Das britische Parlament
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Ich lag in Fiebergluth. Wochenlang schon war der Schlaf von meinen geschlossenen Augen geflohen. Der Traum saß auf meiner erhitzten Stirn, bald als quälender Alp, bald als wohlthätiger Zauberer, der heitere und anziehende Bilder vor die Seele gaukelte, Bilder am Vorhange der Zukunft, oder aus dem Schrein der Erinnerung. – Diese Erinnerungsbilder waren nicht bloße, matte Schatten der Wirklichkeit; der Traum hatte sie mit frischen Farben übermalt, mit grellen Lichtern aufgehöht, und um sie hing er phantastisches Schlingwerk von Immergrün und Blumen. Mit Vergnügen gedenke ich noch jetzt dieser Träume, und einen derselben erzähle ich wieder.
Ich war in London. Ich stand auf der Gallerie über dem Dom von Sankt Pauls. Nacht war’s. Ueber mit glitzerten die Sterne im dunklen Aetherblau, seitwärts zog der Vollmond hinter silberrandigem, dünnen Gewölk fort. Unten lag das neue Babylon. Seine millionenstimmige Zunge war verstummt: ich lauschte; still war die Stadt wie ihre Gottesäcker. Nur die Lichtstreifen, welche in der dämmernden Tiefe sich durchkreuzten, verriethen die Straßen und Plätze, sie wurden mir zum Ariadnefaden, mich in dem Häuserlabyrinthe zurechtzufinden. Zunächst lag die City. Ich erkannte die Kuppel der Bank von England, und daneben den Säulenhof der Börse, [45] durch deren Thore die Kaufleute der Erde täglich ein- und ausziehen zu vielen Tausenden. Ich erkannte das Riesendach des Rathhauses (Mansionhouse), wo nicht nur der Bürgermeister Gericht, sondern auch Tafel hält so glänzend, wie seine Königin; ich unterschied den nobeln Palast der ostindischen Compagnie, wo der britische Kaufmann das Scepter trägt über ein fernes Reich und 120 Millionen Menschen Gesetze gibt. Im Osten lagen der Hafen und die Docks mit ihren Mastenwäldern, Zeichen von des Verkehrs und des Reichthums Unermeßlichkeit. Westwärts aber, so weit das Auge nur dringen mochte, leuchteten die breiten Straßen und Squares des Westends, und mit zusammenschießenden Strahlen zeichneten sie keck die Umrisse der unzähligen Paläste und Prachtwohnungen der Mächtigen und Großen des Weltreichs und jener Institutionen, durch welche London die Wissenschaft zugleich feiert und dem Leben vermählt. Die vielen Gotteshäuser streckten sehnsüchtig ihre schlanken Häupter zu den Sternen auf; fern und alle überragend sah ich das Thurmpaar des ehrwürdigen Westmünsters wie ein Doppelriese unter einer Schaar kleinerer Gestalten. Neben Westmünster suchte ich nach dem Glockenthürmchen von Sankt Stephan, aber vergebens: da schlug die Uhr unter mir Eins, und alle Thürme der Stadt riefen Eins schauerlich tönend nach. Ich blickte zagend hinab – mich schwindelte, ich glaubte, ich müßte stürzen; da war mir, als faßte mich eine Geisterhand, und über das eingeschattete, unermeßliche Häusermeer weggetragen, sah ich mich im Nu vor der wohlbekannten Pforte von Sankt Stephan, dem alten Parlamentshause. Mein Führer schob mich durch die weit geöffneten Thore hinein, wir stiegen hinan zur Gallerie des Sitzungssaals, ich sah mich im Gedränge der Zuhörer und der Geist war verschwunden. Ein halbwacher Zustand folgte dieser Vision, mein Seelenvermögen wurde freier und die Erinnerung an das früher Gesehene trat klar an des gaukelnden Traumes Stelle.
Der Sitzungssaal im Hause der Gemeinen hatte zu meiner Zeit nichts Imponirendes. Er war, seiner früheren Bestimmung als Kapelle gemäß, ein hoher, länglich-viereckiger Saal, an den Wänden mit Gallerien umgeben, von gothischen Fenstern spärlich erleuchtet, und kaum geräumig genug, alle Parlamentsglieder und die gewöhnliche Zahl der Zuhörer zu fassen. Die damalige innere Anordnung besteht auch jetzt noch. Am Ende des Sitzungssaals, dem Haupteingange gegenüber, ist der Lehnsessel des Präsidenten oder Sprechers und vor diesem eine viereckige Tafel, mit grünem Tuch beschlagen. Auf demselben liegt ein großer, goldener Stab, wie ein Zepter gestaltet, als Symbol der souverainen Macht der Volksrepräsentation; daneben Haufen von Akten, Protokollen, Petitionen u. a. Papieren. Drei Schreiber, in schwarzen, weiten Gewändern, mit grauen Allonge-Perücken, sitzen am Tische so, daß sie den Rücken dem Präsidenten zukehren. Letzterer ist mit einer schwarzen Staatsrobe von Seide angethan, und sein Haupt verunzirt auch eine Perücke, deren Enden sich unter dem Kinne kreuzen und bis mitten auf die Brust herabgehen. Zu beiden Seiten des von der Hauptthüre bis zur grünen Tafel führenden Ganges reihen sich Bänke hinter einander, fast wie im Parterre eines Theaters. Sie sind mit schwarzen Lederkissen beschlagen, [46] breit und bequem, aber schmucklos. Hier sitzen die Parlamentsglieder, die verschiedenen Meinungsnüançen um ihre Führer geschaart, in den ungezwungensten Stellungen, in gewöhnlichem Ueberrock und Stiefeln, den Hut auf dem Kopfe, oder den Regenschirm unterm Arm. Das Ensemble der Versammlung ist alles Ceremoniellen ledig, und wenn eben die Debatte die allgemeine Aufmerksamkeit nicht fesselt, sieht sie mehr einer lärmenden Kaffeehausgenossenschaft ähnlich, als dem Gesetzgeberverein eines Weltreichs; denn dann ist laute Conversation überall, Lachen und Räuspern, und wer nicht schwatzt, schläft oder liest Zeitungen. Selbst die Minister, welche die oberste Bank rechts vom Sprecherstuhl einnehmen, und der Präsident plaudern mit, und nur wenn das Geräusch zu arg wird und den Redner stört, ruft jener mit Stentorstimme zur Ordnung. – Alle Redner sprechen von ihrem Platz aus, das Gesicht gegen den Präsidenten gerichtet, übrigens in ganz ungenirter Stellung: der eine den Hut auf dem Kopfe, der andere mit der Reitgerte gestikulirend, der dritte auf seinen Regenschirm gestützt; die meisten im Tone einer lebendigen Unterhaltung. Alle reden frei; nur bei Zahlenangaben wird es nicht für unschicklich gehalten, geschriebene Notizen zu benutzen. – Wenn jedoch eine Diskussion wichtige Staats- oder Partheifragen entscheiden soll, dann verwandelt sich die Scene. Alles wird Ohr und Aufmerksamkeit. Es treten die Wortführer der Meinungsnüançen nach einander auf, jede schickt ihre rednerischen Kräfte in den Kampf und streitet mit aller Anstrengung um den Preis. Ein solches Wechselringen der ersten Talente und umfassendsten Einsichten in einem großen Volke ist ein erhabenes Schauspiel und mit dem, was wir auf unsern Landtagen gewöhnlich sehen, eben so wenig zu vergleichen, als mit dem Redeablesen in der französischen Deputirtenkammer, wo die Scene zu einer theatralischen Vorstellung herabgezogen wird, in der man nichts als den Souffleur vermißt. Ich hörte Brougham, Canning, Grant, Peel, Burdett u. s. w. über die wichtigsten innern Interessen des Reichs und seiner äußern Politik ringen um die Mehrheit des Hauses vom Abend bis zum frühen Morgen, und bin nie von der Gallerie gegangen, ohne ein volles Maaß der Bewunderung mit hinwegzunehmen. Hieher sollte man unsere Landtagsdeputirten zur Schule schicken, damit sie ihrer Würde sich bewußt, zur Nacheiferung gespornt und für Ideale begeistert würden, an welchen sie sich halten, kräftigen, aufrichten könnten. Dann würde auch das constitutionelle Leben bald überall mehr zur Wahrheit werden, nicht aber noch da und dort eine Lüge seyn, die falsch und unwahr bis in’s Mark der Volksgebeine dringt, sich selbst betrügt und, so verwegen wie schlecht, das Ehrwürdigste, was die Erde trägt, zur Farçe macht. Oder ist’s nirgends also? Wer daran zweifelt, der schaue nur hin. Sieht er nicht in mehr als einem Lande die constitutionelle Freiheit zum Spott an dem Pranger stehen, und ist in manchem Staate Verfassungskunst etwas Besseres, als die Kunst, welche alle Menschen gleich macht in gemeiner Dienstbarkeit? Haben wir nicht offizielle Freiheitslieder aufspielen sehen, währenddem man jeden Widerspruch mit Hohn zu Boden tritt, den bescheidensten Zweifel hart [47] anläßt, und in jedem freimüthigen Worte eine weitumgreifende Verschwörung wittert? Sind manche Landtage mehr, als blaue Dunsterscheinungen, um die Zeit zu äffen? – Und selbst die besten, wie bleiben sie hinter demIdeal zurück! Bei allem Fond von Hausverstand und einer ehrenwerthen, billigen, dem Guten leicht zugänglichen Gesinnung, die namentlich der Mehrzahl deutscher Kammern innewohnt, wird’s ihnen doch so schwer, aus der Lehrzeit herauszugehen, und Philisterei, Unbeholfenheit, verkehrte Begriffe von Beruf und Würde und Mangel der Einsicht in das constitutionelle Leben finden fort und fort in den Verhandlungen Raum. – Dennoch aber, bei allen Mängeln und Principsfälschungen in den ständischen Verfassungen, sollen und dürfen wir nicht verkennen, daß sie im Ganzen eine große Masse des Guten wirkten. Fast überall, wo sie gelten, öffneten sie tiefe, belehrende Blicke in die scheußliche Vergangenheit, wo das Piacere der Fürsten als suprema lex gegolten; lüfteten sie den Schleier von den geheimen Uebeln, an welchen Staaten und Völker siechen; haben sie bessern Einrichtungen die Wege angebahnt, großen Mißbräuchen ein Ziel gesetzt, das Unwesen der Vergangenheit zu seinem Wendepunkte geführt, still und kaum merklich zum Genuß eines vollern Maaßes von Freiheit das Verlangen geweckt und die Völker dazu vorbereitet und vorgebildet. – Und darum sollen wir – wenn man auch noch da und dort in den Ständeversammlungen gar unlauteres Geschwätz vernimmt, und auf der andern Seite Regierungen sieht, emsig bestrebt, an den Kammern und ihren Gliedern alle Fälschungs-, Bestechungs- und Verführungskünste der Zeit zu üben und das Volk über Maaß und Geltung seiner Rechte zu verwirren – die Verfassungen doch als die beste Gabe der Zeit betrachten und die Quelle ehren, aus welcher sie alle schöpften. Diese ist Britanniens Magna Charta, und das britische Parlament der Ort, wo der Uranus der neuen Zeit zu zeugen anfing. Mag nun der alte Zeus donnern und Blitze schleudern, wie er will; keine Macht ist mehr vermögend, ihn gegen das neue Göttergeschlecht zu schützen. Er stürzt – und seine Herrlichkeit dient einst zum Mährchenstoff für unsere Enkel. –
Das alte Parlamentsgebäude brannte vor einigen Jahren nieder, und an dessen Stelle ersteht der neue Parlaments-Palast, der uns im Bilde so würdig und ansprechend vor’s Auge tritt. Er macht mit der nahen Westmünsterabtei, welche den Hintergrund ausfüllt, eine architektonische Gruppe voller Majestät. Der Styl beider Gebäude ist der gothische. Gegenwärtig ist der Palast fast bis zum Dache fertig, und nächstes Jahr kommt der äußere Bau zu Stande. Er allein wird über 4 Millionen Gulden kosten. Die Dekoration im Innern wird mittelalterlich gehalten, dabei voll Pracht. Es wird dies Gebäude, wie das frühere, beide Parlamente, das Ober- und Unterhaus, unter seinem Dache vereinigen.
Am Bauplane selbst wird nur ein Mangel gerügt, und dieser ist ein so augenfälliger, daß man nicht begreift, wie er bei der Anlage außer Acht bleiben konnte. Die gewählte Stelle liegt nämlich so tief, daß die [48] Souterrains, wo die Archive hinkommen sollen, bei sehr hohem Wasserstand der Themse vor Ueberschwemmung nicht sicher sind. Hätte man den Bau auf einen Sockel mit Stufen gestellt, so wäre die Gefahr vermieden und der Prachtbau selbst hätte an Majestät noch viel gewonnen. Trotz dieses Fehlers, der nie wieder gut zu machen ist, wird dennoch der Palast eine der schönsten Zierden Londons werden, sowie er unstreitig das nobelste Gebäude ist, welches die neuere Zeit im gothischen Styl irgendwo hervorgebracht hat.
Möge zu Albions Glück und Ruhm der gute Geist, der vorzugsweise in dem alten Hause waltete, auch diesem neuen, schönern innewohnen! Möge zumal im Saale der Gemeinen der Geist der Freiheit, des Rechts und der Billigkeit den Gesetzgebern Wort, Hermesschlüssel und Schlangenstab bieten, um für Volks- und Menschenwohl die Gegenwart zu berathen, die Zukunft zu besprechen, die besprochene aufzuschließen und die erschlossene weise zu beherrschen! Möge im Saale der Lords die Weisheit rechtzeitiger Selbstbeschränkung nicht fehlen und die Einsicht von dem, was die Zeit unumgänglich fordert und unvermeidlich herbeiführt! Wird dort nicht bald freiwillige Gestattung Dessen, was der Nation nach Recht und Billigkeit zukommt, wie leicht möchte dann die Stunde nahe seyn, wo sie zehnmal mehr an sich reißt, als das ist, was sie jetzt befriedigen kann, wenn man der Weisheit folgt und dem Rathe der Auguren, der, Allen leserlich, am Zifferblatt der Zeit geschrieben steht. – Wehe euch, wenn euere Habsucht, die Alles errafft hat, jetzt noch den Geiz zum Hüter der gesammelten Schätze behält, und ihr den Rath der Billigkeit schnöde wegzuweisen fortfahrt! Denkt nicht daran, daß verstärkte Spannung die Schnellkraft fesseln könne: Erdbeben könnt ihr wohl machen durch fortgesetzten Widerstand, nicht die tobenden Volkselemente der Tiefe damit beruhigen. Die Rechte, welche das englische Volk in seiner Magna Charta erworben, sie sind Mächte geworden, und wenn ihr gehorsamste Bitten und unterthänige Gesuche von Millionen wie bisher ad acta dekretirt, so werden bald bewaffnete Hunderttausende Beschlüsse fassen ohne euch. Dann wird Fieberhitze die halbe Welt ergreifen, und es werden die Fürsten in Congressen zusammenstehen, aber die Krankheit nicht heilen. Ströme Bluts werden über die Magna Charta und über andere Verfassungen rauschen, das Schwert des Stärkern wird die Brücke seyn zum Uebergang in eine neue Zeit; die Autorität wird zur Magistratur zusammenschrumpfen, alles Urkundliche des Besitzes oder Rechts wird untergehen, und nur durch eine neue Theilung von Eigenthum und Pflichten wird Entwirrung und ein Ausweg aus dem Chaos vielleicht möglich werden.
Unwillkürlich ist das Schreckbild meinem Gesichtskreise entstiegen: – von dem Geiste, der in dem neuen Parlamentshause zur Herrschaft kommt, wird es abhängen, ob es sich verwirkliche, oder, zum Glück Britanniens und zum Glück Europa’s, bleibe, was es jetzt ist – ein leeres Phantom! –