Das Wupperthal als Hort der Orthodoxie

Textdaten
<<< >>>
Autor: Fritz Dannemann
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Wupperthal als Hort der Orthodoxie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 46–48
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[46]

Das Wupperthal als Hort der Orthodoxie.
Ein Culturbild von Fritz Dannemann.

Das reichbevölkerte, intelligente Wupperthal hat sich schon seit Jahren durch die Ausdehnung und Mannigfaltigkeit seiner Industrie einen geachteten Namen erworben; Wohlhabenheit und bürgerlicher Gemeinsinn gehen dort zumeist Hand in Hand und haben für die Bildung des Herzens und des Geistes manche schöne Anstalt in’s Leben gerufen. Die Organisation des Armenunterstützungswesens z. B. dürfte in ihrer zweckdienlichen und spendungsreichen Einrichtung wohl kaum ihres Gleichen haben und hat schon mancher Gemeinde als mustergültiges Vorbild gedient. Daneben ist aber auch eine zu mächtigem Einflusse gelangte Eigenthümlichkeit gezeitigt worden, welche nirgendwo anders in gleicher Stärke sich bemerklich macht und bereits von den bedenklichsten Culturerscheinungen begleitet gewesen ist. Ich meine die dem kirchlichen Sinne der Wupperthaler Bevölkerung entsprungene pietistische Richtung, welche dem Mysticismus Thür und Thor geöffnet hat und in ihrer verknöcherten Orthodoxie geradezu einzig dasteht. Man könnte ja nach dem Ausspruche des großen Friedrich, „Jedermann nach seiner Façon selig werden zu lassen“, auch jenen wunderlichen Heiligen eine gewisse Existenzberechtigung einräumen, wenn diese sich nicht auf Kosten einer gesunderen Entwickelung unseres vorwärts drängenden Staats- und Gesellschaftslebens breit zu machen drohte. Dieser Umstand kennzeichnet aber eben die Gemeingefährlichkeit dieser Richtung, welche gleich der ultramontanen allenthalben nach unbeschränkter Herrschaft nicht allein auf kirchlichem, sondern auch auf communalem und staatspolitischem Gebiete trachtet und unter der unseligen Mühler’schen Aera bekanntlich schon ihre reactionären Orgien feierte. Glücklicher Weise sind diese Tage vorüber, daß aber jene Partei der „Stillen im Lande“ mit unermüdlichem Fanatismus an dem Wiederaufbau ihrer gestürzten Autorität arbeitet, sahen wir deutlich an der jüngsten Wahlbewegung zu Gunsten einer sogenannten deutsch-conservativen Partei. Wir haben also ganz besondere Ursache, der Agitation jener Finsterlinge auf die Finger zu sehen.

In der That aber ist es etwas Wunderbares um die weitsichtige Taktik und rührige Parteidisciplin der vielberufenen Sippe, aus welcher uns das umstehende humoristische Blatt einer genialen Künstlerhand einige originelle Typen so wahr und drastisch vor Augen führt. Diese Leutchen, welche mit Vorliebe im abgeschlossenen Dunkel ihrer Häuslichkeit brüten und nur an Sonn- und Festtagen in dichten Reihen sich um die Kanzel ihrer unfehlbaren Gemeindepäpstlein schaaren, oder abendlich zur biblischen Erbauung, respective Gebetsandacht ihren Vereinshäusern zuströmen, wie oft sah ich sie nicht auch bei rein weltlichen Vorkommnissen, als welche doch politische und communale Wahlen zu gelten haben, allenthalben auf leisen Sohlen emportauchen und ihre geräuschlose, aber einheitliche und darum erfolgreiche Thätigkeit mit unermüdlichem Eifer in's Werk setzen! Da fehlte auch nicht ein Einziger, und sie waren stets auf das Genaueste vom Stande der Dinge unterrichtet, kannten die Namen und Schwächen ihrer Gegner, die sie mit unvergleichlicher Ausdauer und Geschmeidigkeit im Stillen auszunutzen verstanden, und hatten bereits den Sieg in Händen, wenn jene noch von dem ihrigen zu fabeln wußten.

Eben diese stille und schleichende Weise des Kampfes macht die professionsmäßig „frommen“, anscheinend so harmlosen Mitbürger zu den gefährlichen Strategen in unserem Culturstreite. An ihren Erfolgen mögen wir unsere fahrlässige Halbheit und Saumseligkeit erkennen; denn in geschlossener Phalanx stehen sie allezeit gerüstet, einig und unentwegt auf ihrem Posten, auf lächelnden Lippen das wunderwirkende Schlagwort: „Zur Ehre des Herrn!“ Man unterschätze sie also nicht, jene Grenadiere der evangelischen Orthodoxie! Sie sind wahrlich nicht minder furchtbar als die wohldisciplinirten Jesuitensoldaten der streitbaren römischen Kirche. „Sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen“, dieses Princip ihres socialen Verhaltens hat auch ihrer äußeren Erscheinung jene merkwürdige Signatur aufgedrückt, welche sie von den gewöhnlichen Weltmenschenkindern auf den ersten Blick unterscheiden läßt. Ich zeichne hier genau nach dem Leben. Diese unbeschreibliche Vermischung von Demuth und Verschmitztheit, Naivetät und Sinnlichkeit, Entsagung und Anmaßlichkeit finden wir ausschließlich nur auf den Gesichtern der Trabanten und Leibeigenen der Orthodoxie.

Charakteristisch ist auch bei Männern und Frauen dieser Richtung das eigenthümliche Festhalten an dem sogenannten altfränkischen Toilettengeschmack, der bei den Frauen bis zu einer seltsam zwanglosen Einfachheit des Schnittes der Kleider, der Frisur, der Kopfbedeckung etc. geht, bei den Männern in der bis zur Komik übereinstimmenden Neigung zu jenen veralteten Hüten und langschößigen Röcken besteht, die sie in der Regel über die tadellos blanke Wäsche bis unter das glatt rasirte, auf einer steif gewundenen Cravatte ruhende Kinn zuzuknöpfen pflegen. Die Bewegung des Kopfes und Halses hat in Folge dieser stabilen Einschnürung etwas Schildkrötenartiges und Müdes bekommen, neigt meist ein wenig zur Seite und mag ihnen deshalb im Munde des Volkes wohl hauptsächlich den spöttischen Beinamen „Kopfhänger“ eingetragen haben. Noch allgemeiner und ortsgebräuchlicher ist eine andere Bezeichnung, man nennt sie hier nämlich die Kaste der „Feinen“ (plattdeutsch: „Fienen“), weil sie sich im Gegensatz zu der ehrlich-derben Ausdruckweise der Lebe- und Weltmenschen durchgehends einer salbungsvollen, vorsichtig gewundenen, oft doppelsinnigen und symbolischen Rede bedienen, wie sie das tägliche Lesen von kirchlichen Erbauungsschriften, überspannten Predigten und der Verkehr mit pathetisch angelegten Pastoren und Zionswächtern nothwendig erzeugen muß.

Je ausgewählter und erleuchteter nun die Qualität irgend einer Sippe der großen „Gemeinschaft im Herrn“ heranreift, um desto überschwänglicher wird auch der wunderlich-mystische Sprachschatz der also vom heiligen Geiste Begnadeten in die Erscheinung treten. In den sogenannten „Brüdergemeinden“ z. B. ist diese apostelartige Erleuchtung schon so allgemein geworden, daß die Herren Seelsorger sich häufig der Mühe des Predigens überhoben sehen, sintemalen die inspirirten Gemeindeglieder an ihrer Statt die Kanzel besteigen und mit wunderbarer Beredsamkeit den glaubenseifrigen Zuhörern das Wort des Herrn verkünden. Die sogenannten „Heidenmissionäre“ gehen fast ausschließlich aus dieser hochbegnadeten Kaste erleuchteter Autodidakten hervor. Man muß ihre süßlich exaltirten Berichte hören, ihre den ultramontanen Legendenspuk vollständig in Schatten stellenden Missions-Tractätchen lesen, um sich einen richtigen Begriff von der bizarren Ausdrucksweise solch wunderlicher Menschennaturen zu bilden. Ein gewisser abenteuerlicher Hang, sowie die Aussicht auf eine gut dotirte, bequeme Versorgung treibt die noch jugendlichen Streber mit der inzwischen erkorenen, gleichgestimmten Gattin nach den entlegensten Zonen und Gestaden hinaus, wo sie als „Apostel christlicher Cultur“ ihre Stimmen erheben und nebenbei „klug wie die Schlangen“ die armen Heidenschafe zu scheeren wissen.

Die Missionsfeste bilden einen wesentlichen Bestandtheil des Programms der Wupperthaler Festwoche, welche in Elberfeld und Barmen regelmäßig in den Hundstagen mit einer gewissen Ostentation in Scene gesetzt wird, deren Theilnehmer alsdann gleich Ameisenhaufen von Nah und Fern herbeiströmen und sich zu christlicher Erbauung um ihre Heiligen und Zionswächter versammeln. Es ist unstreitig das bunteste, eines Genremalers würdige Stelldichein orthodoxer Pastoren und Pädagogen, hochchristlicher Geschäftsleute und Familienväter, heilskräftiger Jünglinge und Jungfrauen blühenden und vorgerückten Alters (letzteres namentlich unter dem „ewig Weiblichen“ in erstaunlicher Menge und verschiedener Spielart vertreten). Sie bildet eben die schon lange herbeigesehnte Brücke zu allerlei Geschäfts- und Familienverbindungen, zu neuen conservativen Gründungen im Herrn etc., und nach der Andacht thun sich die mehr oder weniger harmonisch Gestimmten zu jenen „erheiternden Gesprächen fröhlicher Gotteskinder zusammen, welche der frivole Volksmund schnöder Weise als „frommen Klatsch“ bezeichnet. Sei dem nun wie ihm wolle, wer unter die Lupe dieser „erheiternden Gespräche“ geräth, der wird bald so durchsichtig wie die Lupe selbst; es bleibt keine Naht, kein Faden mehr an ihm verborgen; in Herz und Nieren dringt der gemeinsam verschärfte und prüfende Blick, dem kein Fleckchen, kein Federchen [47] entgeht, und wehe den unseligen, unbußfertigen, verstockten, in eitler Weltlust schwelgenden, den heillosen Spöttern und Glaubensverächtern im hochnothpeinlichen Halsgericht dieser gottselig „erheiternden Gespräche“! Ueber ein Kleines wird den vervehmten Schächer die Zuchtruthe des Herrn ereilen, unfehlbar und sicher im Pfuhl seiner Sünden, dann muß offenbar werden, ob noch ein gutes Haar an ihm ist, ob er ein Sohn Belial's oder einer von Jenen, über den mehr Freude und Wohlgefallen entsteht, denn über tausend Gerechte.

Eine scharf ausgeprägte patriarchalische Eigenthümlichkeit der allerfrömmsten „Gemeinschaft im Herrn“ ist jedenfalls ihr fein organisirter Erwerbssinn; sie sammeln und heimsen mit bienenemsiger Freudigkeit und solch erschöpfendem Nachdrucke, daß, wo sie einmal geerntet haben, auch in der Regel kein Gras mehr wächst. In der sophistischen Auslegung des bürgerlichen Rechts nicht minder bewandert als im Labyrinth der Offenbarung Johannis, werden sie nur höchst selten einen Proceß verlieren, niemals einen geschäftlichen Fehlgriff thun, und der unter ihnen so beliebte tröstliche Zuspruch „der Herr giebt’s den Seinen im Schlafe“ zeigt uns die patriarchalische Segensfülle jener „Auserwählten“ recht eigentlich in ihrer überschwenglichsten Macht. Man beobachte nur, mit[WS 1] welch praktischem Scharfblicke sich der „christliche Jüngling“ unter den Töchtern seiner Sippe umthut, wie rasch und sicher er dem Hafen der Ehe und einer behäbigen Existenz zusteuert! Wie die angesäuerte „Schwester im Herrn“ mit ihren lieben Sparcassenbüchlein und Kuxen einen melancholisch-erleuchteten Hagestolz beglückt! Ja, es geht nichts über die Kaffee-Visiten eines frommen Vereinshauses mit ihren erbaulich forschenden und erheiternden Gesprächen in der Wupperthaler Festwoche. Die süße Herzlichkeit der „Begrüßung im Herrn“ räumt schon alle conventionellen Schranken hinweg; der christlich warme Händedruck, sowie der liebliche Bruder- und Schwesterkuß schmilzt die Seelen zu ahnungsfreudigem Verständnisse.

Doch geben wir Etliches aus jenen Kanzelvorträgen zum Besten, die mit geringen Abweichungen stets in derselben Tonart an das gottselige Gemüth der Versammlung appelliren! Die frommen Herrschaften werden mir’s Dank wissen, daß ich die Gedankenfruchtbarkeit ihres „himmlischen Mannas“ an dieser Stelle auch auf einem „dürren und steinigten Arbeitsfelde“ wirken lasse. Ich folge dabei wörtlich ihrem christlichen Organe, genannt „Mittheilungen der evangelischen Gesellschaft für Deutschland“ (sechsundzwanzigster Jahrgang). Es sind da nämlich im fünften Hefte (1876) folgende Auferstehungsgedanken verzeichnet:

„Die Auferstehung Jesu, in der sein irdischer Schwachheitsleib in die Unverweslichkeit und Herrlichkeit Gottes verklärt worden ist, bürgt uns dafür, daß er auch den Leib seiner Gläubigen, die er seine Brüder und Schwestern nennt, erneuern und seinem Leibe ähnlich machen wird. … Seht, der Gläubige bekommt aus dem verklärten Leibe Jesu durch das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes im Worte und Abendmahle, durch das Anziehen seiner göttlichen Natur im heiligen Geiste einen inwendigen Geistleib um seine Seele, einen göttlichen Bau, der ihn im Tode nicht verläßt, der seine Behausung ist: sowie die Erdenhülle im Sterben von ihm abfällt, so umgiebt ihn diese Behausung, diese Himmelshülle, die nun offenbar wird und an's Licht tritt. Der äußere Leib ist aber ein wesentlicher Bestandteil des Menschen: der Mensch besteht aus Geist, Seele und Leib; wir sind nach Geist, Seele und Leib im Bilde Gottes erschaffen; das ist nun der Triumph des Erlösungswerkes Christi, daß er auch unser verderbtes Hüttenhaus, unseren nichtigen verweslichen Demüthigungsleib erneuert und in die Herrlichkeit nachholt. Bis dahin ist die Seele auch im Paradiese noch in einem Wartezustande. Die Seele verlangt nach ihrem Leibe, nach Auferweckung und Erneuerung ihres Leibes.“[1]

Dieselbe Nummer der von Herrn Rinck, Pastor der ersten lutherischen Kirche Elberfelds, redigirten „Mittheilungen“ tischt dann noch Folgendes „Ueber die jetzige Lage in Deutschland“ auf: „Zu keiner Zeit hat die amtliche Schönfärberei in einem grelleren Gegensatze zu der wirklichen Lage der Dinge gestanden als heute. Der Liberalismus rühmt sich, der Träger von Licht, Recht, Freiheit und Sittlichkeit zu sein, und überall brechen unter seinem Regimente die scheußlichsten Krebsgeschwüre auf, die in einen bodenlosen Abgrund von Halbbildungs-Verdummung, Rechtsverachtung, Rohheit, Gottlosigkeit und Mangel an dem gewöhnlichsten Ehrgefühle blicken lassen. Wohin wir uns wenden, überall derselbe trostlose Eindruck von Verfall, Rückgang, Auflösung. Nie hat die Gesetzesfabrikation so riesige Actenstöße aufgehäuft, allein Alles ist unfruchtbar, das Facit immer ein Minus; für die geistige und sittliche Erhebung des Volkes kommt nichts heraus. Unser nationales Leben wird immer mehr zur wüsten Einöde etc. .“

Die Sammlungen für die Mission, gegen welche der Peterspfennigbettel reines Kinderspiel, sind in der drückenden Zeit etwas mager ausgefallen; da wird denn in den „Mittheilungen“ über die Gebetsversammlungen Londoner Banquiers folgender Wink mit dem Zaunpfahle gegeben: „Haben sie hier himmlische Gaben empfangen, so lernen sie den Geiz überwinden und dem Herrn mit ihrem irdischen Besitze dienen. – Als wesentlichstes Mittel beim Seelenfange dient die Colportage und Weihnachtsbescheerung in den Sonntagsschulen, weil sie den Brüdern Eingang in die Familien verschafft; so sind Tausende von Tractaten u. A. auch an Katholiken vertheilt worden. Einer der Brüder hat die Casernen durchcolportirt; ein anderer stand mit seinen Schriften auf dem Markte aus. Viel Gewicht wird auf die Hausbesuche gelegt, da sich die meisten der verlorenen Seelen nicht immer suchen und retten lassen wollen. Resumé: 300 Bibel- und Besprechstunden, „vielfach reichgesegnete Quartalfeste“, dito Gebetsstunden, „oft so erquickliche Gebetsvereinigungen, von denen gewiß mancher Segen in den betreffenden Gegenden herrührt“, reiche Erträge der Frauen- und Jungfrauenvereine, welch letztere fast ausschließlich für die Heidenmission arbeiten. Die Cassenverhältnisse liegen augenblicklich „nicht ganz günstig“, aber es wird betont, „daß trotz der ungünstigen Zeitverhältnisse, des Nichtvorhandenseins eines Budgets und größerer fester Einnahmen 29,000 Mark zusammengekommen sind“.

Es läßt sich denken, daß eine Gesellschaft solch exemplarischer Heiliger die Augen stammverwandter Verbindungen in der Ferne auf sich zieht. So soll die „evangelische Allianz“, welche zuletzt in New-York zusammentrat, dann in Jerusalem oder Rom, Edinburgh, Berlin oder Paris tagen wollte, im Wupperthale abgehalten werden, obschon sich die Pariser Freunde schon darauf gefreut hatten, bei dieser mit der Weltausstellung zusammengetroffenen Gelegenheit „sowohl Christen als auch andere Menschen“ in ihren Mauern zu sehen. – Nicht weniger kann es uns wundern, wenn unsere Frommen auf eine möglichst strenge Handhabung der sogenannten „Sonntagsheiligung“ bedacht sind. Als die „rheinisch-westfälische Gefängnißgesellschaft“ am 21. und 22. Juni dieses Jahres in Düsseldorf ihr fünfzigjähriges Bestehen feierte, sagte Herr Pastor Schröter vom Berliner Zellengefängniß nach einem Berichte der „N. ev. Kztg.“: „Wo die Sonntagsheiligung entschwunden, da hofft man vergeblich auf Achtung vor Gesetz und Obrigkeit. Mit dem sittlichen Ruin geht der physische wie materielle Hand in Hand – und der Verbrecher ist fertig. Der indirecte Zusammenhang zwischen Sonntagsentheiligung und Selbstmord liegt klar vor Augen. Namentlich Körperverletzung, Todtschlag. Unzucht und Notzucht sind häufige Sonntagsverbrechen. Mit der fortschreitenden Bildung nimmt die Zahl der Verbrechen zu, sowie es eine traurige Erfahrung ist, daß die literarisch Gebildeten verhältnißmäßig sehr stark bei den Verbrechen betheiligt sind.“

Obwohl vielleicht selten so große Worte gelassener und zugleich beweisloser ausgesprochen sein mögen, beauftragte die Versammlung dennoch ihren Ausschuß, die königliche Staatsregierung auf den Zusammenhang zwischen Sonntagsentheiligung und Verbrechen hinzuweisen und um strengere Wahrung der Sonntagsgesetze zu bitten. –

In solch trüben Tagen thut's den bekümmerten Herzen der „Stillen im Herrn“ gar wohl, wenn ein „vielgeprüfter und bewährter Bruder“ unter sie tritt und mit Worten lieblicher Tröstung ihre im Kampfe ermattenden Seelen erquickt. Ein solch „auserwählter Mann Gottes“, ein „Reiseprediger“ nach dem Herzen der orthodoxen Bibelhelden, ist nämlich ein gewisser Herr Georg Müller, dessen Erscheinen uns Pastor Rinck in seinen „Mittheilungen in einem frohlockenden „Georg Müller in Bristol und seine Werke“ überschriebenen Artikel ankündigt. „Da Georg Müller bald unser Wupperthal zu besuchen gedenkt,“ [48] erzählt Pastor Rinck, „ist es wohl Vielen erwünscht, an sein Leben, seine Glaubens- und Liebeswerke erinnert zu werden.“ Er ist im Jahr 1805 geboren; wenn er von seinem Jugendleben berichtet, so lautet das gar nicht fein. Seinem Vater gegenüber, der Steuereinnehmer zu Heimersleben (Sachsen) war, blieb er nicht immer auf geradem Wege, wenn es galt von anvertrautem Gelde Rechenschaft abzulegen. Georg Müller begann seine Studien auf dem Gymnasium in Halberstadt, blieb aber ein leichtfertiger Patron, der meist nur Romane las und allerlei sündlichen Gewohnheiten fröhnte. Seinem Seelenhirten, der ihm den Confirmationsunterricht ertheilt hatte, veruntreuete er die ihm vom Vater bestimmte Gebühr. Durch sein üppiges Leben kommt er in solche Noth, daß er einem in demselben Hause einquartierten Soldaten das harte Commißbrod entwendet. Dann hilft er seinem Vater einen Bau beaufsichtigen und verjubelt die eincassirten Gelder auf heimlichen Vergnügungsreisen. So geht's fort, bis der sechszehnjährige Jüngling als Vagabond auf vier Wochen in's Gefängniß gesteckt wird. Sein Vater erlöst ihn aus der Haft, bezahlt seine Schulden und übergiebt ihn der strengeren Zucht des Gymnasiums zu Nordhausen im Harz, wo er im Hause des Directors wohnt und emsig studirt. Aber seiner geheimen Sünden sind noch so viele, daß er ernstlich erkrankt. Am Schluß seines Lotterlebens in Nordhausen spielt er eine Komödie, als ob ihm der Koffer erbrochen und alles Geld gestohlen worden, worauf einige Freunde ihm die angeblich gestohlene Summe ersetzen. Als Mitglied der Halleschen Universität bekommt er sogar das Recht, in den lutherischen Kirchen zu predigen. Vorsätze für ein eifriges Studiren, „damit ihm eine gute Pfarrei nicht entgehe“, faßt er wohl, bald aber verpfändet er seine Habe und borgt Geld, wo er's bekommen kann. Durch schlechte Lebensweise wird er abermals krank; kaum genesen, unternimmt er mit einem Freunde eine Lustfahrt, wozu sich Beide das Geld durch Verpfändung ihrer übrigen Habe verschaffen. Dann reisen sie in die Schweiz. Müller hatte Geld und Pässe besorgt, ersteres durch Verpfändung ihrer Bücher, letztere durch gefälschte Briefe. Müller führt die gemeinsame Casse und veruntreut, wie Judas, einen Theil des ihm anvertrauten Geldes. Nach der Rückkehr kommt er zufällig in das Haus eines christlichen Handwerkers; man setzt sich und singt ein geistliches Lied; dann betet ein christlicher Bruder. „Schon das Niederknieen, versichert Herr Pastor Rinck, „machte einen tiefen Eindruck auf unsern Freund.“ Nach der gelesenen Predigt sang man wieder, und der Hausherr betete. Dieser Abend war der Wendepunkt in Müller's Leben. Missionsblätter weckten in ihm den Gedanken, selber ein Missionär zu werden, aber Verschiedenes trat ihm in den Weg, zuerst eine vorübergehende, aber intensive Neigung zu einer frommen Jungfrau, „durch welche sein Gebet gehemmt wurde“, dann fand er bei seinem Vater äußersten Widerstand. Drei Jahre lang mußte er sich kümmerlich durchschlagen, bis ihm sein Vater die Einwilligung zum Eintritt in’s Seminar der Londoner Judengesellschaft gab. Bald verließ er dasselbe, um sich ganz der „Reisepredigt und Seelenrettung“ zu widmen, wurde an die Spitze einer Gemeinde dieser Richtung nach Bristol berufen und heirathete die Tochter eines persischen Missionärs. Herr Pastor Rinck schließt seinen Roman mit den Worten: „Obschon Müller keinen festen Gehalt bezog, sondern nur von dem lebte, was ihm für den persönlichen Unterhalt in's Haus geschickt wurde, hat es ihm doch nie am Nöthigen gefehlt.“

Einen Blick noch vergönne man mir auf die in den evangelischen Vereinshäusern versammelten Genossen der Wupperthaler Festwoche. An der Festtafel treffe ich die streitbaren Kämpen alle wieder, welche sich bei uns um ihres Aposteleifers willen schon einen Namen gemacht haben. Da sind die wackeren Barmer Pastoren, welche unlängst auf eine Publication des Theater-Comités mit ihrer stolzen Namensunterschrift geharnischten Protest dagegen erhoben, daß die deutsche Bühne als eine Bildungsstätte des Volkes zu betrachten und deshalb unterstützt werden müsse, dieselben Herren, welche immerdar geneigt sind, jede nichtkirchliche und ohne ihre Erlaubniß und Mitwirkung in Scene gesetzte öffentliche Festlichkeit als „Blendwerk des Satans“ und sündhaften Sinnenrausch zu verdammen. Und dort unter den Elberfelder Kirchenlichtern die eifervolle Gesellschaft jener Prädestinations- und Bekenntniß-Gläubigen, unter deren Regiment einst die weltbekannten Erweckungen im städtischen Waisenhause jener Stadt spielten, jene an den unglücklichen Kindern unbarmherzig geübte Entbehrungsquälerei und Gebetsdressur mit ihrem Gefolge krankhafter Hallucinationen und epileptischer Anfälle. Da sitzt auch der Mann mit dem starren, strengen Gesicht, der in seinem Kirchenblättlein und von der Kanzel herab die Apostel des reinsten Menschenthums, unsere Dichterheroen Goethe und Schiller als Heiden, das Schillerjubiläum aber als einen verabscheuenswerthen Götzendienst bezeichnete, welcher den Zorn des Himmels herausfordere; ein frommer Mann, der seinem sterbenden Kinde die trostreichen Worte zurief: „Gebete und gute Werke sind nichts vor dem Herrn; wenn Du zur Verdammniß geboren bist, dann fährst Du zum Teufel, mein Sohn.

Ein geistlicher Herr mit dem trotzigen, selbstgefälligen Lächeln um die blassen, fleischlosen Lippen ist mir ebenfalls bekannt; er beschäftigte noch vor wenig Monden die Väter der Stadt Elberfeld in ernster Debatte. Im dortigen Krankenhause hatte er die beklagenswerthen Insassen derart mit seinem geistlichen Zuspruch behelligt, daß ihm auf Antrag der Medicinal-Commission ein- für allemal der Besuch des Hospitals untersagt werden mußte. Hier erheben sich auch diejenigen Herren zu salbungsvoller Rede, welche es durchzusetzen wußten, daß die Eröffnungsfeier der neuen städtischen Gewerbeschule – eine öffentliche Anstalt, an der Schüler aller Confessionen Theil haben sollen und in welcher das kirchlich-pädagogische Programm wahrlich nur eine höchst untergeordnete Bedeutung zu beanspruchen hat – mit demonstrativ orthodoxem Pompe in Scene gesetzt werden durfte. Da sind ja auch die beiden frommen Presbyter, welche mit den Criminalgerichten in sehr nahe Berührung gekommen und von diesen bestraft worden sind. Doch wie könnte das ihrer orthodoxen Würde schaden, es waren eben „Prüfungen im Herrn“, die mit christlichem Anstande ertragen wurden und nun glücklich überstanden worden sind. Dort der hagere Priester einer hiesigen lutherischen Gemeinde, welcher bei jeder Gelegenheit mit eindringlich-beweglicher Stimme die „conservative Zusammengehörigkeit aller Gläubigen im Herrn“ betont und mit seinen Parteigenossen erst jüngst in der „Kreuzzeitung“ sich gegen die „reformfreundliche Politik“ des Reichskanzlers erklärte; er ist das streitbarste Rüstzeug anmaßlicher Pfaffennoffensive und eng verwandt mit den welfischen und ultramontanen Antipoden unseres modernen Staatslebens. Doch stille! Die Orgel braust; Posaunen erdröhnen, und die Glocken läuten von den Thürmen der hier versammelten Gemeinden und Secten. Ich höre das alte Kirchenlied:

„Wachet auf! ruft uns die Stimme
Des Wächters von der hohen Zinne,
Wach’ auf, wach’ auf, Jerusalem!“

Ja wohl, ich kenne dieses – Jerusalem. Es ist nicht das Jerusalem, welches die Gartenlaube und ihre Anhänger suchen. Die Leser dieses Blattes wissen, daß wahrer Religion, der Religion der Humanität und des gesunden Denkens, an dieser Stelle stets das Wort geredet worden. Ich schließe daher im Hinblicke auf die Gemeinschaft jener „Gläubigen“, welchen dieser Artikel galt, mit dem Wunsche: Und erlöse uns von dem Uebel! Amen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mir


  1. Daher die Leichenverbrennung auch als ein „Werk des Teufels“ zu verdammen ist.
    Der Verfasser.