Textdaten
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Autor: Heinrich Beta
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Titel: Das liebe Geld!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10–11, S. 103–106;115–117
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das liebe Geld!

Geschichte aus Englands Gegenwart. Von H. Beta.

„Da fährt es nun hin, mein Glück, mein Geschäft! Pah! Ich werde mich nach einer Andern umsehen müssen, das ist Alles!“

„„Man schätzt ihn allgemein auf 150,000 Pfund. Und sie ist die einzige Tochter, das einzige Kind. Du wirst Dich lange umschauen müssen, ehe Du eine ähnliche Parthie findest.““

„Ah was, 50,000 Pfund thun’s auch. Im Whole sale (Geschäft im Großen, en gros) macht man die 100,000 dazu bald.“

„„Heiho! Du speculirst schon auf einen großartigen Bankerott?““

„Hast Du schon eine Firma reich werden sehen ohne Bankerott?“

„„Das weiß ich besser wie Du. Bin ich nicht schon bei fünf in Condition gewesen, die sich bei 100,000, bei 350,000 Pfund mit zehn bis zwölf Procent abfanden und dann von ihren Gläubigern einen drei-, vierfachen Credit bekamen? Das ist ’ne alte Geschichte in der Haupthandelsstadt der Welt, daß ein guter Bankerott reich macht und den Credit um Hunderte von Procenten erhöht; aber die Kunst besteht darin, mit Ehren, d. h. mit mindestens 20,000 Pfund Schulden seine Zahlungen einzustellen. Die Kunst besteht darin, diese Schulden zu contrahiren.““

„Das ist meine Sorge. Der Mensch kann Alles, was er will. Ich bin entschlossen, die 150,000 Pfund, die jetzt mit dem liederlichen Lord dort in die Kirche fahren, durch eine Heirath und einen Bankerott zu ersetzen. Du kriegst Deine Procente. In einigen Tagen etablire ich Dich mit sehr alten Büchern und beziehe mich auf Dich. Zwei habe ich schon. Nun geh’ ich zum ersten Besten, und beziehe mich auf einige alte Firmen. So bekommst Du eines Tages einen Besuch: Mister Johnson bezieht sich auf Sie. Kennen Sie den Mann? – Johnson? Johnson? sagst Du und schlägst einige sehr alte Bücher nach. Wir machen mit sehr viel Johnsons. Welchen Johnson meinen Sie? Henry Johnson! Edward Johnson! William Johnson! Harry Johnson und zehn bis zwölf andere Johnson. Edward Johnson, sagt der Mann. O, Edward Johnson, sagst Du, Edward Johnson, Sir! Es ist meine Sache nicht. Andere zu rühmen, sagst Du, aber wenn Sie hier sein Conto nachsehen wollen, hier sehen Sie! Ich kann nicht für ihn bürgen, aber da sind Posten von 50 Pfund, 70 Pfund, 150 Pfund, 370 Pfund, 620 Pfund, 1500 Pfund creditirt auf drei, auf sechs Monate, fällig an dem und dem, bezahlt an demselben früh Morgens 101/2 Uhr. Für mich, sagst Du, ist er gut für 10,000 Pfund, rathe Ihnen aber doch, mit dem Herrn, der noch sehr jung ist, vorsichtig zu sein, sagst Du. Gut, denkt der Mann, das brauchst Du Gelbschnabel mit dem kümmerlichen Backenbart mir nicht erst zu rathen, und geht zu dem Zweiten und Dritten. Der Zweite ist grob und hat jetzt nicht Zeit. Wiederkommen! Der Dritte ist eben beschäftigt, mit einem Geschäftsfreunde zu streiten, daß die Verkaufssumme für so viele Centner Indigo nicht 2589, sondern 2598 Pfund betrage. Endlich belachen sie den kleinen Irrthum, der Geschäftsfreund nimmt nachlässig sein Wechselformularbuch und schreibt, eine Onkel-Toms-Arie pfeifend, einen Wechsel gut für 2598 Pfund. Im Weggehen sagt er: Noch einmal, wollen Sie mir die ganze Ladung für 1500 lassen? 1750, keinen Farthing anders, antwortet er und wendet sich nun verächtlich an den Mann, der nach meinen Verhältnissen fragen will: Was steht zu Diensten? Edward Jobnson u. s. w. – Oh, Edward Johnson? Wie lange sind Sie Kaufmann? frägt er den Herrn mit ironischem Lächeln. So und so lange. Nun, sagt er, dann nimmt es mich nicht Wunder, daß Sie auf der Börse nicht von dem Mann gehört haben. Verlor 7000 Pfund an einem untergegangenen australischen Schiffe, wurde den folgenden Tag bestürmt, daß er wenigstens dreißig Procent zahlen möge, lachte sie alle aus, warf deren Forderungen seinem Kassierer hin, ließ die vollen Beträge zahlen, und bat die Herren, ihn nicht wieder zu incomodiren. Das ist Edward Johnson, Sir! – Der Zweite, der Grobe, ist endlich einmal zu sprechen. Edward Johnson? fragt er. Seine Verhältnisse? Wer sind Sie? Der und der. Gieb den Herrn Auskunft, sagt er ärgerlich zu einem Diener, während er einige schwere Säcke empfängt, sie auf den Tisch legt, ärgerlich besieht und sie in die große Geldkiste wirft. Die Quittung brummend hinwerfend, sagt er zu dem Geldlastträger: Sagen Sie Mr. So und So, er würde mich ein anderes Mal sehr verbinden, wenn er Wechsel statt Kasse schickte. Inzwischen hat der Diener dem Herrn, der nach Edward Johnson fragt, einige Kontobücher gezeigt. Credite von anständigem, doch nicht übertriebenem Betrage und die Quittungen dazu. Nun ist der Mann reif. Man nimmt Einiges, bezahlt es und fährt so mit etwas Avance fort, bis er sich geehrt fühlt, mit einer Lieferung von einigen hundert Pfund dienen zu können. So bringen wir uns gegenseitig in die Höhe, und ich vergesse meinen Liebesgram. Inzwischen bildet sich auch der Backenbart vollends aus. Mit diesem und dem stets hinten gescheitelten Haar und einer gestickten Weste bring’ ich ein Minimum von 50,000 Pfund dahin, daß es sich mir an den Hals wirft und erröthend lispelt: Ja, Edward, ewig die Deine! Damit 100,000 Pfund auf Credit bekommen und eine Zeit lang zu bezahlen, bis man einen Bankerott von 250,000 ansagen kann, [104] ist eine Kleinigkeit. Jeder weiß hinterher, daß man Geld hat, und man nun in den ersten drei Jahren nicht wieder fallirt. So bestürmt man mich mit Anträgen, hat in sechs bis sieben Jahren seine 150,000 Pfund baar, kauft sich eine Villa draußen und spielt mit Hunderttausenden, die es ebenso gemacht haben, den unabhängigsten Gentlemen.“ [1]

„„Das hast Du mir schon öfter gesagt, aber wenn ich an meine Mutter denke, die so ehrlich –““

„Ehrlich und arm und verachtet und ausgestoßen aus der „guten Gesellschaft“, nachdem sie ihr Geld verloren. In unserm großen, freien Lande, wo die Sonne nicht untergeht, frage und suche ringsherum, ob’s neben den beiden Tugenden: „Geld machen“ und „Geld haben“ noch eine dritte giebt. Ich für meinen Theil will den Pfad der Tugend wandeln, d. h. Geld machen und haben.“

„„Nun denn sieh da die beiden großen Tugenden in hoher Vollendung. Da sitzt der Mann mit 150,000 Pfund, verlacht und verspottet von Gassenbuben. Seine einzige Tochter an einen Lord verheirathet – und er die Hände ringend und ausgelacht, hörst Du, verhöhnt von dem fettigen Fleischerjungen da mit der Mulde? Da sitzt es, Dein Ideal, Dein Principal mit weißen Haaren, 150,000 Pfund werth!““

„Der Dummkopf besitzt das Geld nicht, es besitzt ihn – das ist der Fehler.“

„„Ich fürchte, dann sind die meisten Reichen die jämmerlichsten Sklaven, elender, als die Schwarzen, für deren Befreiung die fromme, reiche Welt Englands so viel Eifer zeigte, aber mit zugehaltenen Taschen.““

Das Gedränge der Neugierigen und die durch’s Gewühl hindurchfahrenden Equipagen störte jetzt die weitere Unterhaltung. Glänzende, gepuderte Diener kamen aus der Kirche und liefen und riefen nach den Wagen ihrer Herrschaften, welche in Sammet und Seide, Gold und Juwelen und diamantenen Blumen im Haar dicht neben zerfetzten und schmutzigen Lumpen, in denen auch menschliche Wesen athmeten, vorbei in ihre seidengepolsterten Wagen sprangen und wie höhere, unsterbliche Wesen davonflogen. Endlich kam die Braut, die junge Frau, blaß wie die weiße Rose in ihrem Haar, neben ihr der große Lord Moretown, ihr jetziger Gemahl. Der alte Mann, der von dem Fleischerburschen so derb verhöhnt worden war, streckte seine Hände zitternd aus und stammelte mit blassen Lippen: „Meine Tochter!“

Sie stieß einen Schrei aus, prallte zurück, faßte sich aber wieder und lispelte ihm in’s Ohr: „Mein Frühstück hat die Katze verzehrt!“

Der alte Mann zitterte an allen Gliedern und sank zusammen, während das junge Mädchen davon fuhr. Die Menge gaffte und starrte und drängte, so daß es den beiden jungen Herren, die wir vorher reden hörten, schwer ward, mit Hülfe der Polizei durchzukommen. Man brachte ihn in eine Droschke, in welcher er zusammenfiel, wie ein Haufen loses Gebein, und die beiden Herren fuhren mit ihm ab.

Als sie vor seinem Hause angekommen waren, hatte er sich wieder etwas erholt. Sein Diener sagte, er werde das Fahrgeld für ihn auslegen. „Auslegen?“ kreischte der alte Mann und sah ihn mit scharfen, mißtrauischen, stechenden Augen an. „Habe ich die Droschke bestellt? Ich bin ein ruinirter Mann, ruinirt bis auf’s Arbeitshaus; ich habe nichts mehr. Alles gehört meiner Tochter. Sie können nichts auslegen! Sie werden bezahlen! Alles nimmt mir meine Tochter. Alles, allen Schweiß von siebzig Jahren. Ich muß zu Fuße in mein Grab gehen!“

Hier lachte der Diener laut auf.

Sein Freund bemerkte, man müsse einen Arzt holen.

„Arzt holen?“ schrie der alte Mann wieder, Beide scharf musternd, „Arzt holen? Vergiften lassen, dafür bezahlen, sterben wie eine Katze und Alles obendrein bezahlen? Nicht einen Tropfen Medicin bezahl’ ich! Keinen Farthing bezahl’ ich. Ich bin gesund. Wer sagt Ihnen, daß ich krank bin? Was soll das heißen? O, ich kenne die Welt. Wie viel Procente hat Ihnen der Doctor versprochen, den Sie holen wollen, he? Verrechnet! Erst muß er Geld von mir haben, eh’ er Procente giebt, und von mir kann er nichts bekommen. Ich habe nichts mehr, ich bin ein Bettler. Mein Arzt ist der Armendoctor, er wird mich nicht vergiften und eine Guinee dafür berechnen. Gift ist theuer, meine Herren! Geben Sie dem Kutscher keine halbe Krone! Sie wissen nicht, wozu Sie die sechs Pence brauchen können, wenn Sie ihm blos zwei Schillinge geben. Geben Sie mir die sechs Pence. Junge Herren wissen nicht mit Geld umzugehen, und denken nicht an ihre erwachsenen Töchter.“

Während er so ungereimt faselte, ward es den beiden jungen Herren unheimlich zu Muthe. Sie hatten einen blödsinnigen Greis vor sich, und suchten ihn so bald als möglich in’s Haus zu bringen, um dann weiter für ihn zu sorgen. An der Thür aber entspann sich ein förmlicher Kampf. Der alte Mann weigerte sich, aufzuschließen. Der Diener wollte ihm den Schlüssel gewaltsam aus der Tasche ziehen, ward aber davon durch ein förmliches Geheul und Kreischen des Alten abgeschreckt, der sich außerdem mit seinen schlotternden Gliedern kräftiger wehrte, als man ihm zutraute. Polizei, die zu Hülfe kam, drang endlich darauf, daß er sein Haus aufschließe und sich entferne, damit „der Verkehr auf der Straße“ nicht durch das sich sammelnde Volk gehemmt werde. Er that es unter der Bedingung, daß ihm die Polizei Niemanden in sein Haus lasse, und sie ihre Pflicht, „das Eigenthum zu beschützen,“ streng erfülle.

So verschwand er hinter seiner Thür, die er leidenschaftlich hastig wieder verschloß.

Nikolas Arden – so hieß der alte Mann – krappelte und klirrte lange mit einem Schlüsselbunde im Hause umher, öffnete und schloß Kisten und Kasten, zählte Gelder und Geldscheine und murmelte und fluchte und zitterte dabei auf eine schreckenerregende Weise. Endlich ächzte er mit seinen klappernden Gliedmaßen die Treppe hinauf, öffnete eine Thür und trat ein, stolperte aber sogleich über den steifen, schrecklich verzerrten Körper einer todten Katze, deren offene Augen ihn wie vorwurfsvoll anstarrten. Auf dem Tische stand noch der Teller mit einem unberührten Butterbrote, ein anderes lag in Stückchen zum Theil noch um die Katze herum. Er begriff sogleich, wie sein Verbrechen vereitelt worden war. Wüthend stieß er die Katze mit dem Fuße und kreischte in wahnsinniger Wuth: „Warum liegt sie nicht hier? Die Katze hätte mich nicht meines Vermögens beraubt. Das einzige Kind, und der Räuber meines ganzen Vermögens? Nein, sie soll es doch nicht haben! Der betitelte Bettler soll sich nicht von den Früchten eines siebenzigjährigen Fleißes mästen.“

Er warf sich in einen Stuhl und murmelte und speculirte, wie er seiner Tochter das von mütterlicher Seite ihr zufallende, unantastbare Vermögen vorenthalten könne. Dabei rollten ihm die Augen in fieberhafter Hast umher, bis sie auf einen an ihn adressirten Brief fielen. Er war von seiner Tochter. Sie schrieb:

 „Vater!“

„In diesem Worte finde ich hinreichenden Grund, das Verbrechen, das Sie gegen mich beabsichtigten, vor aller Welt zu verbergen. Ist es möglich, fragte ich mich selbst, daß Habsucht Sie, mit dem Stempel des Greisenalters auf dem Gesicht, dem Grabe, Ihnen zu Füßen gähnend, die Stimme der Natur, so weit ersticken konnten, Ihr eigenes, einziges Kind zu morden? Ich habe alle Qualen, die Ihre wahnsinnige Leidenschaft von Geiz und Habsucht mir auferlegte und mich um die unschuldigsten Freuden der Unschuld und Jugend betrog, ruhig ertragen: dieser letzte Akt – der Beweis liegt in ganzer Wahrheit noch vor mir – bricht hiermit alle Bande der Kindespflicht. Ihret- und meinetwillen habe ich eine unübersteigliche Schranke zwischen uns aufgestellt und meine Hand einem edeln Manne gegeben, unter dessen Schutze ich mich sicher fühle. Bitten Sie Gott um Vergebung! Und wenn Sie wieder mit Hoffnung gen Himmel blicken können, soll Ihnen auch meine Vergebung nicht vorenthalten bleiben, da ich noch immer Ihre Tochter bin! Ellen.“ 

„Mag sie leben, die Stunde zu verfluchen, in der sie floh!“ heulte der alte Mann und schleuderte den Brief weit von sich. „Sie soll nun keinen Farthing haben für ihren hochgebornen Bettler! Mein Geld! Mein Geld! All mein Geld! Huh! In Stücken sollt ihr mich reißen, eh’ ich euch nur einen falschen Schilling zeige! O es giebt noch Polizei, Polizei, Polizei, die das Eigenthum schützt, das Eigenthum, mein, mein Eigenthum!“ – So heulte und kreischte er in seinem Stuhle sich fieberhaft schüttelnd, bis es ihm einzufallen schien, den Brief lieber zu zerstören. [105] Er versuchte aufzustehen, aber die schlotternden Füße trugen ihn nicht mehr, die Hebelkraft der alten ausgetrockneten Muskeln und Sehnen war durchschnitten, und auch die wüthend unterstützenden Hände knickten in den Gelenken, so oft als er sie brauchen wollte, zusammen. So zappelte und ächzte der alte Mann schaudererregend umher, bis er wieder aufheulte, sich zu Boden warf und wie ein fabelhaftes, vorsündfluthliches, krokodilartiges Thier nach dem Briefe hinkroch. Er zerriß ihn mit Hülfe der Zähne, da die Hände sich zu schwach erwiesen und schob sich auf die elendeste Weise umher, um wieder auf die Füße zu kommen. Vergebens. Die Schrecken des Todes überfielen ihn in ihrer gräßlichsten Gewalt und Gestalt und beschleunigten sein furchtbares Ende von Innen und Außen. Er heulte, fluchte und schäumte und warf die klappernden Glieder umher, als hingen sie gar nicht mehr zusammen und bot dann in schmeichelndem Tone dem Tode, den er in Person vor sich sah, eine bedeutende Summe, die er immer wieder steigerte, wenn Freund Hain still blieb. „Tausend Pfund, tausend Pfund baar!“ rief er, „wenn Du mich nur noch einen Tag leben läßt! Tausend Pfund, Freundchen, welch’ eine Summe. Nur noch einen Tag, einen einzigen Tag!“ Aber Freund Hain stand da vor ihm ruhig lächelnd von einem Ohre bis zum andern, unbeweglich, unbestechlich – erhabener wie Tausend christliche Diplomaten und Philanthropen, und immer weiter den ganzen Reichthum seiner Zähne zeigend, mit der Sense im Arme – die dem alten wahnsinnigen Greise so scharf erschien, daß er wieder aufkreischte und ihn frug, was er verlange, wenn er die Sense ablegte. Auch hier ließ er sich nicht bestechen. Und, so blieb er stehen und wartete ruhig, bis er die scheußlichsten Todesqualen ausgestanden und neben der durch Convulsionen entstellten Katze ruhig da lag wie ein liederlich durcheinandergeworfener Haufen menschlichen Gebeines.

Nur noch einmal kreischte er auf und schabte mit Händen und Füßen umher und horchte und heulte wieder und suchte mit dem letzten Funken entweichender Lebenskraft aufzuspringen. Er vermochte es nicht mehr.

Draußen rollten die Wagen in tausenderlei Gestalten und liefen die Menschen gierig hin und her. Jeder in die Luft starrend, als wenn er Goldstücken und Anstellungen in der Luft nachliefe, und die Häuser öffneten und schlossen sich und gekaufte und verkaufte Waaren und Güter und Lebensmittel drängten sich und wurden in allen Tonarten ausgeschrieen, und Ochsen- und Hammelheerden liefen wild und springend zwischen Rädern, Pferden und Menschen hindurch, Kinder und Weiber nach allen Seiten in die Flucht jagend und die Hunde, welche mit dem athemlosesten Eifer Ordnung machen wollten, zur Verzweiflung bringend, so daß sie oft in großer Rathlosigkeit ihre Herren anblickten, um zu sehen, ob sie ihnen nicht mit einem guten Rathe unter die Arme greifen könnten. Kurz London war wie gewöhnlich lebendig und schien kein Fleckchen zu haben in ganzer, endloser Ausdehnung, wo ein Mensch sich ruhig hinsetzen und einen Gedanken fassen könnte. Nur das eine Haus war und blieb ruhig. Schon Mancher war gekommen und hatte geklopft und geklingelt und die Thür angesehen und gewartet und war dann – wenn die Wagen einen Uebertritt gestatteten – auf die andere Seite gegangen, um die Fenster oben zu mustern und dann endlich mit beschleunigtem Geschäftsschritt davongelaufen. Im Laufe des Tages fiel das geschlossene Haus immer mehr auf. Der Magistrat erfuhr endlich, daß dort etwas „nicht richtig sein müsse“ und ließ von vereideten Personen im Beisein von „Aldermen“ die Thür öffnen.

Die beiden Todten und das Stückchen Butterbrot und die sonstigen Inventarien wurden zu Protokoll genommen und nach Wegschaffung der beiden Leichname das Haus amtlich wieder verschlossen. Lord Moretown – der sich als der einzige rechtmäßige Erbe herausstellte, ward amtlich von dem Ableben seines Schwiegervaters benachrichtigt und ihm anheimgestellt, über sein neues Eigenthum zu verfügen.

Die Wochenzeitungen brachten den Sonnabend darauf unter den stets reich vertretenen Rubriken: „Morde,“ „mysteriöser Mord,“ „erwiesener Mord,“ „grausamer Mord,“ „Ermordung einer Frau durch ihren Mann“ (drei- und viermal in jeder Nummer wiederkehrend) auch die mysteriöse Vergiftung des Nikolas Arden, eine sehr interessante Geschichte, da der Phantasie und der Detectiv-Polizei noch zu ermitteln übrig blieb, ob er sich selbst vergiftet habe, oder von seinem Diener Edward Johnson oder von seinem erhabenen Schwiegersohne, Lord Moretown, oder von einem Schuldner vergiftet worden sei. Edward Johnson war verhaftet aber bereits nach einigen Tagen wieder frei gelassen worden. Die Gerichts-Chemiker hatten in dem Magen der Katze Gift gefunden, in dem Magen des alten Mannes aber kein Gift. Das Gift, an welchem er zeitlebens litt und gestorben – wie viele andere christliche Mitbrüder – ein Gift, das neun und neunzig Procent der modernen Menschheit mehr oder weniger durchtobt, stellt sich auch durch den feinsten Proceß Liebig’scher Analysen nicht dem Auge dar.


Der edelmüthige Lord Moretown hatte sich der unglücklichen Ellen Arden mehr als Beschützer, wie als Anbeter dargestellt und in ersterer Eigenschaft war er auch so glücklich gewesen, ihr Herz zu gewinnen. Der alte Arden hatte den edeln Beschützer durchschaut und sah in ihm nichts, als den Räuber seines Geldes. Er wüthete über den Entschluß Ellen’s und bestärkte ihn dadurch nur. Da sie mündig war, konnte der Vater die Verbindung nicht hindern. Wir wissen, auf welche Weise er sein Geld zu retten suchte.

Die Flitterwochen dauerten kaum einige Tage. Lord Moretown war Wittwer gewesen und ließ seinen einzigen „Erben“ von einer jungen Französin erziehen. Der Erbe, ein Knabe von acht Jahren, ward seiner neuen Mutter vorgestellt, die ihn an ihr Herz drücken wollte. Der Junge wehrte sich und sagte trotzig: „Ich kann Dich nicht leiden. Du sollst mich nie küssen. Du sollst meine Mutter nicht sein.“ Vater und Erzieherin waren zugegen. Die neue Mutter fragte ihn, ob er sie nie lieben wolle, wenn sie recht gut zu ihm wäre. „Du sollst nicht gut zu mir sein!“ antwortete der Junge und lehnte sich trotzig an den Schooß der Erzieherin, welche darüber auf eine entzückende Weise lächelte. Die neue Mutter wandte sich an seinen Vater und bat ihn um Aufschluß über diese unerklärliche Abneigung. „Ist ein selbstständiger Charakter,“ sagte der erhabene Vater: „willst Du Deiner Mutter nicht die Hand geben, mein Kind?“ – „Nein, will nicht!“ Die Erzieherin lächelte noch entzückender und der Vater auch, die neue Mutter aber brach in Thränen aus, worüber sie von ihrem edeln „Beschützer“ gescholten ward, es sei eine Sentimentalität, die sich im Allgemeinen nur auf „niedere Kreise“ beschränke.

Dies war die erste Störung ihrer Flitterwochen, der erste Sturm der Enttäuschung, der so viele unschuldige, edle, weibliche Gemüther vernichtet und den Blumengarten ihrer Hoffnungen bald langsamer, bald rascher in Einöden verwandelt, aus denen oft kein späterer Frühling, kein segnender Sonnenstrahl einen grünenden Keim wieder zu erwecken vermag, besonders wenn ärgere Verwüstungen so rasch auf einander folgen, wie hier.

Die nächste Enttäuschung errathen wir aus einer häuslichen Scene. Es ist ein Glück für den Erzähler, daß er sie blos zu errathen lassen und nicht zu schildern braucht.

Eines Morgens kömmt der Beherrscher der unterirdischen Welt in englischen Häusern, d. h. der Koch, in das Frühstückszimmer, wo Lord und Lady Moretown ihren Thee nehmen und frägt nach dem heutigen Küchenzettel.

„Ist Alles gleich,“ sagte der Lord. „wir essen in Familie, meine Frau, Athalie und ich.“

„Mademoiselle Athalie, die Erzieherin?“ frug Ellen zitternd.

„„Natürlich, wer sonst?““

„In diesem Falle werde ich in meinem eigenen Zimmer essen!“ sagte Ellen zu dem Küchenmeister, der sich verbeugte und ging.

„„Wie Ihnen gefällig ist, Madame!““ versetzte Lord Moretown, scheinbar nachlässig.

„Und ich werde jedesmal auf meinem Zimmer essen, so oft „der Herr“ mit Mademoiselle Athalie speist,“ rief Ellen dem Küchenmeister nach.

„„Und was soll diese – diese Gemeinheit, Madame, in Gegenwart von Dienstboten? Fort mit Dir, Schlingel! Können Sie sich gar nicht in die Sitten der guten Gesellschaft schicken, Madame?““

„Meine Sitten hängen sehr mit Sitte zusammen, mein Lord! Diese zwingt mich, dafür zu sorgen, daß mir wenigstens die Achtung vor mir selbst bleibe, nachdem Sie aufgehört haben, Ihren Ruf in dem meinigen zu schonen. Sie haben mich in allen Dingen und in jeder Beziehung unterwürfig und nachgiebig [106] gefunden, aber nie werde ich mich so weit erniedrigen, mit dieser – dieser Person an einem Tische zu sitzen.“

„„Person? Mit Mademoiselle Athalie?““

„Mit – mit – Ihrer“ – das Wort erstarb ihr in Scham und höchster Entrüstung.

„„Oho! Ich kann mir denken, was Sie wieder für ein Pröbchen von guter Erziehung geben wollen! Gemeiner Verdacht ist die Frucht einer gemeinen Seele. Doch jetzt hören Sie! Es beliebt mir nicht, von einem Chore dienstbarer Geister und Waschfrauen, angeführt von einer Frau, zur Zielscheibe ihrer Klatschereien gemacht zu werden. Athalie, die stets mehr war für mein Kind, als eine Stiefmutter, wird mit mir essen und Sie mit uns. Ohne Ausnahme.“

„Sie mag mit Ihnen essen, nie mit mir. Daß Sie die Vergiftung Ihres einzigen Kindes durch Ihre – durch diese Person nicht einsehen wollen und mir deshalb die Stiefmutter vorwerfen, kann nur eine Folge des getroffenen Gewissens, das nun den Verstand verwirrt, sein, sonst giebt es keine Erklärung für diese Behandlung eines weiblichen Wesens, auch wenn es Ihre Frau nicht wäre.“

„„Sie werden unbedingt mit uns essen!““ schrie jetzt der Lord außer sich vor Wuth und faßte grimmig ihren Arm.

Ellen wurde todtenblaß und wehrte sich nicht. Beide schwiegen eine Zeit lang. Endlich sagte Ellen schwach und wie sterbend: „Wenn mir auch nicht einmal mehr die Sicherheit vor körperlicher Verletzung von meinem edeln Beschützer bleibt, mögen Sie mich morden, wo nicht, so muß ich meiner Ehre wegen zu dem letzten schmachvollen Rettungsmittel einer Scheidung meine Zuflucht nehmen.“

Das traf. Er hatte ja das Vermögen noch nicht. Der äußerliche Anstand hatte erfordert, das Haus des alten Arden nicht so schnell zu überfallen, obgleich die Gläubiger des großen Lords bereits sehr ungeduldig wurden. Ellen begriff die Umwandlung, die in ihrem Herrn Gemahl vorging, in ihrer Unschuld nicht und so klang es ihr wie eine Art von Trost, als er ganz herzlich und reuevoll sprach: „Liebe Ellen verzeiht mir! Der Zorn kann einen Mann wohl auf einen Augenblick hinreißen, aber als Gentlemen weiß er sogleich darüber hinwegzukommen. Ich werde Deinen Verdacht, der, so grundlos er auch ist, Dich so quält und ungerecht macht, zu beseitigen wissen, bis dahin erfordert es allerdings Deine Ehre, Dich entfernt zu halten. Verzeihe mir! Erhole Dich! Wenn wir Beide ruhiger sind, wollen wir weiter darüber sprechen.“

[115] Der Kuß, den er im Fortgehen auf ihre Hand drückte, erschreckte sie, sie fühlte, daß er heuchelte, aber aus heißen Thränen erhob sie sich doch noch mit der Hoffnung, daß sie ihn mit ihrem reinen Herzen noch erheben könne.

Die in der Gesellschaft so beneidenswerth hoch gestiegene und in ihrem Glücke so tief gefallene Lady Moretown sah jetzt bald ein Glück lächeln. Sie hatte ihren jetzt geschmeidigeren Herrn Gemahl vermocht, für den jungen „Erben“ einen Hauslehrer zu nehmen, und zwar einen „Deutschen“ von Geburt, wie es jetzt in vielen hohen Familien Sitte ist, die mit dem Hofe, wo das Deutsche Haus- und Familiensprache ist, in Verbindung stehen. Der Hauslehrer hatte sich zwar ohne glücklichen Erfolg mit der Erziehung des deutschen Volkes im Ganzen und Großen durch feurige Reden auf verschiedenen „freien“ Plätzen Deutschlands abgegeben, aber im Einzelnen gelang es ihm sehr gut, trotz seines beibehaltenen Schnurrbartes (übrigens in der Regel als Zeichen der „Fremdheit“ bei Hauslehrern gern gesehen) und seiner hinter englischen Ansprüchen weit zurückbleibenden „Wäsche.“ Jedenfalls war er Einer von denen, „die sich gewaschen haben“ und setzte gleich am ersten Abende seiner Thätigkeit den alten und den jungen Lord gründlich zurecht. Er bewies dem Alten, daß der Junge, der einmal zu befehlen haben werde, erst gehorchen lernen müßte. Dazu brauche er ein absolutes Strafrecht; auch müsse er die Erzieherin noch einmal erziehen, sonst mache sie’s wie Penelope mit ihrem Gewande, sie reiße über Nacht wieder entzwei, was er am Tage aufgebaut und zurechtgestutzt habe. Der hohe Lord stutzte und erhob sich in seiner Entrüstung hoch über die dienende Hauslehrerseele. Aber Dr. N. (N. steht für einen in Deutschland wohl noch nicht ganz mit Gras überwachsenen Namen) ließ sich durch diese Höhe und Größe von Dünkel nicht irre machen und frug nur einfach und entschieden, ob er hierhergerufen worden sei um Diener der Launen eines total verzogenen Knaben zu werden oder sein Lehrer zu Kenntnissen und gebildeter Männlichkeit? Ob er ihn zur Schande des Vaters oder zu dessen Ehre aufwachsen lassen solle?

Diese unerhörte Kühnheit und Entschiedenheit einem Lord gegenüber, der beim letzten Ministerwechsel beinahe Mitglied der neuen Regierung geworden wäre, wirkte gründlich, denn so verworfen war er als Vater nicht, um jetzt, da ihm die Augen geöffnet wurden, sein „Verhältniß“ zu Athalien über die Pflichten gegen sein Kind zu setzen. Dr. N. bekam seine pädagogischen Vollmachten und ließ sich kein Haar breit davon wiedernehmen, so oft auch die geistreiche Athalie ihn verklagte und so oft der kleine Erbe der Schöpfung auch eingesperrt war und blieb, selbst wenn der erhabene Vater die Drohungen und Thränen der Erzieherin durch einen stolzen Befehl unterstützte. Dr. N. bewies ihm jedesmal, daß der gebildete Vater in seiner Liebe und Pflicht das Wohl des Kindes nicht den augenblicklichen Gefühlen einer liebenswürdigen Französin, die nicht einmal richtig französisch spreche, opfern könne. Das unrichtige Französisch wurde ihr mehrmals bewiesen, obgleich sie das Gegentheil durch Drohungen mit den Nägeln und einige sehr malerische Krämpfe zu beweisen suchte. Kurz Dr. N. blieb fest und dadurch wandelte er das ganze Haus um. Der kleine Erbe liebte nach einigen Wochen nicht nur seinen Lehrer, sondern auch seine Stiefmutter und scholt auf die Erzieherin, so oft er sie sah: sie habe ihm so und so gesagt, und das sei nicht nur falsch, sondern auch schlecht und gemein an einem jungen Gentleman und er sei ein junger Gentleman und wolle auch noch ein älterer Gentleman werden.

Soerblühten für Lady Moretown in der Nacht ihrer trostlosen Einsamkeit wenigstens zwei Glückssterne: sie lernte die Liebe eines muntern, schönen Knaben gewinnen und ihn wieder lieben, außerdem fand sie in täglicher Unterhaltung mit Dr. N. dessen deutsche Stunde sie besuchte, manchen Trost und viele Ermuthigung. Er imponirte durch seine Freiheit von Vorurtheilen, welche die „gute Gesellschaft“ Englands oft wie ganze Reihen von Festungsmauern umgeben. Der wirklich gebildete Deutsche steht fast in allen Theilen der civilisirten Welt, wenigstens in gesellschaftlicher Beziehung, als der im Vergleich freieste Mann da und wußte sich deshalb bereits in aller Welt geltend zu machen, wie, außer den Juden, kein anderes Volk der Erde. Selbst der Engländer, der in allen Welttheilen und Häfen seine Bureaux und Schiffe hat, kommt nicht einzeln unter andern Völkern fort. Das kann blos der Deutsche.

Im Grunde genommen herrschte Dr. N. in dem stolzen Hauswesen des Lord Moretown und zwar offenbar über den Herrn des Hauses und seinen verschuldeten Ländereien am Meisten. Hinter dem Stolze des Lord Moretown verbargen sich Unwissenheit, Habsucht, niedrige Leidenschaften mancherlei Art und – Feigheit. Er fürchtete sich vor dem graden, ehrlichen, festen Wesen des Hauslehrers, dessen Wissen zugleich so gründlich und vielseitig war, wie es in England, selbst unter den Gelehrtesten, selten vorkömmt. Der Engländer wirft sich auch in der Wissenschaft, wie im Handel und Wandel, gern auf einen bestimmten, oft sehr beschränkten [116] Zweig, als sein „Geschäft.“ Was daneben und drüber hinausliegt, geht ihm nichts an. Ein Mensch hat den linken Fuß gebrochen, wendet sich an einen Chirurgen und wird von demselben mit dem Bemerken, daß er sich blos mit Heilung rechter Füße abgebe, wieder entlassen. Das ist ein Punch-Witz für die Sache.

Lord Moretown war öfter und immer öfter „in Geschäften“ aus, und so oft er auch zurückkam, wurde er doch nie eigentlich warm zu Hause. Seine Gemahlin that alles Mögliche in Zuvorkommenheit, Nachgiebigkeit und Sorgfalt, beinahe wie ein treuer Diener, aber die früher abgebrochene Unterredung ward nicht wieder angeknüpft. Er blieb auch „abwesend“, wenn er zu Hause war. Alle merkten, daß ihm etwas Besonderes „im Kopfe herumging.“ Auch Mademoiselle Athalie, die (vielleicht aus Furcht vor dem Hauslehrer) mehr hinter Schlüssellöchern, als in Zimmern gesehen ward, schien den Kopf über den Lord zu schütteln, da er sie eben so sehr mied, wie alle Andern. Eines Morgens, als er eben wieder abreisen wollte, bat sie dringend um eine Unterredung, ward aber abgewiesen, und als sie ihm mit funkelnden Augen beim Einsteigen in den Weg trat, stieß er sie sehr unsanft zurück und fuhr hastig ab. Ellen sah es vom Fenster aus. Man wird ihr die kurze Freude gönnen, die sie darüber empfand. Sie war kurz, denn kaum hatte sie sich mit dem Knaben hingesetzt, um dem Unterrichte des Hauslehrers im Deutschen zuzuhören, stürmte Mademoiselle Athalie furienhaft herein und überschüttete die drei ruhigen Menschen mit einer solchen Fluth von französischen Interjectionen und dramatischen Redensarten, daß alle Drei das räthselhafte Ende eines fünften Aktes vor sich zu haben glaubten, ohne die vorhergehenden gesehen zu haben. Ellen winkte mehrmals mit abgewandtem Gesicht nach der Thür, was die tragische Hitze, wie sie am Ende eines fünften Aktes pflichtschuldigst entwickelt werden muß, nur mehr zu erhöhen schien, Dr. N. sah dies nicht lange mit an, sondern stand auf, trat dicht vor die tragische Heldin und sagte ruhig und spöttisch:

„Mademoiselle, sagen Sie in möglichst kurzen Worten, wenn sie auch nicht grammatisch richtig sind, was uns eigentlich die Ehre dieser Störung verschafft! Ich unterrichte jetzt im Deutschen. Sie haben mich plötzlich abgelöst, doch zweifle ich, ob dabei die deutsche Sprache gewinnen wird, da Sie es nicht einmal mit Ihrer französischen sehr genau nehmen.“ Mademoiselle schwieg einen Augenblick, gaps’te und zitterte und fuhr dann mit einem wilden Gekreisch dem Hauslehrer in die Haare, die zufällig nicht, wie häufig in Lustspielen, aus einer Perrücke bestanden, sondern sehr fest in der Haut wurzelten, so daß er nicht ohne Schwierigkeit sich in Freiheit, die dramatische Französin aber „an die Luft“ setzte und aus derselben in das Kaninchenhaus, das sich der junge „Erbe“ von seinem Taschengelde hatte erbauen lassen. Nachdem er sie hier unter Schloß und Riegel gebracht, kehrte er zurück, um in Förderung der deutschen Sprache in England weiter fortzufahren. Doch die Sprache stummen, tiefsten Schmerzes, die er in Ellen’s Gesicht und Haltung ausgeprägt fand (der Knabe hing an ihrem Halse und streichelte und liebkoste vergebens) behauptete ihr Vorrecht über die deutsche Sprachlehre. Dr. N. vermuthete jetzt erst, daß der Inhalt der dramatischen Mittheilung Athalien’s ihr neu gewesen sei, doch nahm er keinen Anstand, sie zu ermahnen, daß ein Wesen ihrer Art durch die tiefste Verachtung gegen solche Störungen des Haus- und Herzensglückes geschützt sein oder wenigstens Schutz suchen müsse.

„Vergrößert der Umstand, daß ich einen Mann, der sich mir als edler Beschützer beinahe aufdrang, verachten und zugleich seine Frau sein muß, mein Elend nicht bis zum Unerträglichen? Mein Kind, Du kannst jetzt mit John Deinen Spazierritt machen.“

Der Knabe küßte seine Mutter und sprang hinaus. „„Nein, Mylady, ich denke nicht! Sie sind es, wenn, was ich unwillkürlich habe hören müssen, es wahr ist, es Ihrer und der weiblichen Ehre überhaupt schuldig, Ihrer heilig-gerechtfertigten Verachtung zu folgen, falls Ihr Edelmuth nicht so weit gehen sollte, dem Lord Moretown eine stricte Bedingung zu stellen und Ihr Recht, Ihre Pflicht zur Scheidung noch davon abhängig zu machen.““

„Ich bleibe unter allen Bedingungen entwürdigt, entehrt – unheilbar.“

„„Es hat mir immer geschienen, daß es Menschen, namentlich Frauen giebt, die mitten in einer moralischen Pestluft rein und edel bleiben, wie im Physischen Naturen vorkommen, die unangefochten und gesund durch Pest- und Fieberhospitäler gehen. Der Eindruck, den Sie jetzt auf mich machen, ist der, daß Sie, in Ihrem tiefsten Abscheu vor dem Schmutze, den die schamloseste Frechheit nach Ihnen warf, nur noch reiner und edler erscheinen. Wenn das wahrhaft Schöne durch schöne Umgebung noch gewinnen kann, ist es gewiß noch mehr der Fall durch den Kontrast des Häßlichen neben ihm.““

„Das klingt sehr geistvoll und treffend, kann aber ein so mißhandeltes Herz, wie das meinige, nicht erquicken.“

„„Das find’ ich richtig, aber ich halte mich für verpflichtet, mit der Sprache meines Herzens zurückzuhalten.““

„Wahrscheinlich, weil ich eine so hohe Lady und bereits mit meinem Herzen versagt bin?“

„„O mein Gott, nein, nein, nein! Aber Sie erscheinen mir in Ihrem tiefen Schmerze wie eine Heilige.““

Sie antwortete lange nicht und schlug sinnend das Auge zu Boden. Dann reichte sie ihm die Hand.

„Der tiefe Schmerz macht mich auch wahr und ehrlich,“ sagte sie, „nennen Sie es schwach. Ich bedarf eines Herzens. Ich bedarf Ihres Herzens.“

Sie lehnte sich schwach an seine Brust. Ein lautes Schluchzen brach aus und zuckte lange und krampfhaft durch den großen zarten Körper. Beide sprachen kein Wort, nur die Herzen redeten.

Sie saßen mehrere Stunden später wieder neben einander, diesmal in lebhafter Unterhaltung, als sie durch die plötzliche Ankunft und den wüthenden Eintritt des Lords auf das Entsetzlichste überrascht wurden. Kirschbraun vor Wuth brüllte er seine Frau an: „Denkst Du, Tochter eines Wucherers, das Geschäft Deines Vaters fortzusetzen? Wo hast Du das Geld versteckt? Ich habe nun das Haus des alten Maulwurfes bis in den tiefsten Grund aufreißen lassen, nichts fand ich, als einige elende Papiere und gestohlene Münzen. Wo sind die 150,000 Pfund? Nicht 150,000 Schillinge sind da! Denkt ihr Schachervolk mit einem Manne von Geburt zu spielen? Ich gab Dir meinen Titel für 150,000 Pfund, nicht um einen Farthing billiger. Wo ist das Geld? Wo? Den Augenblick – oder –“

Die Frau flüchtete sich todtenbleich hinter den Hauslehrer, der ihm ernst und ruhig in’s Auge sah und zugleich Miene machte, ihn wie eine Bestie niederzuwerfen, wenn er noch mehr Rohheit offenbaren sollte. Obgleich beinahe blind vor Wuth, sah der Lord dennoch, wen er vor sich hatte und sagte mit gezwungener Mäßigung: „Herr Doctor, ich fordere Sie als einen gebildeten Mann auf, jetzt das Zimmer zu verlassen. Ich habe mit Lady Moretown wichtige Privatangelegenheiten abzumachen, wie Sie ohnedies schon merken konnten.“

„„Sie haben mit Lady Moretown keine Privatangelegenheiten unter vier Augen mehr abzumachen, seitdem –““

Der Hauslehrer konnte nicht ausreden, da eben Athalie mit zwei Kindern hereinstürzte, sie vor den Lord Moretown hinstieß, daß das jüngste jämmerlich hinfiel und aufschrie, während die Mutter kreischte: „Da geht betteln und fangt bei Eurem Vater an. Ich werde nie bei einer Lady Moretown betteln, mein Lord!“

Da lag die hohe Gemahlin eines Lords todtenbleich, bewußtlos; da zitterte der hohe Lord, gelb und hohl und bleiern, der unglückliche Goldgräber in dem Hause seines Schwiegervaters; da warf eine leibhaftige Mutter ihre eigenen Kinder wie giftige Schlangen von sich. – Welch eine schauderhafte Fülle von gräßlich verzerrten Menschengestalten in dem kleinen Raume, der auf den größten Karten von England noch mit einem Stecknadelkopfe bedeckt wird! Und alle Bibeln und Evangelien und Tugenden der Erde reichen nicht hin, die Mißgestalten zu umhüllen, deren Verzerrungen und Bestialitäten die Oberfläche der Erde überall mit Verhöhnungen der Menschlichkeit bedecken, und überall an demselben Faden gezogen und aus demselben Grunde alle Glieder verrenkend, diese Zappelmänner irdischer Herrlichkeit, um einen Teller herumgehen zu lassen und Geld einzusammeln, Geld, Geld, Geld!

O lernt mit dem Gelde umgehen, lernt es beherrschen, sonst zerreißt es euch Herzen, Familien, Staaten, Gesellschaften, die Erde und den Himmel.




Meine Geschichte ist zu Ende. Der Lord war eines Tages verreist, wie man sagte, nach dem Rhein, um dort seine derangirten [117] Verhältnisse durch einige Jahre Sparsamkeit zu ordnen. Andere wollten wissen, die Leiche, welche man nach einigen Tagen mit zerschmettertem Kopfe fand, sei die seinige gewesen.

Der Dr. N. und Ellen trafen in Amerika zufällig mit Edward Johnson zusammen, der kein Geheimuiß daraus machte, daß er das Nest seines Principals in der ersten Verwirrung geplündert habe. Freiwillig gab er der eigentlichen Erbin den größten Theil des Vermögens zurück und Dr. N. und Ellen leben jetzt in den freien Staaten als ein glückliches Paar, deren Liebe auf gegenseitiger Achtung und Neigung beruht. Der junge Lord wohnt bei ihnen und verspricht ein tüchtiger Maschinenbauer zu werden.




  1. Das ist in der That eine in der City von London sehr gebräuchliche Art, nur oft noch viel complicirter, um Credit zu bekommen und Geld daraus zu machen.