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breit und bequem, aber schmucklos. Hier sitzen die Parlamentsglieder, die verschiedenen Meinungsnüançen um ihre Führer geschaart, in den ungezwungensten Stellungen, in gewöhnlichem Ueberrock und Stiefeln, den Hut auf dem Kopfe, oder den Regenschirm unterm Arm. Das Ensemble der Versammlung ist alles Ceremoniellen ledig, und wenn eben die Debatte die allgemeine Aufmerksamkeit nicht fesselt, sieht sie mehr einer lärmenden Kaffeehausgenossenschaft ähnlich, als dem Gesetzgeberverein eines Weltreichs; denn dann ist laute Conversation überall, Lachen und Räuspern, und wer nicht schwatzt, schläft oder liest Zeitungen. Selbst die Minister, welche die oberste Bank rechts vom Sprecherstuhl einnehmen, und der Präsident plaudern mit, und nur wenn das Geräusch zu arg wird und den Redner stört, ruft jener mit Stentorstimme zur Ordnung. – Alle Redner sprechen von ihrem Platz aus, das Gesicht gegen den Präsidenten gerichtet, übrigens in ganz ungenirter Stellung: der eine den Hut auf dem Kopfe, der andere mit der Reitgerte gestikulirend, der dritte auf seinen Regenschirm gestützt; die meisten im Tone einer lebendigen Unterhaltung. Alle reden frei; nur bei Zahlenangaben wird es nicht für unschicklich gehalten, geschriebene Notizen zu benutzen. – Wenn jedoch eine Diskussion wichtige Staats- oder Partheifragen entscheiden soll, dann verwandelt sich die Scene. Alles wird Ohr und Aufmerksamkeit. Es treten die Wortführer der Meinungsnüançen nach einander auf, jede schickt ihre rednerischen Kräfte in den Kampf und streitet mit aller Anstrengung um den Preis. Ein solches Wechselringen der ersten Talente und umfassendsten Einsichten in einem großen Volke ist ein erhabenes Schauspiel und mit dem, was wir auf unsern Landtagen gewöhnlich sehen, eben so wenig zu vergleichen, als mit dem Redeablesen in der französischen Deputirtenkammer, wo die Scene zu einer theatralischen Vorstellung herabgezogen wird, in der man nichts als den Souffleur vermißt. Ich hörte Brougham, Canning, Grant, Peel, Burdett u. s. w. über die wichtigsten innern Interessen des Reichs und seiner äußern Politik ringen um die Mehrheit des Hauses vom Abend bis zum frühen Morgen, und bin nie von der Gallerie gegangen, ohne ein volles Maaß der Bewunderung mit hinwegzunehmen. Hieher sollte man unsere Landtagsdeputirten zur Schule schicken, damit sie ihrer Würde sich bewußt, zur Nacheiferung gespornt und für Ideale begeistert würden, an welchen sie sich halten, kräftigen, aufrichten könnten. Dann würde auch das constitutionelle Leben bald überall mehr zur Wahrheit werden, nicht aber noch da und dort eine Lüge seyn, die falsch und unwahr bis in’s Mark der Volksgebeine dringt, sich selbst betrügt und, so verwegen wie schlecht, das Ehrwürdigste, was die Erde trägt, zur Farçe macht. Oder ist’s nirgends also? Wer daran zweifelt, der schaue nur hin. Sieht er nicht in mehr als einem Lande die constitutionelle Freiheit zum Spott an dem Pranger stehen, und ist in manchem Staate Verfassungskunst etwas Besseres, als die Kunst, welche alle Menschen gleich macht in gemeiner Dienstbarkeit? Haben wir nicht offizielle Freiheitslieder aufspielen sehen, währenddem man jeden Widerspruch mit Hohn zu Boden tritt, den bescheidensten Zweifel hart