Das ewige Licht
Ein Kloster an der Donau nicht weit von X. Hohe Felsen tauchen ihre Brust in das grüne Gewässer, eine düstre, verwitterte Gesteinsstrecke, ursprünglich vielleicht eine ungeheure Höhle, unter deren Wölbung in Finsterniß und Stille, gleich dem Acheron, die Donau dahinzieht.
Am rechten Ufer treten die Steinmassen plötzlich zurück und lassen einen schmalen Landstrich frei, auf dem seit Jahrhunderten das Kloster steht. Es führt kein anderer Weg zu ihm, als der Fluß. So liegt dieses Kloster fast abgeschlossen von der übrigen Welt, in einer Natur voll strenger Größe.
Steht man im Klosterhof, so bildet der steile Felsen den Hintergrund; zwei Flügelgebäude ziehen sich flußwärts und werden am Ufersaum durch die Kirche verbunden. Derjenige Flügel, dessen Thorweg der einzige Ein- und Ausgang ist, enthält eine Brauerei, die Vorratskammern und Keller; bewohnt wird er von wenigen weltlichen Wirthschaftsknechten. Der andere Flügel ist das eigentliche Kloster. In seinem ersten Stock liegen Zellen für zwanzig Mönche, im Erdgeschoß befindet sich außer einigen Gastzimmern für hochgestellte Geistliche das Refectorium und die Bibliothek. Alle Gemächer gehen nach einem Garten hinaus, den man der Landzunge noch zur Noth abgerungen hat; die Fenster der Corridore aber führen nach dem Hof.
Zur Zeit, da unsere Geschichte sich im Kloster ereignete, bewohnten es zwölf, mit dem Prior dreizehn, Benedictiner. Sie dürfen abwechselnd zu Zweien wöchentlich im Klosterkahn einen Ausflug nach den nächstgelegenen Dörfern machen. Sonst beschränkt sich ihre Bewegung auf den Garten, den Hof und die Corridore.
Die Einkünfte der Brauerei bilden den Hauptunterhalt des gering dotirten Klosters. An jeder Mittwoch bringt ein Marktschiff aus der benachbarten Kreisstadt die Nahrungsproducte und andern Lebensbedarf. Am Sonnabend und Sonntag pflegen die Landleute und nicht wenige Städter aus der Umgebung zur Beichte und Predigt zu kommen.
Es waren späte Ostern, aber ein früher Lenz. Unter immer blauem Himmel war der Schnee längst von den Höhen geschmolzen, die Landschaft grünte, und schon gab es sommerlich heiße Tage. Eines Nachmittags ward die Schwüle selbst an diesem felsigen, wasserreichen Ort empfunden. Das volle Sonnenlicht lag auf den Steinen und Rasenflecken des Klosterhofes, strahlte vom verwitterten Felsen wie von den weißgetünchten Wänden der Corridore, ergoß sich wie ein heißer Athem durch Säle und Zellen und brach stellenweise durch die langgestreckten, bemalten Bogenfenster in das geheimnißvolle Düster der Kirche, wo matt und fahl das ewige Licht in der Altarlampe brannte. Alles lag still und in träger Ruhe, wellenlos glitt selbst der Fluß dahin.
Weil es denn oben keine Flucht vor Hitze und greller Helle gab, hatten sich zwei Mönche unter die Erde geflüchtet. Im kühlen Gelaß, das eine Art Vorgemach im tiefen Felsenkeller bildete, saß Pater Eusebius mit dem Bruder Kellermeister. Auf dem Tisch vor ihnen stand eine schmutzige, brennende Laterne und warf ihren Flackerschein auf den Weinkrug und die beiden Zecher, auf die feuchten, schwarzen Wände und die steile Steintreppe. Nur vier schwach schimmernde Streifen Tagelichts zeichneten die Kellerthür, zu der die Stufen aufwärts führten.
„Wenn jetzt der Prior käme!“ sagte Eusebius.
„Ver …. heilige Jungfrau!“ rief der Andere und nahm erschrocken den Krug vom Munde. „Ach, sprich nicht so aufregende Dinge,“ fuhr er dann bittend fort. „Pater Gregor schläft jetzt so sicher, wie zweimal zwei vier ist. Alle schlafen. Wenn Du einem schlichten Bruder nicht grollen wolltest, möchte ich mir fast die Bemerkung erlauben, daß Ihr Herren Patres nicht viel anderes zu thun habt!“
„Silentium! nicht vorwitzig, Herr Frater! Nichtsdestoweniger, sollst leben, alter Freund! War doch eine schöne Zeit, als wir noch zusammen in die Dorfschule gingen!“
„Gott soll mich bewahren, ja sie war schön – aber gelernt habe ich wenig,“ versetzte eifrig der Andere. „Vom Latein verstehe ich nur das Ergo bibamus und Vivat. Im tiefen Keller ist mein Reich; die alten Fässer sind meine Bibliothek. Durch langen Umgang mit ihnen habe ich sie studiren gelernt, ohne Kopfweh davon zu bekommen. Im Wein ist Wahrheit. Im Wein ist fröhliche Musik; er erheitert das Gemüth und stimmt die Menschen gesellig. Die Bücher dagegen sind Urheber der Schwermuth, der Unduldsamkeit, und unter den Gelehrten herrscht ewige Zwietracht. – Sieh unsern Prior und Pater Benedict! Waren sie früher nicht die besten Freunde und sind sie sich jetzt nicht spinnefeind? Und wer ist daran schuld? Die Bücher und alten Pergamente, in denen Benedictus den lieben langen Tag seine Nase hat. Jeder will mehr und besser wissen als der Andere … Laßt mich mit Eurer Gelehrsamkeit!“
Beim Namen Benedict flog ein grimmiger Ausdruck über des Paters Gesicht; aber er bezwang sich und sagte, die Achsel zuckend: „Ich will Benedictus nichts Uebles nachreden, aber er ist ein Schwärmer, ein überspannter Kopf! Willst Du das Feuer [18] nun schelten, weil sich Kinder und Narren zuweilen die Finger verbrennen?“
Der Kellermeister machte große Augen. „Du meinst doch nicht im Ernst, daß Pater Benedict …“
„Ich will keinem Menschen zu nahe treten,“ unterbrach ihn Eusebius, „am wenigsten einem Ordensbruder und geweihten Priester, aber – mehercle! wenn ich Prior wäre, hätte ich ihn längst in ein Strafkloster geschickt, wo er Nichts als vier kahle Wände sehen und an den Spinnengeweben Naturgeschichte studiren sollte! Blickt er nicht mit Verachtung auf uns herab, als sei er Platon unter Scythen? Menschlich sind menschliche Schwächen, sagt Thomas von Aquin; aber wenn ich Prior wäre – nicht aus Feindseligkeit gegen Benedictus, sondern um des christlichen Seelenheiles willen würd’ ich ihn einsperren! Denn heißt es nicht die Jugend vergiften, wenn man solch einen Freimaurer jährlich als Professor nach der Stadt schickt? Heißt es nicht die Gemeinde corrumpiren, wenn man ihn Sonntags predigen läßt?“
„Aber wenn Benedict predigt, ist die Kirche voller als bei jedem Anderen!“
„Das ist ja das Unglück! Weil er ein Schönredner, ein heilloser Sophist ist, strömt ihm das dumme Volk zu. Die Kanzel ist kein Lehrstuhl des Zweifels, sondern der Thron des Dogma’s.“
„Aber Benedict macht unser Kloster berühmt! Und seine Schrift, die vom vorigen Jahre, haben selbst protestantische Professoren gerühmt.“
„Per deum!“ rief Eusebius und schlug auf den Tisch; „glaub’ es wohl, daß die Protestanten ihn loben! Giebt er doch den Ketzern in mehr als Einem Fall Recht! sagt an einer Stelle sogar, der Luther und die Reformation hätten unsrer Kirche seit den Aposteln den meisten Nutzen gebracht! Ein katholischer Priester! ein Ordensgeistlicher! Der bare Atheismus steckt dahinter. Das Buch gehört so gut auf den Index, wie Voltaire und David Strauß!“
„Das mußt Du besser wissen, als ich. Ich bin nur ein schlichter Bruder und darf mir kein Urtheil anmaßen. Aber gram kann ich ihm nicht sein. Er ist gegen uns Brüder gut und freundlich. Er spricht mit unser Einem, als wenn er selber Zeitlebens Küfer gewesen wäre! Und doch ist er kein Weintrinker! Er weiß und kennt eben Alles.“
Eusebius pfiff leise vor sich hin und spielte mit dem Scapulier.
„Rühme diese Tugenden doch dem Pater Prior!“ spottete er.
„Ich werde mich hüten. Zwischen diese Beiden mag sich ein Andrer wagen!“
„Du hältst sie wohl für zwei Mühlsteine?“
„Ich bin nur ein schlichter Bruder und darf mir kein Urtheil erlauben. Das steht Dir zu.“
Der Pater schloß die Augen und faltete die Hände. „Menschlich sind menschliche Schwächen,“ sprach er. „Ich sehe an meinen Oberen nur das Gute.“
„Hm, wie war’s aber vor acht Tagen, als Du auf Deinen Aerger über den Pater Prior süßen Ungar trinken mußtest?!“
„St!“
„Er sei ein unverbesserlicher heftiger Grobian, sagtest Du; er hätte Landwirth bleiben oder Husar werden sollen, dazu passe er schon seiner Figur und Körpergröße nach besser. Sein Latein hätte er aus Büchern über Düngerwirthschaft …“
Eusebius hielt dem Kellermeister die Hand vor den Mund.
„Still!“ rief er. „Wenn der Pater Prior das erfährt, schlägt er diesen Steinkrug auf unsern Köpfen entzwei. Ich will nur noch Wasser trinken, wenn Du seinen Jähzorn nicht mehr als einmal kennen gelernt hast!“
„Lassen wir das. Ich will Dir etwas Neues anvertrauen.“
„Ein Geheimniß?“
„Zwischen dem Pater Prior und Benedict kommt es heute oder morgen zum Austrag. Ich verstehe mich auf Physiognomien. Unser Prior wetterleuchtet schon. Entweder wird Benedictus –“
Von oben herab tönte plötzlich in die Nachmittagsstille die Thorglocke. Beide Mönche sprangen empor. „Da kommt Besuch,“ sagte der Kellermeister. „Spute Dich, bevor der Pförtner hinterm Ofen vorkriecht!“
Eusebius war schon die Treppe hinangesprungen und stand bereits im Thorweg, als die Glocke zum zweiten Male erklang.
„Kling, kling! nur nicht so eilig!“ brummte der Bruder Pförtner, der aus seiner Thüre trat und sich die verschlafenen Augen rieb.
Pater Eusebius that, als käme er vom Hofe, und wartete, bis der Fremde eingelassen wurde. Auch der Kellermeister kam nachgeschlichen. Jetzt beim Tageslicht erschien der kleine, schmächtige Pater gegen seinen dicken und breitschultrigen Zechgenossen, den das kurze Scapulier der Brüder gar komisch kleidete wie Fallstaff’s Page. Das schwarze Sammtkäppchen nahm sich auf der dünnen, ganz schwarzgekleideten Figur mit dem vergilbten und verkniffenen Gesicht wie das Tüpfelchen auf einem i aus.
Ein hübscher Knabe von fünfzehn Jahren, von einem Livreebedienten begleitet, trat ein. Bevor er vom Mönchstrifolium Notiz nahm, wandte er sich an den Diener. „Sie können gehen! Lassen Sie sich zum Dorf zurückrudern, wo der Doctor wartet. Sagen Sie ihm, daß ich nicht ertrunken sei und daß ich um zehn Uhr wieder bei ihm sein würde!“ Der Diener ging.
Jetzt wandte sich der Fremde zu den Benediktinern und begrüßte sie. Der Kopf, der leicht auf den Schultern saß, hatte feine, angenehme Züge. Das Haar war sorgfältig gescheitelt, die Hautfarbe schimmernd. Trotz der Reitgerte, welche der Junge keck in seiner Rechten schwang, brachte er die parfümgetränkte Salonluft mit. Kurz, es war eine jener Knabengestalten, die beim ersten Anblick unwillkürlich an ihre Mutter oder Schwester erinnern, so daß wir die aschblonde, zarte, aber nervöse Dame zu sehen und ihr Seidenkleid rauschen zu hören glauben.
„Was wünschen Sie?“ fragte mürrisch der Pförtner.
„Mein Name ist Geldern, Graf Felix Geldern –“ Die drei Mönche verbeugten sich, sowie sie den Titel Graf hörten, wie auf Commando.
„Ich wünsche meinen Professor, den Pater Benedictus, zu besuchen.“
„Ueberlassen Sie den jungen Herrn mir,“ sagte Eusebius zum Pförtner und wandte sich dann mit hoher Miene an seinen Freund, den Kellermeister. „Bitte, kommen Sie, Graf Geldern!“
Sie gingen über den Hof nach dem andern Flügel. Der Büchersaal im Kloster war weißgetüncht und schmucklos. Die Wände waren mit Büchern, zum größten Theil mit den Folianten der Kirchenväter bedeckt. Am breiten Eichentisch in der Mitte saß ein Mönch und las. Beim Anblick des hastig eintretenden Knaben erhob sich dieser Mönch rasch, eine schmächtige, unscheinbare Gestalt; das Gesicht verwacht und von ungesunder Farbe; die braunen Augen groß und klar, der Scheitel fast kahl, wodurch der Stirne Wucht und Bedeutung noch mehr hervortrat. Er streckte dem jungen Grafen freundlich die Hand entgegen. „Willkommen, Felix faustusque!“ rief er. Es war Benedictus.
Das Meer des Lebens schlug mit der Stimme des blonden Knaben an ihr Ohr. Im matterleuchteten Speisesaal saßen sie und hörten auf das harmlose Geplauder von Schauspielen und Festen, dreizehn schwarzgekleidete Männer, verschieden an Alter und Antlitz, eins in der Entsagung. Sie durften, mit Ausnahme des Priors und Pater Benedict’s, der den Gast hatte, nicht selber sprechen, denn das Abendbrod war vorüber, und Pater Eusebius hatte aus den Legenden die Geschichte vom heiligen Benedictus vorgelesen, der, von irdischen Wünschen und Begierden entbrannt, sich nackt in die Dornen der Rosensträucher warf. So beobachteten sie denn das gebotene Schweigen, aber, das Auge auf den jugendlichen Erzähler gerichtet, hörten sie das Getön der fernen Hauptstadt, Musik und Gesang, sahen hellerleuchtete Säle und lächelnde, in Seide rauschende Gestalten, und der Welt buntes Maskenspiel erschien den Aelteren wie ein Märchen, den Jüngeren – ein Traum.
„Und Ihre Frau Mutter,“ fragte der Prior, „gab in diesem Winter wohl auch viele Feste?“
„Nein,“ antwortete der junge Graf mit der Offenheit der Knaben; „nein, meine Mutter ist seit einiger Zeit sehr leidend.“
„Wie alt ist Ihre Frau Mutter?“
„O, noch sehr jung, fünfunddreißig Jahre. Die Leute halten mich immer für ihren Bruder. Meine gute Mutter! Ich war drei Jahre alt, als Papa starb, aber sie ist so klug und so zärtlich besorgt, daß ich nie einen Vater vermißte.“
„Und sie ist krank?“
„Krank wohl nicht, aber traurig. Pater Benedict würde sie kaum wieder erkennen, so blaß und still ist sie seit dem vorigen Herbst geworden. Oft finde ich sie mit verweinten Augen. Unser [19] Arzt meint, es käme von den Nerven, aber ich fürchte, daß sie sich meinethalbem grämt. Sie ängstigt sich zu sehr, daß ich so jung schon Soldat werde. O,“ wandte sich Felix an seinen ehemaligen Professor, „wie sie sich freuen wird, wenn ich ihr von meinem Besuch hier erzähle! Es vergeht kein Tag, an dem nicht Ihr Name unter uns genannt wird, und wenn meine Mutter von Ihnen spricht, wird sie rothwangig, froh und beredt!“
Der Prior warf einen überraschten, funkelnden Blick auf Pater Benedict; aber die Augen des Letzteren begegneten ihm so klar und ruhig, daß er die seinigen senken mußte. Er that noch einige gleichgültige Fragen an den Gast, dann verabschiedete sich der Letztere von ihm und den übrigen Mönchen. Benedictus begleitete seinen Schüler an’s Thor. Als Beide aus dem Corridor in’s Freie traten, stand der Mond am Himmel und beleuchtete den stillen Klosterhof. Die breite Marmortreppe, die zur Kirche aufwärts lud, glänzte wie Silber, das Gotteshaus selbst aber lag dunkel. Die Luft war schwül und duftete, als brächen schon die Rosen auf.
Graf Felix blieb unter dem Kreuzbild inmitten des Platzes stehen und blickte auf die friedvolle Stätte, die der mondbeglänzte Fels wie ein ehernes Riesenthor von der übrigen Welt abschloß. „Wissen Sie, Herr Professor,“ begann Jener, „daß es mir ordentlich wehe wird, von diesem Ort zu scheiden? Ich fühle mich hier so wohl, ich würde hier ein guter Mensch werden. Wahrhaftig, am liebsten bliebe ich hier, bliebe bei Ihnen!“
Ein wehmüthiges Lächeln zog sich um den Mund des Begleiters. „Felix,“ sagte er, und legte seine Hand auf des Knaben Schulter; „die Stille ist nicht immer der Friede. Sie würden sich aus klösterlicher Einsamkeit bald in’s Freie sehnen, denn nur der darf dem Irdischen entsagen, der das Irdische erkannt hat. Ihnen aber ist noch das Leben eine vielversprechende Blüthe, und der Mensch ein fragwürdiges Räthsel. Sie sind zu einem andern Ziel geboren, als ich. Ihre Gaben, Ihre Erziehung weisen Sie in die Welt!“
Felix hörte mit kindlichem Vertrauen auf seinen Lehrer, schnell auch überkam ihn wieder die Heiterkeit der Jugend. „Der Pater Prior,“ plauderte er, „scheint mir ein guter und leutseliger Mann zu sein, aber – ich darf es Ihnen wohl gestehen – er sieht gar nicht wie ein Klostergeistlicher aus. Ich mußte fortwährend an ein altes Bild denken, das in unserm Schloß hängt. Es soll einer meiner Ahnen, ein Reiterobrist aus dem dreißigjährigen Kriege, sein, ein großer, stattlicher Mann mit rothem Gesicht und kleinen Feueraugen, vor denen ich mich als Kind immer fürchtete. Gerade so sieht Ihr Pater Prior aus, nur daß er keinen Bart und keinen Lederkoller trägt.“
„Der Pater Prior,“ versetzte der Andere in gutmüthigem Scherz, „würde auch dem Soldatenkleid keine Schande machen; er ist stark und tapfer.“
Sie gingen einige Schritte, dann stand Graf Geldern wieder still und fragte plötzlich: „Halten Sie meine Mutter für unglücklich?“
„Vielleicht,“ antwortete Pater Benedict nach einer kurzen Pause. „Doch, wenn sie es ist, ist sie’s nur im Gemüth. Die Herzenswunden aber heilt und vernarbt die Zeit. Der Mann hat noch andere, schlimmere Qualen: Unfrieden und Zwiespalt des Geistes, und das sind Wunden, die selbst die Heilkünstlerin Zeit müde machen.“
Der Knabe nahm ein zierliches Buchzeichen aus seiner Brieftasche. „Dies,“ sprach er, „sendet Ihnen meine Mutter; sie hat es selbst gestickt. Sie möchten unser nie, nie vergessen und für uns beten, waren ihre letzten Worte.“
Benedictus nahm das schlichte Erinnerungszeichen, er sagte nur: „Seien Sie ein guter Sohn, Felix!“ aber er sagte es mit vor Bewegung zitternder Stimme.
„Und denken Sie nicht mehr nach der Stadt zu kommen? Die Schule verehrt Sie so sehr!“
In diesem Augenblicke that ein Wetterleuchten den ganzen Himmel auf, und Benedictus, der das Antlitz erhoben hatte, sah mit verklärtem Blick wie ein ahnungsreicher Seher aus. „Ich werde wohl nicht wiederkommen …“ sagte er leise.
Im Thorweg wartete schon der Diener. „Wir müssen eilen, Herr Graf,“ sprach dieser, „denn es wird ein Gewitter geben. Ueber die Felsen zieht’s kraus und schwarz herauf.“
Sie nahmen Abschied. Von einem bangen Gefühl des Nimmerwiedersehens belastet, drückte der Knabe dem theuren Lehrer immer wieder die Hand, bat um seinen Segen und warf sich zuletzt laut aufweinend an seine Brust. „Stark und still, mein Sohn,“ sagte Benedictus mit seiner sanftesten Stimme. „Gott segne Dich …“
Die Thorglocke klang, und Benedictus ging allein, gesenkten Hauptes, über den Hof in’s Brüderhaus zurück. In den Corridoren huschten die schwarzen Gestalten wie Schatten aneinander vorüber, die Brüder in den matterleuchteten Schlafsaal, die Patres in ihre Zellen. Auch Benedict begab sich in seine Kammer; der Prior ging dicht vor der Thür an ihm vorbei, hoch aufgerichtet und mit widerhallendem Schritt, wie er in Zorn und Erregung aufzutreten pflegte, aber der Gelehrte hatte sein nicht Acht. Bald darauf wurden nach der Ordensregel alle Lichter ausgelöscht, und durch die öden Gänge flackerte nur noch der Schein des aufziehenden Wetters und zuweilen ein scheuer Blick des Mondes aus eilendem Gewölk. Es war ein stummer Kampf in den Lüften, und ungeduldig rauschte das Wasser der Donau dem ersten Gewitter entgegen. In diese geheimnißvollen Schauer einer Frühlingsnacht tönte wie der Pulsschlag der Menschheit der Pendelgang der Thurmuhr.
Im Innern der Kirche brannte, gegen Wind und Wetter wohl verwahrt, die ewige Opferflamme vor dem Hochaltar. Als die Glocke elf schlug, gingen zwei andere Lichter im Kloster auf. Das eine trug aus kühlem Felsenschacht der weinselige Bruder Küfer empor. Als er vorsichtig die Kellerthüre wieder zuschloß, sah er das zweite Licht im ersten Stock des gegenüberliegenden Flügels auftauchen und langsam die Fensterreihe entlang wandeln. Dies Licht trug der Prior. Im vollen Anzug, die schwarze Kapuze über den Kopf gezogen, schritt er auf den Zehen an den Zellen vorüber. Vor der letzten Thür, dicht neben dem Eingang zum Sängerchor, machte er Halt. Es war Benedictus’ Zelle. Der Prior stellte seinen Leuchter auf den Boden und horchte an der Thür. Alles still … In jeder Zellenthüre ist ein Schiebfensterchen angebracht, durch das der Prior seine Mönche beobachten kann. Pater Gregor schob es zögernd zurück und blickte hinein. Ein Wetterstrahl erhellte das enge Gemach. Es war leer, das Lager stand unberührt.
Ein tiefer Seufzer entquoll dem Prior. Er schlug sich vor die Stirn, und auf seinem Antlitz kämpften Gram und Zorn. Dann ergriff er hastig das Licht, eilte zurück, die Treppe hinab und trat durch den Erdflur in die Kirche. Vom Corridor gelangte man in das Schiff der Kirche. Die Wölbung wurde von Pfeilern getragen. Auf den Längeseiten waren je zwei Fensterpaare, links vom Eintretenden gingen sie auf die Hoftreppe, rechts auf den Fluß. Das letzte sich entsprechende Fensterpaar erhob sich aus dem höhergelegenen Hauptchor, nur wenige Fuß über dem Boden. Dazwischen stand der Hochaltar. Der Prior, nachdem er die Thür hinter sich zugezogen, hielt die Hand vor das Licht und blickte aus dem Hintergrund des Schiffs in den gähnenden Raum. Düster, feierlich, still! Nur wenn ein Blitz durch die Fenster flackerte, schienen die weißen Pfeiler plötzlich emporzuzüngeln; die Gestalten im Deckengemälde wurden sichtbar und lebendig, und die bekrönten Knochengerippe in den Heiligenschreinen der Nebenaltäre leuchteten seltsam.
Aber nicht links, noch rechts sah der Prior, sondern starrte vorwärts zum Hochaltar. Dort war die Ampel mit dem ewigen Licht tief herabgezogen, und bei ihrem Schimmer saß ein einsamer Mönch auf den Chorstufen und las. Dieser Mönch war Benedictus. Und so tief war sein Geist im Buche, daß er des Priors Gegenwart erst gewahrte, als dieser, herangeschritten, die Hand auf seine Schulter legte. Er erblaßte und stand auf, aber sein Auge verrieth keine Furcht. So standen sie eine Weile sich schweigend gegenüber, der hochgewachsene, gebieterische Gregor und die bescheidene Gestalt des Gelehrten. Das Flußfenster neben dem Hochaltar war geöffnet, und sie konnten die Wellen der Donau rauschen und an die Mauern schlagen hören. Der erste Donner löste sich langsam und durchwallte die Felsenschlucht.
Der Prior stritt einen schweren Kampf. Im Glanz seiner Augen, im Zucken der Stirnader verrieth sich sein Zorn; er hätte wie das Wetter draußen aufbrüllen und toben mögen, aber er bezwang sich. Langsam schritt er die Stufen empor und that, indem er seinen Leuchter auf die Erde stellte, einen Kniefall vor dem Allerheiligsten. Dann kehrte er sich wieder zu Benedict. Unwillkürlich folgte dieser dem Prior auf den Altartritt und stützte, mit dem Rücken gegen das Fenster stehend, die Hand mit dem Buch auf den Altar.
„Ein heiliges Werk,“ begann der Andere mit einem Blick auf [20] das Buch, „ein Heiliges Werk muß es sein, womit Pater Benedict den Bruch der Klostergesetze entschuldigt!“
„Jedes Buch,“ antwortete Jener mit seiner wohlklingenden Stimme, „das ein denkender Geist schrieb, ist heilig. Es ist Spinoza.“
„Spinoza!“ schrie der Prior auf. Dann warf er sich auf die Kniee, streckte die Arme gegen das Allerheiligste und rief: „Herr! gehe nicht in’s Gericht mit dem Frevler!“ Wieder sprang er empor und riß die Hand des Mönches vom Altar. „Entweihe nicht den Tisch des Herrn, Wahnsinniger! Ist es nicht genug, daß Du das ewige Licht zu gottverfluchten Studien mißbrauchtest?“
„Das wahre ewige Licht ist der Geist. Der Schimmer der Unsterblichkeit ist auch in diesem Buch; also nenn’ es nicht gottverflucht! Schlimm genug, daß ich heimlich wie ein Dieb, in Nacht und Finsterniß sehen lernen muß!“
„Den Atheismus trugst Du in’s Gotteshaus,“ donnerte Gregor. „Auf die Kniee, Kirchenschänder!“
„Ich wiederhole Dir, dies Werk ist nicht gottlos,“ entgegnete der Andere stolz. „Ich kenn’ es. Wer urtheilen will, der prüfe erst!“
„Willst Du den Index der Lüge zeihen? Ueber Spinoza und seine Lehre sprach der Papst den Bann.“
„Der Lüge nicht, aber des Irrthums.“
„Verruchter!“
„Und die Erde bewegte sich doch.“
Der Prior rang nach Athem. „Herr! Herr!“ stöhnte er, dann wies er hinaus auf den Himmel, der ganz in Feuer stand. „Fürchtest Du nicht den Zorn des Allmächtigen? Hörst Du seinen Donner nicht?“
„Ich vernehme den Ewigen überall in der Natur; nicht als Zorn, sondern als Gesetz. Aber gestatte mir, mehr noch als diese Entladung elektrischer Strömungen den Geist zu bewundern, der sie begreift!“
„Du hast den Stolz der Schlange; Du bist keiner der Unsrigen mehr, die Kirche lehrt Unterwerfung, unser Orden Demuth.“
Wie des Priors Augen im Zorn, flammten Benedictus’ Augen jetzt in Begeisterung auf. „Die Geschichte des menschlichen Gedankengangs ist die Weltgeschichte,“ rief er. „Wehe über euch, wenn ihr an den scholastischen Kreis glaubt, der ewig nur sich gebiert! Wehe, wenn ihr in neuer Zeit die Zungen des Mittelalters redet! Ich stehe zu euern Fahnen, aber Vorwärts rufe ich ihnen zu. Laßt uns Priester Denker sein, und unsere Kirche sieht abermals die Welt zu ihren Füßen!“
Wiederum ward es still zwischen Beiden. Ein Blick Gregor’s fiel durch das offene Fenster, unter dem der Fluß toste. Das erinnerte ihn an den zornigen See, aus dem er einst den Knaben Benedictus gerettet. Jetzt sieht er seinen Jugendgenossen im Strudel eitler Spekulation, der ihm grundlos wie die Hölle scheint. Und dahin kann er ihm nicht folgen, nur vom sichern Boden seines Glaubens zurufen: Rette Dich!
Er legte die Hand auf Benedict’s Schulter und sagte weich: „Freund, ich habe mir ein Recht auf Dich erworben. Denk’ an die Stunde, da ich mit eigener Todesgefahr Dich der Fluth entriß! Damals schon hattest Du den starren, eigenstolzen Sinn. „Noch nicht!“ war Dein erstes und einziges Wort. Beim Himmel, soll ich jene That bereuen? Soll ich Dein Leben gerettet haben, damit jetzt Deine Seele verloren geht? Nein, noch will ich sagen: Noch nicht! „Ich trage einen Dämon in mir,“ rief Paulus, „der mich nicht ruhen läßt? Dein Dämon ist der Hochmuth. Entsage der Welt und ihrer Eitelkeit, widme Dein Denken der Kirche und wirf dies unselige Buch in die Donau!“
„Ich hab’ Entsagung geübt,“ flüsterte Benedictus und unterm Rollen des Donners hörte er fern, fern das leise Weinen einer Frau. Dann hoch sich aufrichtend, sprach er ruhig, aber fest: „Mein Geist baut Tag und Nacht an unsrer Kirche, einer Kirche freilich, wie sie die Zukunft sehen wird. Dies Buch hier ist nur ein Stein, und wenn ich den jetzt auch verwerfe, wirst Du ihn doch in meinem Bau wiederfinden.“
Der Prior, den nach seinen fruchtlosen Versöhnungsversuchen der Zorn gedoppelt erfaßte, preßte krampfhaft Benedict’s Arm. „Mensch,“ sprach er mit heiserem Ton, „laß die gotteslästerlichen Bilder! Ich frage Dich: Hast Du das Herz, Deinem zweiten Vaterhaus, dem Kloster, und mir solche Schmach zu bereiten? So lang diese Mauern stehen, noch sahen sie keinen Abtrünnigen, und kein Aergerniß ging aus ihnen in die Welt. Soll ich, der Erste, sagen müssen, wir haben einen Eidbrüchigen unter uns?“
Benedictus ließ den Donner verhallen, dann erwiderte er: „Ich habe nie mein Herz befragt und nie geschont. Widerlege meinen Geist!“
„Wurm!“ schrie Gregor, im tiefsten Innern getroffen. „Kraft meines Amtes, als Dein Prior befehl’ ich jetzt: Wirf zum ersten Zeichen Deiner Reue dies Buch in die Donau!“
„Kraft seines Amtes,“ entgegnete der Andere bitter, „ließ Torquemada hunderttausend Andersdenkende verbrennen, und doch stand ein Luther auf. Giordano Bruno bestieg den Scheiterhaufen, aber sein Wort von der Einheit Gottes und der Welt lebte in Spinoza wieder auf. Das Wort hat Millionen Leben, und es ist mächtig in mir.“
„Ich werde Dich verstummen machen!“ knirschte der Prior.
„Ich wag’s,“ fuhr Benedict begeistert fort. „Die Natur kann donnern, der Mensch hat das Wort. In alle Welt will ich mein Vorwärts rufen. Morgen, von jener Kanzel, in die lauschende Gemeinde hinab sollst Du mich predigen und rufen hören: Vorwärts!“
„Das wolltest Du?“
„Morgen.“ – „Nie! nie!“ schrie der Prior auf. Und plötzlich schnellte er wie ein Tiger empor, hob und schwang Benedictus mit ehernen Armen und schleuderte ihn in furchtbarer Anstrengung, aber auch mit furchtbarer Kraft durch das Fenster. Er selbst brach dabei an der Brüstung zusammen, hörte einen kurzen Schrei und das Aufschlagen der Wellen … sie brausten über Benedictus …
Warum hält der Donner gerade jetzt seinen Athem an?
Warum jetzt nur das Rauschen der Donau? O, noch einen Hülferuf aus der Tiefe, Musik für Gregor’s Ohr! er würde hinabspringen, seinen Benedict zum zweiten Mal retten! Aber nur die Woge rauscht, wirbelt und zieht, zieht mit einem Todten in die Welt.
Ein Luftzug verlöscht in diesem Augenblick das Licht Gregor’s, das auf den Altarstufen brennt, und eine ferne Thür fällt in’s Schloß. Gregor schrickt zusammen, und dieser Schrecken tauft seine nachtgeborne That: Mord!
„Es ist geschehen. – Ich bin ein Mörder, vor Gott – – aber vor Niemand sonst. Der Fluß hat Benedict begraben, und mein Kloster bleibt vor Schande bewahrt.“
Er rafft sich auf und stößt dabei auf das Buch, das Benedict im entsetzlichen Augenblick entfallen ist. Gregor zittert bei seiner Berührung, dennoch vermag er es nicht in den Fluß zu werfen. Er verbirgt es unter seinem Scapulier.
Er will die Kirche verlassen, aber ihn schaudert vor der gähnenden Dunkelheit. So zündet er denn seine Kerze am ewigen Licht an, das niemals wieder auf Benedictus’ Gedankenwege glänzen wird.
Dann wankt er in’s Schiff hinab, verläßt die Kirche, die er, der Priester, entweiht. Ein scheuer, fluchbeladener Verbrecher, kehrt er in seine Zelle zurück, die er als strenger, gotteszuversichtlicher Richter verließ. Und so, gebrochen, lebensmüde, in Reuethränen zerfließend, wirft er sich vor dem Crucifix nieder und spricht das Todtengebet: „Et lux perpetua luceat ei! Und das ewige Licht leuchte ihm!“
Horch!…
Er kniete am Betstuhl in seiner Zelle, nicht im Gebet, sondern ganz Ohr, ob die Thorglocke nicht klang, nicht hastige Schritte sich näherten; ganz Ohr, seitdem die Nacht in einen trüben Tag übergegangen war. Vorbei das Gewitter, aber der Himmel ist sonnenlos, grau; dunklere Wolken ziehen daran empor, wallen und wechseln, theilen sich und entlasten weiße Flocken, wie Rauch. Der Regen strömt endlos hernieder, rauscht im Epheu der nahen Felswand und schlägt an die Fensterscheiben. Sonst Alles still, wie wenn Niemand mehr im Kloster wäre, als sein unglücklicher Prior und das einsame Gespenst der Zeit, das hin und wieder die Glocke im Kirchthurm streift …
Es gab einen Augenblick, in welchem Gregor’s Geist die Folter des Einen Gedankens nicht mehr ertrug. Die Wimpern schlossen sich, und Gregor blieb eine Weile bewußtlos. Als er die Augen wieder aufschlug, war seine erste Empfindung eine Art Wollust, das Erwachen von einem entsetzlichen Traum; aber mehr und mehr rauschte die lethäische Welle zurück; er keuchte im Kampf mit der rückkehrenden Wahrheit; zuletzt sprang er empor und rief, sich die Brust zerschlagend: „Nein! nein! Ich bin ein Mörder.“
Dann war es, daß er am Betstuhl sich niederwarf und zum Christusbilde verzweiflungsvolle Gebete stammelte. Er ist jetzt der Mittelpunkt des Weltalls; Himmel und Erde müssen jetzt auf ihn blicken, und das Ungeheure seiner That fordert ein Wunder der Allmacht … Eines Menschen Rettung aus sturmgepeischten, tosenden, nachteinsamen Fluthen ist kein größeres Wunder, als das Versinken der Seele im Wirbel der Leidenschaft, als eine verbrecherische That aus erhabenen Motiven … Benedictus kann nicht todt, muß gerettet sein. Bald, bald wird er hereintreten und seinem Freund an die Brust sinken … Dies Ereigniß malt Gregor sich aus und genießt seine Seligkeit im Voraus. Er flüstert sanft die Namen: „Benedict! Freund! Bruder!“ und weint die Thränen der Neue, Freude und Versöhnung.
Aber der Wahnsinn der Hoffnung dauert nicht. Der Verstand fordert Wahrscheinlichkeit und menschliche Gründe. Und nun sinnt Gregor mit ängstlicher Hast sich Zufälle aus, die Benedict’s Rettung ermöglichten. Die Fährknechte haben seinen Schrei gehört und ihn im Kahn gerettet! Oder der Fluß selbst hat ihn an’s Land getragen! … Doch warum ist er dann noch nicht zurückgekehrt? … Der Gedanke durchzuckt ihn jählings, daß Benedictus am Leben sei, aber nicht zurückkehren, nicht vergeben und vergessen wolle. Er ist in der Stadt, klagt Gregor des Mordversuches an, ruft die Gerichte auf – – –
Unwillkürlich ist der Prior an’s Fenster getreten und hat es geöffnet.
Unten zieht sich der schmale Baumgarten dem Haus entlang bis zum Fluß. Im Halbkreis schließt ihn der Felsen ein. Am andern Ufer fallen die hohen Steinwände senkrecht in die Fluth. Der Strom selbst, vom Regen geschwellt, ras’t wild dahin. Gregor hört das Geräusch des Wassers, es summt und wächst und donnert zuletzt in seinem Ohr. Er ringt die Hände, selber ein Ertrinkender … Jener Strom war erbarmungslos: todt ist Benedictus!
Nun gilt es nur noch, die Schuld zu verbergen, des Hauses Ehre zu retten!
Und er horchte. – – –
Es schlug zehn Uhr. Kaum waren die Schläge verhallt, so läutete die Thorglocke.
Der Prior befand sich weitab vom Eingang, im zweiten Flügel, aber der Klang erschütterte ihm Mark und Bein. Die Posaunen des Weltgerichts können nicht lauter und ahnungsvoller tönen. So grell, so ganz besonders klang die Glocke, Jeder hat sie gehört, Jeder verstanden – sie gellte: „Mord!“
„Sie bringen ihn,“ flüsterte er. „Fassung, o, jetzt nur Fassung!“
Er trat an sein Pult und griff hastig nach einem Buch. Indem er es aufschlug, fiel ein gesticktes Merkzeichen heraus. Das Buch war Benedict’s Spinoza.
Dieser Zufall gab ihm Kraft und Bewußtsein. Das Buch [47] erinnerte ihn, warum er die That begangen, und ein Hauch des herben Richtergeistes, der ihn gestern erfüllte, überkam ihn. Jetzt nahen eilende Schritte; Stimmen rufen den Prior, Menschen dringen in die Stube. Wer? was? er sieht und hört es nicht, er weiß nur, daß er jetzt seines Lebens schwersten Gang zu gehen hat – – und er geht, aufrecht, lautlos, mit einem Gesicht, das schon jetzt die Meduse sieht …
Im Thorweg standen die Mönche um eine Tragbahre. Eine grobe Decke war darüber gebreitet; schwer vom Regen, zeichnete sie die Umrisse eines Körpers, der darunter lag; eine Hand sah auf der einen Seite vor, eine fahle Manneshand. Alle wußten durch die beiden Schiffsknechte, welche daneben standen, wer zu ihren Füßen lag, aber Keiner berührte noch die Hülle, sie schwiegen und schauderten. Durch das offene Thor wehte der Regen. Die Donau rauschte.
Da tritt der Prior in den Kreis, und Einer beugt sich nieder und schlägt die Decke zurück. Benedictus! das schwarze Gewand triefend und zerrissen, das Gesicht entstellt vom Wasser, vom Tod; jeder Zug schmerzlich verzerrt oder zerstört, nur die Stirne unentweiht, klar und erhaben. Ein Fieberfrost schüttelte die Hünengestalt Gregor’s, und sein Gesicht hatte die Farbe des Todten, aber wer von den Anwesenden zitterte nicht? wer wäre bei solchem Anblick nicht erblaßt? Pater Hieronymus war’s, der zuerst das Wort ergriff.
„Wann habt Ihr ihn gefunden?“
Die Frage war an einen Alten in grauer Jacke und Wasserstiefeln gerichtet, der verlegen seine Mütze in den Händen drehte. Er strich das feuchte Haar aus dem wettergebräunten, ehrlichen Gesicht und sprach: „Genau kann ich das Hochwürden nicht sagen; auf unsrer Schwarzwälderuhr war’s Sieben, also wird es wohl um Acht herum gewesen sein. Wie Hochwürden wissen, wohne ich drunten, nah’ bei Felsdorf, mit meinem Schwiegersohn, dem Hans da“ – er wies auf seinen jüngeren Gefährten. – „Unser Haus liegt keinen Büchsenschuß weit vom Wasser. Wir sind Fährleute, und wenn die ver – wenn die Dampfschiffe nicht wären, könnten wir vom Fischen allein leben. Heut’ früh also zieh’ ich g’rade meine Stiefel an, und meine Tochter ist g’rade ihrem Blitzbuben, dem Sepperl, nachgelaufen, weil er immer auf die Kähne steigt und dabei in’s Wasser fällt; der Hans da aber rasirt sich g’rade für die Feiertage – da kommt der Blitzbub, der Sepperl, in die Stube gelaufen und schreit: Großvater, der schwarze Mann! der schwarze Mann liegt im Wasser! Gleich hinterdrein stürzt meine Tochter, weiß wie die Wand, und sagt: Jesus Maria! draußen hat’s einen todten Mann angeschwemmt, und es ist ein Pater vom Kloster! Und sie fängt an zu weinen und zu lamentiren, und der Sepperl und die kleine Franzel machen’s natürlich gleich der Mutter nach, und meine Alte, die im Bett liegt und die Gicht hat und nicht recht hört, schreit: Hülfe, zu Hülfe! Du Narr, sag’ ich zu meiner Tochter, bild’ Dir doch so was nicht ein, im Wasser seh’n Alle schwarz aus. Aber innerlich hat’s mir einen Stich gegeben, denn mein Vater und Großvater selig waren beim Kloster angestellt, und ich bin stolz darauf. Ich zwinkre dem Hans zu, und wir gehen hinaus und sperren das Weibervolk und die Gründlinge ein. Und richtig, zwischen meinem Boot und dem Heuschiff liegt der arme Pater Benedict. Ich glaubte, mich trifft der Schlag; wir zieh’n ihn an’s Land, reiben ihn, stellen ihn auf den Kopf, aber er ist und bleibt todt, denn dem Aussehen nach hat er schon lang im Wasser gelegen. Da holten wir eine Trage und schleppten ihn hierher, ich und mein Schwiegersohn, der Hans da.“
Der Erzähler that einen tiefen Athemzug und wischte sich mit seinem Aermel den Schweiß von der Stirne, dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: „Wir hätten durch Felsdorf gehen können, das wäre eine gute Stunde näher gewesen. Aber das hätte ein Zusammenlaufen und Aergerniß gegeben, und mein Vater und Großvater selig haben zum Kloster gehört, und ich bin stolz auf unser Kloster. So gingen wir denn den Waldweg und über die Felsen, und es hat uns Niemand gesehen, Hochwürden!“
Das Wort des Alten: „Ich bin stolz auf unser Kloster!“ klang dem Prior in’s Herz, wie ein Trommelwirbel dem Soldaten. „Halte aus!“ sagte er sich selbst und gab dann leise den Befehl, Benedict nach seiner Zelle zu bringen. Zwei Brüder und die Schiffer trugen den Todten, hinter ihnen schritt Gregor, die Uebrigen schlossen sich an.
Der düstere Zug bewegte sich über den Hof. Da, unter dem Kreuzbild, wankte der Prior und brach zusammen. Die Patres sprangen hinzu, aber er richtete sich selbst empor und winkte „Vorwärts!“
„Ich glaub’s wohl, daß es ihm arg in’s Herz greift,“ flüsterte Hieronymus zu seinem Begleiter; „Benedict hat sich ertränkt, das ist die Sache … Gott sei der armen Seele gnädig!“
„Selbstmörder“ nannten die Mönche unter einander den Todten. „Glaubenszweifel und Gewissensangst haben ihn dahin gebracht.“ „Ertrunken“ hieß es schonend in den Acten des Kreisrichters, der Nachmittags mit dem Gerichtsarzt zur Leichenschau kam. Die klösterliche Strenge schien für diesen Tag gelöst, man kam und ging in den Zellen aus und ein, oft waren vier, fünf Patres in einer Stube beisammen, um vom Verstorbenen, von den Abgründen des Geistes und vom Schmerz des Priors zu reden. Der Letztere ward den Tag über nicht mehr sichtbar, er hielt sich eingeschlossen und horchte auf das Rauschen und Murmeln der Donauwellen. Vor Sonnenuntergang läuteten die Glocken zum letzten Mal, denn es war der Mittwoch vor dem grünen Donnerstag. Trotz Wind und Wetter wurde die Kirche von Andächtigen dicht gefüllt. Sollte doch Pater Benedict, der gewaltige Redner, die Predigt halten!
Der aber war in der Zelle beigesetzt, die er lebend bewohnt hatte. Das ärmliche Geräth war daraus entfernt worden, und sie enthielt nichts als den düstern Thron des Todes, die Bahre. Am offenen Sarge beteten zwei Vater für die arme Seele; sie wurden stündlich von zwei andern abgelöst. Um elf Uhr Nachts hatte sich der Prior zur Todtenwache gemeldet. Er mußte, wenn er nicht den Vorwurf übertriebener Härte oder – Schwäche auf sich laden wollte. Schaudernd verzögerte er den Entschluß von Stunde zu Stunde, und es ward späte Nacht, bevor er ihn aussprach. Als seine Stunde schlug, verließ Gregor das Gemach und schritt durch den Corridor nach Benedict’s Zelle – wie gestern.
Er trat ein …
Zwei Kerzenlichter, die zu fahl brennen, um die Düsterkeit des Bildes zu mildern, aber hell genug, um sie zu offenbaren! Gregor’s erster Blick fiel, scheu und angstvoll, auf den Todten, ob er sich nicht zornig aufrichten und rufen werde: „Hinweg!“ – Nein, dies Antlitz trug zu deutlich schon die Signatur des Grabes. Ein zweiter Blick galt dem Mönch, der zu Häupten der Bahre kniete. Es war Ambrosius, ein Greis mit schneeweißem Haar und einem Gesicht, das von der nahen Auflösung die Verklärung vorausnahm. Dieser Mönch war seit einem halben Jahrhundert im Kloster und seit zwanzig Jahren blind. Er sprach nur selten, oft hörten seine Ordensbrüder Monate lang kein Wort von ihm, und wenn er antwortete, war seine Rede kurz und dunkel, wie Orakelsprüche.
Der Prior kniete aufathmend im Betstuhl nieder, der für ihn dicht am Sarge stand; seine Angst vor dem lebendigen Zeugen dieser Stunde war beschwichtigt. Er barg sein Antlitz in beide Hände, um die Leiche nicht zu sehen, und versuchte zu beten. Vergebens! Die Gedanken stürzen vom Himmel zurück; sein Ohr, alle Sinne richten sich auf das Geräusch, das wie Stimmengetös der Unterirdischen in die Stille der Nacht und des Todes tönt: der Strom rauscht und zischt, braust und brandet an die Mauern. Bald ist’s Gregor im Wirbel seiner Sinne, als säh’ er die Wellen sich’ aufbäumen, am Fenster wie Arme emporgreifen, und Häupter mit weißen Schaumkronen nach ihrem Opfer blicken … Dann gewöhnt sich sein Ohr; das Brausen sinkt zum leisen Schluchze n und Klagen herab. Und nun erhob Gregor das Haupt und starrte die Leiche an.
„Was denn ist es,“ fragte er sich selbst, „daß eine einzige Welle alle Gedanken und Empfindungen, Pläne und Wünsche in diesem Gehirn auslöschte, und daß eine Ewigkeit zwischen Heut und Gestern gähnen kann? Entseelt, sagt die Kirche, der Leib zerfällt, doch die Seele fliegt auf, ist unsterblich. Und soll dies klägliche Schauspiel zwischen Geburt und Tod aber Norm und Schicksal der Unsterblichen sein? soll sie um dieser Spanne Zeit willen ewig glückselig oder ewig verflucht werden? Und wenn die Seele Höheres ist als der Leib, warum vermag sie nichts gegen dessen Vernichtung, nach der ihre Verdammung kommt?“
Gregor trat der Angstschweiß auf die Stirn. Ihn, den Glaubensstarken, beschlichen Gedanken, wie er sie bisher niemals dachte, Fragen wurden in ihm laut, auf die er keine Antwort fand. [48] Seine Zweifel hatten freilich nicht die Methode der Schule und die Sprache der Wissenschaft; Benedictus hätte darüber gelächelt, aber für den schlichten Mann, der den Pflug besser zu handhaben wußte, als das zweischneidige Wort, waren sie furchtbar, unwiderstehlich, vernichtend. Erst blickt er von sicherer Höhe hinab; da erfaßt ihn Schwindel; der Boden rollt und schwindet unter seinen Füßen; da und dort klammert er sich an den Felsen, aber auch der, den er graniten wähnte, ist morsch und verwittert, Alles wankt und stürzt, pfeilschnell schießt er hinab und sieht sich im Abgrund, wo Finsterniß ihn umfängt, tosende Fluthen über ihm zusammenschlagen und hohnlachende Dämonen ihn von Tiefe zu Tiefe schleudern …
„Was ist Gut und Böse?“ schreit es in ihm. „Wenn die Welt nur ein toller Maskenzug und die Unsterblichkeit ein Märchen wäre? Wenn diese aufgedunsene, grinsende Masse die einzige und letzte Thatsache von Benedictus wäre, Freud’ und Leid, Haß und Liebe, das ganze Leben nur auf Verwesung hinausginge? Wenn ich, der Mörder, gleich den Hunderttausenden, die heilig lebten, nicht mehr vom Jenseits zu fürchten hätte, als das Nichts, und nichts zu erwarten, als den Wurm? … Herr Gott!“ betete er dann und rang die Hände, „verlaß mich nicht! Soll ich nun selber dem Zweifel verfallen, der ich den Zweifler ermordete?“ Er sprang empor und rief laut, halb wahnsinnig vor Aufregung: „Ambros! Ambros!“
Der Blinde erhob sein Haupt.
Der Prior stand jetzt neben dem Sarge und hatte die wildrollenden Augen auf den Alten gerichtet, die Rechte aber auf die Brust des Todten gelegt.
„Ambros,“ keuchte er, „es giebt Schicksale, die kein Gott, sondern die Hölle erdenkt und ausspinnt. Dieser Todte war mein Freund, ich wuchs mit ihm auf, theilte mit ihm die Träume der Jugend und die Sorgen der Armuth. Ich rettete einst sein Leben und that in einer Stunde mit ihm das Ordensgelübde. Sein Wohl und Weh’ waren mein, und er war mein Wohl und Wehe. Wenn er in meine Stube trat, war mir’s, als ginge der Tag auf, und war er krank, wich ich Tag und Nacht nicht von seinem Lager. Beim Allmächtigen, ich liebte ihn wie einen Bruder, und doch, diesen Mann, diesen Bruder hab’ ich – – Ah!“
Er fuhr jählings mit gellem Schrei zurück. Seine Hand hatte die eisige Hand des Todten berührt.
„Vater,“ sagte der Unglückliche, nachdem er wieder Fassung errungen hatte, „Du kannst das Fieber, das mich durchwühlt, nicht begreifen! Dein Blut kreist ruhig, und unsere Leidenschaften versuchen Dich nicht; das Unrecht und die Abgründe des Lebens siehst Du nicht. O, daß ich blind gewesen wäre, gleich Dir!“
Der Greis erhob seine zitternde Hand und sprach, langsam, feierlich: „Ich habe das ewige Licht!“
„Das ewige Licht,“ stammelte Gregor und brach bewußtlos zusammen.
Und still ward es im Gemach, das drei große Räthsel umschloß: die Blindheit, den Tod und die Schuld. Als es Mitternacht schlug, fanden die eintretenden Mönche ihren Prior ohnmächtig über den Leichnam hingestreckt. Sie trugen ihn nach seiner Zelle.
[49] Durch Nebel und Sprühregen glitt am Abend des grünen Donnerstags ein Kahn die Donau hinab. Der Felsdorfer Fährmann saß mit seinem Schwiegersohn Hans am Steuer, zwei Mönche kauerten ihnen gegenüber, und am Boden des Nachens stand ein Sarg. Sie fuhren zum Begräbniß. Fern vom Kloster und in ungeweihte Erde sollte der Mönch versenkt werden, von dessen Tod nur die Wellen wußten.
„Ich kenne Dich kaum wieder,“ sagte Pater Hieronymus zu seinem schweigsamen Gefährten. „Das Unglück kann unserm Prior nicht tiefer zu Herzen gehen, als Dir.“
„Memento mori,“ flüsterte der Bruder Kellermeister und sah trübsinnig in’s Spiel der Wellen.
„Seit gestern hab’ ich kein anderes Wort von Dir gehört. Willst Du dem Pater Ambros nacheifern?“
„Ich habe ein Gelübde gethan.“
Zu schweigen?“ fragte ungläubig der Pater. „Freund, Schweigen ist schwer.“
Der Klosterbruder neigte seufzend sein Haupt. „Memento mori,“ sagte er dann.
„Der Trübsal folgt die Freude nach,“ nahm Hieronymus wieder das Wort. „Nach dieser unseligen Charwoche sollen wir wenigstens festliche Ostern haben. Heute Vormittag kam ein Stadtbote zum Prior. Zufällig trat ich in die Pförtnerstube, als er nach seiner Abfertigung ein Frühstück daselbst verzehrte. Den Pflichten der Gastfreundschaft zu genügen, setzte ich mich zu ihm und so, inter pocula, erfuhr ich denn auch, was für eine Nachricht er gebracht hatte. Unser Bischof ist in der Stadt und wird am Ostersonntag das Hochamt in unserer Kirche halten.“
„Der Bischof kommt?“ fragte der Andere hastig.
„Ja, kommt in unser Kloster. Seit Jahr und Tag ist uns solche Ehre nicht widerfahren!“
„Und was sagt der Pater Prior dazu?“
„Was das für eine Frage ist! Aufathmen und jubeln wird er …. Ich gönn’ es ihm nach dem gestrigen Tag. – Habt Ihr auch den Pater Prior hinübergefahren?“ wandte er sich jetzt an die Schiffer.
„Ja, Hochwürden, ich und mein Schwiegersohn,“ antwortete der Alte. „Ich hätte weinen mögen, so traurig und elend sah der hochwürdige Herr aus! – Nicht zu scharf gegen den Wind, Hans! – Mein Schwiegersohn meint, es sei wegen der Freundschaft; ich aber sag’, es ist wegen des Klosters – Mehr links, Hans! – So hat Jeder seinen Kummer. Aber das Wetter wird gut zu den Feiertagen .… Mehr rechts, Hans!“
Nach einer Flußkrümmung zerklüftet sich auf beiden Seiten die pralle Steinwand in einzelne Porphyrrippen und Granitkuppen, Tannen drängen sich dazwischen und brechen aus den Rissen mächtig hervor; auch beginnen breite Erdstriche Wasser und Gestein zu vermitteln.
Einem jener feuergeborenen Recken hat man eine steile Treppe abgerungen, und in bedeutender Höhe, aber noch vom hangenden Felsgipfel überdacht, ward ein Kreuz aufgerichtet, als frommes Wahrzeichen für die vorüberziehenden Schiffe. Vom Fuß der Klippe bis zur Donau ist schwellender Rasen; Farren schießen empor, und Epheu, das Gestein bekleidend, umgrünt auch den geborstenen Eichenstumpf, der, einer Säule gleich, in der Halbrotunde dichtgedrängter Nadelhölzer steht.
An dieser Stelle landete der Kahn. Gemeinsam brachten die Männer den Sarg an’s Ufer und trugen ihn zum Eichenstrunk, wo Erde aufgeworfen und ein Grab bereits gegraben war. Spaten und Stricke lagen daneben.
Durch das abendliche Dunkel zuckte ein Flackerstrahl vom Felsen nieder. „Der Pater Prior und Joseph,“ sagte Hieronymus, und die Untenstehenden sahen zur Höhe empor, wo, vom Felsdach geschützt, eine Fackel entzündet wurde. Ihr unstäter Schein beleuchtete bald den Träger, bald das Kreuz, an dessen Stamm eine zweite Gestalt lehnte. Dann wandelte die rothe Flamme langsam an der aufblinkenden Wand hernieder …
Die Fackel in der Rechten, trat ein Klosterbruder zu den Harrenden, der Prior aber hielt sich, wie es bei derartigen Begräbnissen Ordensregel ist, von der Gruppe noch zurück. Er stellte sich an den Rand des Tannendickichts und verfolgte, die Hand auf’s stürmende Herz pressend, das hastige, unheimliche Thun.
Wie Schatten bewegen sich vor ihm die schwarzgekleideten Gestalten hin und her, bücken sich und arbeiten. Sie sind eilig in ihrem traurigen Werk, aber Gregor dehnen sich die Minuten zur Ewigkeit aus. Das Blut steigt ihm zu Kopf, seine Lippen sind trotz des feinen Regens trocken und brennen ihm, die Hände krampfen sich zusammen; er hat jetzt nur Einen Gedanken: daß irgend ein Ungeheures geschehen wird, wenn jene Männer so lang, so ewig lange zögern. Also eilt! eilt! Endlich ist der Sarg gerichtet; ein Commandowort, und er rollt dumpf hinab … Was sind künftig des Himmels Donner gegen diesen!
Hastig jetzt Erde drauf! Alle greifen zu, schaufeln, scharren und schütten; Gregor wünscht, daß sie den Felsen drüber wälzen könnten! Und nun erst tritt er hinzu, um das übliche Leichengebet zu beten.
[50] Die Mönche respondirten ihm, in singendem, traurigem Ton.
Die röthlich beleuchtete Gruppe unter düsterem Nachthimmel und ragenden Felsen, die lateinisch klagenden Männerstimmen, vom Rauschen des Stromes begleitet, das Alles war seltsam, wild und doch auch feierlich.
Als der Prior mit bebender Stimme das Schlußgebet gesprochen hatte: In memoria aeterna erit justus; ab auditione mala non timebit. Requiem aeternam dona ei, domine![1] fielen die Uebrigen mächtig ein: et lux perpetua luceat ei, und über den Fluß hin dröhnte das Felsenecho.
Et lux perpetua luceat ei! So lang in deiner Kirche Sprache über Gräbern gebetet wird, Gregor, wird ihr Wort gegen dich zeugen: „das ewige Licht leuchte ihm!“ –
Man fuhr schweigend nach dem Kloster zurück. Die übrigen Mönche warteten bereits im Refectorium. Gregor trat rasch herein, stellte sich hinter seinen Stuhl und sprach mit erhobener Stimme: „Ich habe Ihnen eine erfreuliche Mittheilung zu machen.“ „Am Morgen des Ostersonntages,“ fuhr Jener fort, „wird Se. Eminenz, der Bischof C… bei uns eintreffen. Er will den heiligen Tag in unserem Kloster verbringen.“
Ohne eine Pause zu machen, schlug er nach diesen Worten ein Kreuz und stimmte das Tischgebet an. Aber sobald man saß, gab sich die allgemeine Freude und Aufregung kund; man sprach laut und wirr durcheinander, und als wäre Benedict’s Tod eine längst vergessene Sage, hatte Jeder nur Wünsche und Winke für das bevorstehende Ereigniß und sprach nur noch vom Bischof.
Sogar der blinde Ambrosius öffnete den Mund und sagte: „Ich sah ihn.“ Pater Hieronymus aber, der vom Prior durch einen unbesetzten Stuhl getrennt saß, wiegte eine Weile ungeduldig das Haupt, dann wandte er sich an Gregor. Dieser bog sich hinten über, als wenn Benedictus noch auf dem leeren Stuhl säße. „Unser hochwürdiger Bischof,“ sagte Hieronymus, „ist ein herrlicher Mann, aber er ist zu gut für diese Welt. Er ist gegen die Feinde der Kirche zu nachsichtig. Heutzutage, wo Feuer und Schwert gepredigt werden sollte, schont und beschützt er die Freidenker. Wenn es auf ihn ankäme, würde der Index veralten. Durfte ihm doch der arme Benedict sein Buch von der Reformation widmen!“
Gregor, dem vor wenigen Tagen Hieronymus damit zu Dank gesprochen hätte, ergriff den Arm des Eifernden und sagte mit einem wilden Blick: „Lassen Sie die Todten ruh’n!“
Hierüber trat eine augenblickliche Stille ein, und in diesem Schweigen sprach plötzlich Ambrosius zwei Worte vor sich hin: „Justitia“ und „caritas.“
Das war am Abend des grünen Donnerstags gewesen; am Morgen des folgenden Charfreitags standen die Klosterthore weit geöffnet; dicht geschaart drängte sich das Landvolk im Hof und auf der breiten Treppe zusammen, die zur Kirche führt. Klosterdiener hielten einen Weg vom Bruderhaus nach dem Flußufer offen, Chorknaben drängten sich mit wichtiger Amtsmiene durch die Menge, und an den Fenstern des Hauses erschien hin und wieder das Gesicht eines Paters.
Der Himmel war bewölkt, aber es regnete nicht, und der Wind wehte aus Osten.
Um zehn Uhr entstand eine Bewegung unter den Harrenden, und der Corridor des Erdgeschosses entließ langsam den feierlichen Charfreitagszug. Voran wurde ein Kreuz getragen, von dem Trauerflöre wehten; vier Posaunen stimmten in langgezogenen, dumpfen Tönen eine Klageweise an; Chorknaben und Sänger folgten. Dann kamen paarweise die Väter des Klosters in schwarz und weißen Togen, brennende Kerzen in der Hand. Meßdiener schwangen hinter ihnen Weihrauchfässer, und aus dieser Wolke von Rauch glänzte das Allerheiligste, das Gregor trug.
Ein schwarzer Mantel, mit einem breiten, weißen Kreuz gestickt, umwallte seine hohe Gestalt, zu seiner Linken schritt Pater Hieronymus, zur Rechten, an der Hand eines blondgelockten Kindes, der achtzigjährige Ambrosius. Die Brüder schlossen sich an.
Während der Zug sich langsam über den Hof nach dem Donauufer bewegte, lag das Volk auf den Knieen. Vor dem Thor hielt jener still, und die Sänger, Ministranten und Geistlichen erfüllten dicht die schmale Landzunge, die sich zum Wasser hinab erstreckt.
Der Prior aber trat unmittelbar an den Fluß heran. Auch auf der Höhe der jenseitigen Felsen knieten Männer und Frauen und sahen auf’s Kloster nieder.
Die Posaunen verstummten, es war Gregor, als hielten Himmel und Erde den Athem an, um auf das Rauschen der Fluth zu horchen, die er jetzt segnen sollte. Langsam erhob er die Arme, er schien zu wachsen, ja, einen Augenblick war’s, als wollte er sich von der Erde gegen Himmel heben. Dann segnete er mit dem hochgeschwungenen Allerheiligen den Strom – den Strom, der über seinen Mord, der über Benedictus rauschte. Eine Welle schlug an’s Ufer, spritzte an seinem Priesterkleid empor und verrann …
Wieder tönten die Posaunen, der Zug ging zurück und begab sich über die Marmortreppe in die düster gähnende Kirche. Die Fenster waren mit schwarzem Sammt verhangen, die Altäre alles Schmuckes beraubt und die Leuchter umgestürzt. Eine Seitencapelle aber war zum Garten verwandelt und zwischen Blumen und immergrünen Pflanzen lag der Dulder der Welt … Der Altar dabei war hell erleuchtet, und dorthin brachte Gregor das Allerheiligste. Dann, seines Mantels entkleidet, schritt er zum Hochaltar. Ein Kreuz lag auf den Stufen, wo Benedictus seine Nächte durchwacht hatte, und die ewige Ampel, die einem feurigen Auge gleich aus der Finsterniß des Chors leuchtete, schwebte darüber. Gregor warf sich mit ausgestreckten Armen über das Kreuz auf die Erde und betete. Ja, er betete! Der düstere Prunk des Gottesdienstes hatte ihn mit einer Art Trunkenheit erfüllt, und der Glanz seines heiligen Amtes warf einen Schimmer auf den häßlichen Flecken in seiner Seele.
„Ich habe gesündigt, Herr,“ sagte er bei sich, als er Angesichts des Volkes auf den Stufen lag, „aber ich habe die That nicht aus weltlichen Gründen, ich habe sie gethan im priesterlichen Zorn. Der Priester aber steht über dem Gericht der Welt, frei von allen irdischen Banden, hat er nur Gott sich gegenüber!“
. . . . . . . .
Als er sich erhob, entfiel ihm ein kleines Metallkreuz …
Dies Kreuz war das Geschenk seiner Mutter, einer armen, siebenzigjährigen, rechtschaffenen Bauersfrau im Gebirge. Sie lebte noch. Gregor, stehst du auch über diesem Gericht?
Auch seine Augen fanden Schlummer. In der Nacht vom Charfreitag lag Gregor mit geschlossenen Wimpern auf seinem Stuhl; die breite Brust hob und senkte sich in gleichmäßigen Athemzügen, und das mondbeleuchtete Gesicht hatte die Ruhe, den Frieden, die Unschuld des Schlafes. Seine erschöpften Sinne waren auch des Traums nicht mehr fähig, und so genoß er ganz und ungestört sein letztes Glück. Aber beim Erwachen lächelte er nicht, gleich den andern Menschen, der Sonne zu, welche nach trüben Tagen herrlich wieder im Blauen stand! Dem Schuldbewußten war diese Klarheit entsetzlich. Er hätte sich in die Tiefen der Erde flüchten mögen und es schien ihm unmöglich, vor diesem allgegenwärtigen, gewaltigen Licht ein Geheimniß zu verbergen. Aber das Geräusch, das am frühen Morgen schon das Kloster durchtönte, erinnerte Gregor an seine Pflicht, an das Fest, an den Bischof, und zitternd trat er unter Menschen.
In der allgemeinen Verwirrung und Unruhe beachtete Niemand die Blässe, den scheuen Blick und das nervöse Zucken des Priors. Wo er erschien, ward er mit Fragen und Bitten bestürmt, mußte er hier seinen Rath, dort Befehle ertheilen. Boten kamen und gingen, und er blieb in einer Fluth von Geschäften keine Minute allein. Endlich, am späten Nachmittag, war Ordnung in die durcheinander schwirrenden Arbeitskräfte gebracht, der geschäftliche Theil erledigt, und nur die Ausschmückung der Räume noch übrig. Vom Thurm läutet’ es zum ersten Mal wieder, und die Gemeinde strömte über den Klosterhof in die Kirche, wo Pater Hieronymus am purpurgeschmückten Hochaltar die Auferstehungsfeier begann. Gregor aber stand, als die Luft von den langgezogenen Glockentönen erzitterte, vor der Thüre zur Bibliothek. Er hielt die Hand über die Augen, weil ihn die Sonne blendete. „Was wollen Sie noch?“ fragte er den Bruder Kellermeister, der zu zögern schien.
Dieser schrak zusammen. „Nichts, nichts, Herr Pater Prior,“ entgegnete er, fügte aber dann stockend hinzu. „Ich wollte nur fragen, wer nach der Vesper zur Beichte sitzen wird. Die Herren [51] Patres haben so viel für morgen zu thun, und gerade heute will Jeder sein Herz vor Gott ausschütten.“
„Pater Ambros – Hieronymus – und ich,“ erwiderte nach einer kurzen Pause der Prior. Damit trat er in den Büchersaal, der als der größte und sonnigste Raum im Kloster für das Festmahl bestimmt war. Gregor öffnete die hohen Bogenfenster der frischen Abendluft und blickte nachdenklich auf den Strom hinaus, der wieder geglättet und leuchtend dahinfloß.
„Nach Stürmen wieder ruhevoll und ein Spiegel des Himmels,“ dachte Gregor, „und ich? nach fluchwürdiger That ein Priester! Und wenn nun ein Mörder an meinen Beichtstuhl tritt und sich mir gegenüber zur heimlichen Missethat bekennt? Was werde ich, an Gottes Statt, dem Verbrecher sagen? Geh’ hin und büße; söhne Dich aus mit der Menschheit und menschlichem Recht! – – Ja, wenn’s mit der Reue gethan wäre! wenn Thränen sühnen könnten! das Licht meiner Augen wollte ich mit Thränen auslöschen! aber Reue will Buße. Entweder muß ich hingehn und meine Schuld bekennen, gestehen, daß ich als Priester geirrt, als Mensch gefrevelt habe – oder thu’ ab die Reue, erhebe frei die Stirn und sage: der Priester darf auch Rächer sein!“
Er begab sich vom Fenster hinweg und durchschritt das Gemach. Sein Blick fiel auf den Tisch, an welchem Benedictus Tages über zu lesen und zu schreiben pflegte. Klosterchroniken und Folianten lagen da, wie Benedict sie verlassen hatte. Der Prior ergriff hastig ein Manuscript, an dem sein Opfer zuletzt geschrieben hatte. Die Feder ruhte noch daneben, wie sie der Unglückliche hingelegt, als Felix eintrat. Das Heft trug den Titel: „Die Prioren des Klosters Felsenburg, der Geist ihres Wirkens und die Wirkungen ihres Geistes; dargelegt von Benedictus.“ Das Werk umfaßte einige hundert Seiten; das letzte Blatt war noch unbeschrieben und trug nur die Ueberschrift: „185*. Gregor August, P. S. O. B.“ Es war sein, des Mörders Name. Gregor starrte auf den leeren Raum darunter … Schreibt keine unsichtbare Hand darauf, wie auf Belsazar’s Wand: Mene, Tekel, Upharsin?
„Nein!“ rief er und brach vernichtet zusammen, „fluchwürdiger als Belsazar! Am Tag des Gerichts wird auf diesem Blatt ein Wort nur flammen: Kain!“
Aus der Kirche aber tönte es plötzlich: Alleluja! Christ ist erstanden! und die Orgel brauste, die Trompeten jauchzten, und über die Felsen, den Strom und das einsame Grab des Märtyrers dröhnte der Glockenhymnus: Christ ist erstanden!
Als die Kirchenfeierlichkeit zu Ende war, begann ein wirres, aber fröhliches Getriebe. Wer jetzt im Klosterhof steht, wird nimmer glauben, daß diese Mauern zuweilen so einsam und traurig liegen, als wären sie, einst versunken, längst vergessen, ein ödes Wrack, das die Ebbe bloß gelegt. Der Abendhimmel, der, ganz Gluth und Gold, sich über der Felsschlucht ausbreitet, hat alle Schwermuth hinweggenommen. Die frische Luft, welche von dorther weht, wird mit dem Waldgeruch getränkt, den große Bündel von Tannenzweigen im Hofe ausströmen. Denn einige alte Frauen sind eifrig damit beschäftigt, Kränze und Guirlanden zu winden. In blauen Röcken und rothen Schürzen kauern sie zwischen dem grünen Wirrsal, das um das eherne Kreuz in der Mitte aufgehäuft ist. Das Klosterportal und der Thorweg sind bereits in einen Triumphbogen verwandelt, am Eingang zum Bruderhaus aber hämmert noch ein junger Mönch die Latten zur zweiten Ehrenpforte fest, während ein Anderer ihm die Leiter hält. Auf der Kirchentreppe umkleiden Arbeitsleute die Säulenschäfte mit hohem Schilf und schlagen die Halle mit rothem Tuch aus, ein Pater steht dabei, ordnet dies und jenes an und liest dazwischen im Breviarium. Klosterknechte tragen Wasser vom Fluß, denn Zellen und Corridore werden gelüftet und gescheuert, die Möbel in den Gastzimmern gereinigt und zurecht gerückt. Thüren gehen, Zimmer und Corridore widerhallen vom Geräusch der Arbeit und von den Stimmen der Arbeitenden.
An diesen heitern, lichtvollen Scenen vorüber wandelte der Prior langsam und gedankenschwer in die Dämmerung des Gotteshauses. Dort waltet die Stille eines mystischen Sabbaths. In den Säulen, in Stein gefangen, träumt die Sehnsucht der Seele. Auf den Marmor haucht das Licht, durch bunte Fensterscheiben brechend, zarte Farben hin, und um die Capitäle schweben blaue Weihrauchwolken. Im Zwielicht der Seitenhallen knieten Betende, und in den schwergeschnitzten, katafalkähnlichen Beichtstühlen flüsterten Stimmen. In einen solchen ließ sich eine hohe Mönchsgestalt nieder, das blasse Angesicht dem ewigen Licht zugekehrt. Alsbald warf sich ein Mann in der Tracht der Ordensbrüder am Beichtgitter nieder und begann in des Andern Ohr zu flüstern: „Hochwürdiger Vater, auf meiner Seele lastet ein furchtbares Geheimniß. In Angst, Zweifel und Unruhe finde ich Nachts keinen Schlaf und am Tag kein Gebet. Pflichtvergessen gegen die Gesetze meines heiligen Ordens habe ich einst eine stürmische Nacht beim Wein durchwacht. Als ich in meine Zelle zurückkehren wollte, ward ich der unsichtbare Zeuge eines Mordes, von geweihter Hand am Geweihten begangen!“
Der Priester im Beichtstuhl zuckte heftig zusammen, aber der Beichtende fuhr leise fort: „Das Opfer ward an unheiliger Stätte begraben, und der Vorwurf des Selbstmords schändet sein Andenken. Die Wahrheit und der Mörder aber blieben unentdeckt, denn ich, der Einzige, der außer Gott sie kennt, habe geschwiegen.“
Das Haupt des Beichtvaters, das die zitternde Hand kaum noch mit dem weißen Tuch zu verhüllen vermochte, fiel schwer auf die Brust; die freie Rechte packte krampfhaft das Holzwerk; der Andere aber begann nach kurzer Pause wieder: „Nun ich mein Herz vom entsetzlichen Bann befreit habe, wird Gott mir Frieden und Du, als sein Priester, mir die Absolution gewähren. Dir selbst aber, unglücklicher Gregor, gelobe ich in dieser heiligen Stunde ewiges Stillschweigen. Dir, der von der Schuld des Schweigens mich lösen kann, übergebe ich hiermit vor Gott, dessen ewiges Licht der Barmherzigkeit uns Beiden leuchten möge, mein Geheimniß als Dein Geheimniß!“
Das weiße Tuch sank, und Gregor’s Antlitz wurde sichtbar: die Stirn war bleifarbig, und das Haar klebte an den Schläfen vom Angstschweiß, die Augen waren starr und erloschen, die Lippen zuckten. Schweigend wartete der Andere auf die Stimme des Priesters. Aber dieser winkte nur mit der Hand. Seine Blicke waren wirr; er rang nach Worten und fand sie nicht, und seine Zunge war schwer. Er sah und hörte nicht, was um ihn vorging. Die Nacht sank nieder, und die Kirche war längst von Allen verlassen, aber Gregor saß noch immer im Beichtstuhl, mit starrem Blick, mit fiebernder Stirn und sann dem Worte nach: Absolvo te!
Ostersonntag! Die Natur ist sonnentrunken; Felsen, Wasser und Rasen sangen lechzend in der Brunst des Frühlings die goldige Fluth, und der Himmel spendet aus blauen Tiefen unerschöpfliche Fülle. Dabei quillt Glockengetön und Menschenjubel unaufhörlich durch die Luft. Hunderte von bewimpelten Kähnen, mit geputzten Menschen beladen, gleiten auf der Donau dahin, landen am Kloster oder fahren weiter, dem Dampfer entgegen, der stromaufwärts kommt. Vom Kirchthurm flattert die Osterfahne im Morgenwind. Ueber dem weitgeöffneten Klosterportal prangt in goldenen Lettern aus Immergrün: Ave! Der Hof aber ist mit beflaggten Masten, Gewinden und Kränzen in eine grüne Halle verwandelt, die zur Kuppel das unendliche Blau hat. Und hier drängt sich das Volk, Männer, Frauen, Kinder. Stundenweit aus Dörfern und Einöden kamen sie, mit festlichen Gewändern und fröhlichen Gesichtern. In den Corridoren des Bruderhauses eilen die Mönche Treppen auf, Treppen ab. In den Vorrathskammern werden Kisten und Kasten geräumt, Fässer gerollt, und in der Küche steht Bruder Ignatius wie ein Feldherr; um ihn her werden die Mörser geladen und Spieße gedreht, schmort, siedet und bratet es. Kein Gemach, kein Winkel ist im ganzen Kloster, wo nicht Menschen voll Aufregung, Erwartung und Festfreude sich rühren.
Um neun Uhr donnern die Böller von der Felsenhöhe, und der feierliche Zug der Mönche begiebt sich zur Einholung des Bischofs zum Strom hinab, die Sänger und Rauchfaßträger, die Brüder und Patres, der Prior im goldgestickten Prachtgewand, von zwei Leviten begleitet.
Das Dampfschiff rauscht heran. Auf dem Deck stehen, Kopf an Kopf, Hunderte von Städtern und das bischöfliche Gefolge. Zahlreiche Kähne begleiten den schwarzen Riesenschwan und bedecken weithin die Wasserfläche. Die Schiffsglocke gellt zwischen das Kirchengeläut; vom Boot und von den Höhen dröhnen die Böller, denen das Felsenecho antwortet; Musik erschallt vom Deck, und die Menschen auf dem Strom, am Ufer und im Hof schwingen Hüte und Tücher und jauchzen, und hoch auf den Felsenplatten, wo nur der [52] Himmel sie hört, schreien Männer und Frauen: „Hurrah!“ Es gilt dem Bischof, dem Kloster, dem Fest, dem Frühling!
In diesem allgemeinen Taumel landet das Schiff; die würdige Greisengestalt des Bischofs, in rothem Talar, löst sich aus der bunten Masse, er steigt die Treppe nieder und umarmt den Prior. Dann wird es ringsum still, ein Sängerchor beginnt, und unter ihrem Gesang, auf Blumen schreitend, welche Kinderhände streuen, zieht der Bischof in die Kirche, das Volk am Wege segnend. Das Hochamt begann. Gregor war der assistirende Priester. Bevor der Bischof die Mitra aufsetzte und den Hirtenstab zur Hand nahm, knieten er und der Prior auf den Stufen des Hochaltars nieder und beteten laut das katholische Sündenbekenntniß.
Während dieses Gebets war es todtenstill in der hohen, säulengetragenen Halle, und Gregor hörte das Fenster, das nach der Donau ging, im Morgenwinde knistern. Ihn und die übrigen Priester vor dem hochgelegenen Altar traf das volle Tageslicht, während es im Schiff, mannigfach gebrochen, nur da und dort die Knieenden beleuchtete; Männer, Frauen, Jugend und Alter, Arm und Reich dicht nebeneinander, hier Alle nur Menschen, und über ihnen der Geist Gottes.
Das Geräusch des verhängnißvollen Fensters machte Gregor fast wahnsinnig; indem er es zu übertäuben suchte, sprach er mit wachsender Hast und immer lauter. Die Worte: „Meine Schuld! meine Schuld!“ klangen wie ein Angstschrei von seinen Lippen. In einem entfernten Winkel begann ein Kind zu weinen – ein Zufall, aber Gregor war’s, als sähe er sich selbst als Kind dort knieen, woher das Weinen drang …
Dann brauste die Orgel, und im Gewog der Instrumente ertönten die Worte, die unter wehenden Cedern und der Sternenpracht des Orients ein König einst zur Harfe sang. Unsagbares durchschauerte Gregor während der Messe. Es waren nicht Gedanken, sondern nur noch Empfindungen. Als das Sanctus vorüber und das Opfer nahe war, verhallte Orgel und Paukenklang. In sanfter Schwermuth begannen die Violinen, und eine melodische Knabenstimme sang: Benedictus …
Da hielt Gregor die aufquellenden Thränen nicht länger zurück; er preßte seine Stirn auf die Stufen, vor denen er kniete, und schluchzte laut, ganz aufgelöst in Sehnsucht und Schmerz um Benedictus.
Dr. theol und Pater O. S. B.
gest. am 20. April 185*. In der Donau verunglückt.
„Todt!“ sprach der Bischof mit schmerzlichem Ton. „Und Sie haben keine Ahnung, Herr Prior, warum der arme Mann so jäh, so traurig endigte?“
„Er war ein Zweifler,“ stammelte der Prior mit blassen Lippen.
„Wer war das nicht?“ sagte der Bischof leise vor sich hin.
Der Andere sah ihn überrascht, erschrocken an.
„Benedict war in Versuchung, von unserer heiligen Kirche abzufallen,“ betonte er.
Der Bischof seufzte. Nach kurzem Nachdenken sagte er: „Und doch wüßte ich ihn lieber unter den Abtrünnigen, als unter den Todten.“
„Hochwürdigster!“ rief der Prior außer sich.
„Denn wer darf, wer kann einen Lebenden verloren nennen?“ sprach der Greis; Gregor aber, von diesem Wort tödtlich getroffen, senkte den Blick.
„Ich fühle,“ begann der Bischof nach einer Weile wieder, „wie tief gerade Sie von diesem Unglück berührt sein müssen, als sein Prior und mehr noch, als sein Freund. Ich erinnere mich, von Pater Benedict gehört zu haben, daß Sie ihm einst das Leben retteten!“
Gregor rang stöhnend die Hände.
„Getrost!“ sprach der Bischof sanft, „wir werden ihn wiedersehen. Gott ist barmherziger als wir Menschen.“
„Wohl, wohl!“ flüsterte der Prior, den jedes Wort des Andern vernichtete. Seine Seele kämpfte vergebens gegen die Gewalt, die in des Bischofs Menschenliebe lag. Er suchte nach einem Wort, das er dieser Duldsamkeit entgegenschleudern konnte, aber der Vorwurf der Lässigkeit und des Unglaubens paßte nicht auf den Bischof; dieser Mann war fromm und gut.
„Hochwürdigster,“ sagte Gregor zuletzt, „der Unglaube, der Abfall nehmen überhand, schon wuchern sie innerhalb geweihter Mauern. Warum sollen wir nicht das Richtschwert vergangener Jahrhunderte ergreifen?“
Ein Schatten flog über des Bischofs Stirn, dann hob er sanft lächelnd die Hand: „Freund,“ sagte er, „laß uns Hirten, nicht Henker sein!“
„Aber zur Ehre der Kirche!“
„Die Ehre der Kirche ist Christus. War er ein Verfolger oder Verfolgter? Er hatte das Wort, nicht das Schwert.“
Wenige Minuten darauf wankte Gregor aus der Sacristei in die Kirche. Dort stand nur der Bruder Küfer, stand im hellen Sonnenlicht am offenen Fenster, unter dem die Donau floß. Er, der Einzige, der auf dem Weltenrund die Geschichte dieses Fensters kannte! Ein tiefer Schauder packte Gregor bei diesem Anblick, ein furchtbarer Gedanke durchzuckte ihn, dann, am ganzen Leibe zitternd, streckte er beide Arme gegen den Mönch hin und schrie, daß es laut durch die Kirche dröhnte: „Hinweg! hinweg! hier ist Gregor!“
Der Mönch drehte sich um und fing den Wankenden in seinen Armen auf: „Memento mori!“ sagte er. – Dann kamen die Klosterbrüder, die Canonici und Vicare des Bischofs, die Priester der Umgegend, der Bischof selbst und ließen sich auf den angewiesenen Sitzen nieder. Es waren über hundert Geistliche in der Kirche. Das Schiff aber lag still und leer. Nach einem kurzen Gebet begann der Bischof zu sprechen:
„Hochwürdige Väter und Priester! Der Hohepriester des alten Bundes trug zwei köstliche Steine im Brustschild. Diese Steine wurden Licht und Recht genannt. Lasset Licht und Recht auch unser Brustschild sein. Seid einander ein Beispiel! Legt nicht die Hände in den Schooß und saget: die Zeit ist zu schlecht für die Frommen! Gutes zu thun, ist immer gute Zeit! – Da ist dieses Kloster. Vor vierzig Jahren nährte und kleidete es fünfundzwanzig unter zweihundert Armen, jetzt versorgt es fünfzig unter hundert. Ihnen, Herr Prior, gebührt unser Dank hierfür. Aber nicht nur Ihre rastlose Thätigkeit für des Klosters Hebung und das Wohl der Armen, sondern auch Ihre Frömmigkeit und Glaubenstreue, all Ihre seltenen Tugenden sind in Rom sowohl, wie im Lande erkannt und gewürdigt, und mir ward der Auftrag, Ihnen dies auszudrücken. – – Gregor, Abt von Felsenburg, dienen Sie auch fernerhin der Kirche, der Menschlichkeit, dem ewigen Licht!“
Eine freudige Bewegung geht durch die Versammlung, Viele springen empor, Aller Augen hängen am Prior. Dieser erhebt sich und macht rasch zwei, drei Schritte vorwärts. Ein Sturm von Gefühlen durchtobt ihn, Freude und Schmerz, Genugthuung und Verzweiflung. In seiner Hand ruht sein Geschick. Hier Schmach, Fluch und Verstoßung, aber auch Recht und Sühne. Dort eine Bahn der Macht und des Ansehens, der Wohlthätigkeit und stillen Buße, aber auch der Lüge und ewiger Gewissensqual! Er überdenkt seine und des Klosters Ehre, hört den Jubel seiner alten Mutter und breitet die Arme aus, wie um die Hoffnung an’s Herz zu drücken, und indem er so das Auge rathflehend gegen den Himmel erhebt, sieht er über seinem Haupte Benedictus’ Ampel, das ewige Licht … Da faltet er beide Hände über der Brust, wankt vorwärts und kniet an den Stufen des bischöflichen Stuhles nieder. Und mit seiner tiefen, metallenen Stimme spricht er im allgemeinen Schweigen: „Hochwürdigster Bischof! Väter und Brüder! Ich – ich bin der Mörder Pater Benedict’s …!“
Drei Monate später ging in der Residenz das Gerücht, die Gräfin Cosima von Geldern, deren Geist und Schönheit Jedermann bewunderte, sei in den Orden der barmherzigen Schwestern getreten.
[53] Sechs Jahre später reisten zwei katholische Missionäre durch die Tiefebene zwischen dem Zambesi- und Tschobestrom den ersteren stromaufwärts zu den Stämmen der Makololo. Beide waren deutsche Benedictiner; Einer von ihnen, eine hochgewachsene, würdige Gestalt, war vom Orden zur Sühne eines Verbrechens nach Afrika gesandt, der Andere, ein Klosterbruder, sein freiwilliger Begleiter. Die Wanderung durch jene fruchtbaren, aber ungesunden Landstriche war mit Anstrengungen und Leiden aller Art verbunden, denn das Dickicht von Papyrus und Rohr am Ufer war ihnen ein nicht minder gefährliches Labyrinth, als die fast undurchdringlichen Bananenwälder.
Der Pater ward vom Fieber ergriffen. Sein treuer Freund suchte und fand für den Erkrankten in der Hütte armer Banyetis Zuflucht. Nach einer lang durchwachten Nacht starb der Priester. Bevor er in den Armen seines Freundes verschied, dankte er diesem mit dem lateinischen Segenswort: Benedictus – – mehr ließ ihn der Todeskampf nicht sprechen.
Während im nahen Wirrsal der Palmen, Mangos und Bananen der tausendstimmige Gesang der Vögel begann, sprach der Mönch an der Leiche seines einstigen Priors das Todtengebet – Et lux perpetua luceat ei! Die Bewohner der Hütte aber erstiegen einen Felsen des Stromufers und mit ausgebreiteten Armen beteten sie an die Sonne, die purpurn jetzt über den Laubwogen emporstieg, die schöne, flammende Sonne, das ewige Licht!
- ↑ „Des Gerechten wird nimmermehr vergessen, vor böser Verleumdung wird er sich nicht fürchten. Herr, gieb ihm die ewige Ruhe!“