, welche sich zur Ausführung des Projectes von Altenhundem nach Marburg bereit zeigte, Zinsgarantie in Aussicht. Zusagen der Berg.-
Märk.-Eisenbahn-
Gesellschaft.
Die Königliche Eisenbahn-Direction zu Elberfeld erklärte damals, daß man die Bedeutung dieser Bahn für den allgemeinen Verkehr, als auch für die Interessen der Gesellschaft mit Lebhaftigkeit erkannt habe und hoffe, daß es bald gelingen werde, auf diesem kürzesten Wege die rheinischen Provinzen, namentlich die Kohlendistricte der Ruhr mit Mittel- und Süddeutschland zu verbinden. Der Krieg in 1866 ließ jedoch die Angelegenheit in Stockung gerathen, das Hinterland wurde annectirt und seine Bevölkerung lebte der sicheren Hoffnung, der Großstaat Preußen werde als Rechtsnachfolger Hessens die bindendsten Versprechungen bei
der Einverleibung.
Verpflichtungen des Rechtsvorgängers erfüllen. Ganz besonders freudige Stimmung aber erregte es, als der damalige Vertreter des preußischen Staates, der Civil-Administrator Herr von Patow bei der Einverleibungsfeierlichkeit öffentlich erklärte: daß die Verhältnisse sich jetzt bessern und jetzt die dem Verkehre so nothwendigen neuen Wege eröffnet werden sollten. Es unterlag keinem Zweifel, daß hierunter vor Allem der Bau einer Eisenbahn verstanden war, einer Bahn, welche bereits seit dem Jahre 1847 erstrebt, über welche verschiedene Projecte ausgearbeitet waren, und auf welche bei den Nothschreien der armen Gegend stets hingewiesen, vertröstet und gehofft war. Leider gingen diese Verhandlungen des
Abgeordnetenhauses.
Hoffnungen nicht in Erfüllung. Das Abgeordnetenhaus, an welches sich die bedrängten Bewohner des Kreises im Jahre 1867 gewendet hatten, ging über die Petition zur Tagesordnung über, da es an der Vorlage eines Vertrags zwischen der Regierung und der Bergisch-Märkischen-Gesellschaft fehlte. Dagegen erkannte die Commission die Wichtigkeit und Nothwendigkeit der fraglichen Bahn sowohl, als auch die Verpflichtung des Staates, hier im Interesse der Industrie und der Petenten erhebliche Unterstützung Zusagen der Preuß.
Regierung.
zu gewähren, vollständig und ungetheilt an. Der Herr Handelsminister erklärte damals, daß er die große wirthschaftliche Bedeutung der Lenne-Lahn-Bahn, sowie die moralische Verpflichtung des Staates zum Bau derselben in allem Umfange anerkenne und außerdem zu verschiedenen Malen, daß er auf die Herstellung dieser Bahn im allgemeinen Verkehrs- und Landesinteresse das größte Gewicht legen müsse (September 1867), er habe den bestimmten Willen, die Bahn baldigst auszuführen, es sei die erste Bahn, welche gebaut werden müsse (April 1868), er werde der Bergisch-Märkischen-Gesellschaft nur für diejenige Linie, welche dem Volkswohl am meisten entspräche, eine Zinsgarantie befürworten, und dies sei, nach seiner jetzigen Anschauung, nur die Linie Altenhundem-Laasphe-Biedenkopf-Marburg. Station Kölbe und
Anerkennung der Noth-
wendigkeit der Bahn
seitens der Regierung.
(August 1871). Auch bei anderen Gelegenheiten hat die Staatsregierung die Nothwendigkeit der Bahn betont und die Nichterfüllung von wirthschaftlichen Wünschen des Kreises Biedenkopf mit dem Hinweis auf den baldigen Bau der Lenne-Lahn-Bahn motivirt. So wurde die Bitte, um dem Verkehr einigermaßen entgegenzukommen, zwischen Kirchhain und Marburg, bei Cölbe, eine Station anzulegen, zu wiederholten Malen aus dem Grunde abgeschlagen, weil die Lenne-Lahn-Bahn in naher Aussicht stehe und nur erst festgestellt werde müsse, in welcher Richtung diese den Anschluß Beschluß der
Generalversammlung der
Actionäre der
Berg.-Märk.-Eisenbahn-
Gesellschaft
an die Main-Weser-Bahn finden könne. (Ministerial-Rescripte vom 18. Octbr. 1866 – 2. Septbr. 1867 – 4. Decbr. 1867 – 5. Juni 1868 – 24. Decbr. 1868 – 18. Mai 1870 – 17. April 1871. –) Trotz dieser beruhigenden Erklärungen, trotz der Bereitwilligkeit der Bergisch-Märkischen-Gesellschaft, [5] mit welcher die Generalversammlung der Actionäre am 20. Februar 1869, im wohlverstanden Interesse der Gesellschaft und in Anerkennung der Nothwendigkeit und Nützlichkeit für den durchgehenden ungehinderten Verkehr sowohl, als auch der erwiesenen Rentabilität und leichten Herstellung der Bahn die Ausführung derselben unter der Bedingung der staatlichen Zinsgarantie mit Einstimmigkeit beschlossen – trotzdem, daß die genannte Gesellschaft neuerdings wieder die bestimmte Erklärung abgegeben hat, es werde, bei einigem Entgegenkommen der Regierung, die Ausführung der Bahn seitens der Gesellschaft auf keinerlei Schwierigkeiten stoßen, trotzdem ist unsere hochwichtige Angelegenheit noch um keinen Schritt weiter vorgerückt, und noch immer befindet sich die Bevölkerung des oberen Lahngebiets in allen ihren Verhältnissen auf abschüssiger Bahn. Der ungewisse Zustand, das fortwährende Hinausschieben der Ausführung des Bahnprojects schädigt aber unsere Bevölkerung doppelt, indem andere, von der Staatsregierung selbst für nothwendig erkannte gemeinnützige Unternehmungen Lahnregulirung.grade wegen des Bahnprojects unausgeführt bleiben oder verschoben werden müssen. So wird schon seit Jahren die Regulirung des in starken Gefällen höchst unregelmäßig laufenden Lahnflusses erstrebt. Durch Ausführung dieses Unternehmens wird das Emporblühen des oben erwähnten landwirthschaftlichen Erwerbszweigs (Viehzucht) bedingt, da die Regulirung der Lahn die erste Voraussetzung der Verbesserung der Wiesencultur bildet. Nun sind zwar von Seiten der Regierung Einleitungen dieserhalb getroffen, allein weil sie es aus technischen und ökonomischen Gründen als höchst zweckmäßig ansieht, die Lahnregulirung mit der Ausführung des Eisenbahnprojects in Verbindung zu bringen, so hat sie (im Mai d. J.) ausgesprochen, die Lahnregulirung möge so lange unterbleiben, bis über die Erbauung der Eisenbahn Abnahme der
Bevölkerung und der
Steuerkraft.
definitiv entschieden sei. Ist es daher auch aus diesem Grunde geboten, endlich hierzu zu schreiten, so kommt noch weiter in Betracht, daß die Population, nach den amtlichen statistischen Aufzeichnungen, von Jahr zu Jahr abgenommnen und die Steuerkraft sich vermindert hat. Gründliche Verarmung und vollständiger Ruin stehen daher drohend in naher Ferne.

Noch ist zwar nicht Alles verloren; noch kann geholfen werden. Soll aber Hilfe kommen, so muß sie in der angegebenen Weise und rasch kommen, und ebenso rasch werden sich dann die gesunkenen Verhältnisse wieder heben, Lebensmuth und Frische wird die gedrückten Bewohner wieder erfüllen Zinsgarantie
oder anderweite
Staatsbeihilfe.
und gesicherte Existenz und Wohlstand werden Armuth und Elend verdrängen. Und was ist es, das wir von unserer Staatsregierung verlangen, um das drohende Unheil von uns abzuwenden und das Hinterland mit seinen Naturschätzen zu einem reichen, steuerkräftigen Landstrich zu machen? Nichts, als eine kleine Staatshilfe, eine Zinsgarantie, oder irgend welche andere Unterstützung, welche uns die Bahn ermöglicht und die bei der Wichtigkeit dieser Bahn für das öffentliche Interesse überhaupt nicht in Anschlag kommen kann, jedenfalls aber auch in erheblichem Maße nicht in Anspruch genommen werden wird. Sollte das Letztere dennoch der Fall sein, so steht zu erwarten, daß die dem Staate erwachsende Zubuße durch die ganz sicher eintretende Preissteigerung des Holzes aus den hier vorfindlichen sehr bedeutenden Domanialwaldungen völlige Ausgleichung findet. Mochten frühere Finanzverhältnisse des Staates vielleicht auch darauf hingewiesen haben, daß das Abgeordnetenhaus in seiner Mehrheit von der Genehmigung staatlicher Zinsgarantien überhaupt mehr und mehr absehen zu müssen glaubte, so ist doch jetzt die Sachlage eine andere. Jetzt nach der glücklichen Beendigung des ruhmreichsten Krieges, an welchem auch unsere Söhne gerne und freudig so wackeren Antheil genommen, jetzt, nachdem Ein großes, deutsches Vaterland erstanden, in dem Jeder der Segnungen des Friedens sich erfreut, sollen wir denn auch jetzt immer noch durch Vertröstungen und Versprechungen, dem Grabgeläute unseres Glückes, hingehalten werden, oder sollen auch für uns endlich einmal die heißesten, berechtigtesten Wünsche in Erfüllung gehen und glücklichere Tage uns dämmern?

Der Staat – wir wiederholen es – hat die moralische Verpflichtung, uns hier die Hand zu reichen; er hat sie nicht nur als Erbe der Versprechungen unserer früheren Regierung, sondern namentlich auch als Ehrenschuldner der seinigen, und das Abgeordnetenhaus wird wahrlich nicht die Hand dazu bieten wollen, daß durch Verweigerung der Genehmigung dieser Zinsgarantie oder irgend welcher Staatsbeihilfe ein großer Landstrich mit seiner thätigen Bevölkerung am Boden gehalten und für alle Zeiten in namenloses Elend gestürzt werde.