Textdaten
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Autor: H. Ehrlich
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Titel: Das Wiener Chormadel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 200–203
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Pauline Lucca
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Das Wiener Chormadel.


An einem Sonntage des Jahres 1856 – wir erzählen nur Wahres, nichts Gemachtes – wenige Minuten vor zehn Uhr Vormittags, herrschte auf dem Chore der Karlskirche in Wien große Unruhe und Verwirrung. Das Hochamt und die dabei auszuführende Musikmesse sollte beginnen; die berühmte Hoftheater-Sängerin T. hatte versprochen, während des Offertoriums ein religiöses Solo zu singen; fromme und neugierige Gläubige füllten die Kirche, als plötzlich von der sehnsüchtig Erwarteten die Schreckenskunde kam, sie wäre krank und könne nicht erscheinen. War ihre Gesundheit wirklich angegriffen? Hatte ihr der Applaus im Theater am vorigen Abende nicht donnernd genug geschienen? Glänzten gestern die Edelsteine im Schmucke einer Rivalin noch blendender als in dem ihren? Wer vermochte hierüber Kunde zu geben?! – genug, sie kam nicht, und die versammelten Gläubigen sollten sie nicht hören. – Aber die Messe mußte beginnen; es fehlte nur noch eine Minute bis zehn Uhr, der Priester sah hinauf zum Capellmeister, dieser blickte nach dem Regens chori, der glotzte auf den Organisten und dieser warf bekümmerte Blicke auf die Choristen und Musiker, die unter einander flüsterten. Da plötzlich schien der Regens chori von einer Eingebung erleuchtet – er eilte auf den Capellmeister zu, sprach einen Augenblick eifrig mit ihm; dieser schüttelte den Kopf, wie Einer, dem das, was er eben hörte, sehr curios vorkam – doch er hob den Tactstock und „Kyrie Eleison“ schallte durch die Räume des Gotteshauses. Es war eine herrliche Messe von Mozart, aber nur wenige wahrhafte Kenner und Verehrer der Kirchenmusik lauschten andächtig den erhebenden Klängen, der größere Theil der eleganten Gläubigen, die an jenem Tage versammelt waren, harrte des Offertoriums, wo die Stimme der berühmten Künstlerin vom Theater auch einmal im Dienste des Höchsten ertönen sollte. Nun kam endlich der ersehnte Augenblick – alle Augen schauten nach der Stelle oben, wo die Solosänger immer erschienen, Augengläser und Lorgnetten wurden in Bewegung gesetzt; hie und da in versteckteren Winkeln sogar ein Operngucker – doch was war das? Anstatt der imposanten Gestalt der Berühmten tauchte ein kleines Köpfchen auf, das kaum über die Brüstung des Chores reichte, und ein Gesang ward vernommen, der weit verschieden von dem, auf welchen so sehnlich gewartet worden, dennoch nach wenigen Augenblicken die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte – voll und holperig zugleich, ungeschult aber begeistert, ohne jenen richtigen Uebergang in den verschiedenen Abstufungen des Vortrags, den nur die musikalische Bildung verleiht, doch so frisch und natürlich, so warm, so eigenthümlich selbst in der Unbeholfenheit, daß die Hörer sich unwillkürlich angeregt fühlten.

Die Messe war kaum beendet, da stürzte ein Musikenthusiast auf das Chor. „Wer hat denn das Offertorium gesungen?“ fragte er.

Ein Musiker wies auf die Sängerin.

„Was? dös klane Madel hot die große Stimm?! Was is sie denn?“

Der noch in Wien lebende Chordirigent Rupprecht trat hinzu; er kannte den Frager. „Das ist die kleine Lucca,“ erklärte er; „nicht wahr, sie singt schön? Das Mädel hat ein kolossales Talent, aber sie lernt nix; wenn sie etwas ordentlich kann, habe ich ihr’s mit dem Fiedelbogen auf den Buckel zuerst eingebläut (historisch); das hat bisher noch am besten geholfen.“

„Aber warum halten die Eltern das Kind nicht strenge zum Lernen an? Warum geben sie ihm nicht eine sorgfältige Erziehung, warum geht sie nicht auf’s Theater? Die müßte ja ihr Glück machen!“

„Ja,“ meinte der würdige Chordirigent, „sie ist schon am Kärnthnerthor engagirt … als Choristin. Die Eltern können nichts für sie thun. Erstens sind sie blutarm; der Vater war eine Art Seidenwaarenhändler, ist im Jahre 1848 ganz verarmt und hat kaum meinen Unterricht bezahlen können. Die Kleine hat mit den Kindern des Sängers Erl, der hier in der Nähe wohnt, öfters gespielt, dieser ließ sie einmal im Scherze etwas nachsingen, das er ihr zuerst gegeigt, und war überrascht, eine so klare und kräftige Stimme zu entdecken. Er leitete die Aufmerksamkeit der Eltern auf die reiche Fundgrube im Talente dieses Mädchens – aber was konnten sie thun? Die Mutter bat mich, das Kind zu unterrichten; ich that, was ich vermochte – damals war sie zehn Jahre alt – jetzt in ihrem fünfzehnten muß sie schon denken, die Familie zu unterstützen … es blieb ihr nichts, als jenes Engagement anzunehmen. Uebrigens, wenn die Eltern auch vermöglich gewesen wären, ‚dös Madel‘ hätten sie doch nicht zum ordentlichen Lernen gebracht, der kleine Satan hat seinen eigenen Kopf; was der nicht paßt, dazu bringt sie kein T–, nicht einmal mehr der Fiedelbogen.“

So sprach der würdige Regens chori der Karlskirche, so auch dachte der Chordirigent der Oper am Kärnthnerthor, dem das wilde Mädchen manchen Aerger bereitete. Als er ihr einmal im Zorne den Rath an den Kopf warf, sie solle lieber Tänzerin werden, da sie doch immer wie ein junger Geisbock herumspringe, antwortete sie gleich: „I warum nicht?“ machte Entrechats und ahmte die Bewegungen der berühmten Tänzerinnen nach, daß der ganze Chor in helles Lachen ausbrach, in welches der Erzürnte zuletzt selbst mit einstimmte.[1]

Indeß entfaltete sich ihre Stimme immer mächtiger; man ward aufmerksam auf sie und selbst die berühmte Sängerin Medori von der italienischen Oper begann sich für sie zu interessiren. Auch der kleine Trotzkopf selbst sah ein, daß, um seinen Willen durchzusetzen, eine andere Carrière nothwendig sei, als die einer Choristin, und so wurde sie endlich am Olmützer Theater mit sechszig Gulden monatlich als Sängerin für „italienische Partien“ angestellt; vorläufig auf ein halbes Jahr.

Ein seltsamer Zufall wollte, daß unsere Heldin, noch bevor sie die Wiener Bühne verließ, einen kleinen Triumph feierte. Am Abende, wo ihr Engagement als Choristin endete, wurde Weber’s Freischütz gegeben. Die Führerin des Brautchors, die das „Wir winden dir den Jungfernkranz“ zu singen hatte, erkrankte plötzlich und – Pauline wurde ausersehen, an deren Stelle zu treten. Die guten Wiener waren schon seit langen Jahren gewohnt, „Kranzljungfern“ zu schauen, für welche das alte Soldatenlied „Schier dreißig Jahre bist du alt“ besser paßte, als Weber’s heiterer Jugendgesang; als mit einem Male das blühende Gesichtchen mit den feurigen Augen und dem Rabenhaar, die zierliche elastische Gestalt vortrat und nun gar die prächtige Stimme so lustig und hell ertönte, da klatschten sie Beifall aus Leibeskräften, und die Direction des Hofoperntheaters wollte den neu entdeckten „Stern“ gleich fixiren; aber es war zu spät. Am andern Tage reiste Pauline ab; am 7. September 1859 trat sie zum ersten Male als Elvire in Ernani auf und errang gleich einen derartigen Erfolg, daß ihr binnen kurzer Zeit neue glänzende Anträge von größeren Bühnen Oesterreichs und Deutschlands zukamen. Sie konnte also wählen und ging auch schon vier Monate nach ihrer Ankunft in Olmütz – als Gefangene auf die Citadelle.

Die einzelnen Anlässe, welche diesen Zwischenfall herbeigeführt haben, sind jetzt wohl nicht mehr genau darzulegen; leichter ist’s, [201] in die verwickeltste diplomatische Unterhaltung, in schwierigste staatliche Fragen einen klaren Blick zu gewinnen, als in manche Theaterangelegenheiten, und eher läßt sich eine aufrichtige Versöhnung zwischen Preußen und Oesterreich denken, als zwischen zwei streitenden Bühnenköniginnen. Genug, eines schönen Tages erklärte die kleine Pauline Lucca, sie werde nicht mehr auftreten, wenn ihr eine gewisse Dame (ebenfalls Mitglied der Bühne) nicht Abbitte leistete für beleidigende Anspielungen und Reden. Der Contract wurde ihr vorgehalten, worin ausdrücklich Gefängnißstrafe stipulirt war für Verweigerung der Dienstpflicht. Sie spazierte ohne langes Besinnen auf die Citadelle und blieb einen Tag und eine Nacht daselbst, bis das allgemeine Aufsehen, welches der Vorfall im Publicum erregt hatte, den Director bewog, seinen ganzen Einfluß bei jener Dame anzuwenden, und diese das Verlangen der erzürnten Primadonna erfüllte. Die Annalen des so gefürchteten Castells erzählen übrigens, daß Pauline Lucca daselbst sich gar nicht übel befunden, in ihrer Zelle sogar den Gouverneur und dessen Gemahlin empfangen und sich mit ihnen besser unterhalten habe, als in der Gesellschaft ihres Herrn Directors und dessen Ehehälfte. Daß sie zu gleicher Zeit aus dem Gefängnisse und vom Theater entlassen wurde, konnte ihr auch gleichgültig sein, ihrer wartete ein Engagement in Prag mit dreitausend Gulden; von den Thoren der Olmützer Citadelle aus betrat sie den Pfad ununterbrochener, immer glänzenderer Triumphe.

Im März 1860 erschien sie auf der deutschen Bühne der alten Czechenstadt als Valentine und Norma. Der Jubel des Publicums war endlos. Die böhmische Aristokratie, welche von jeher der Musik reges Interesse widmete, zog das jugendliche Genie in ihre Kreise, und die Fürstin Colloredo, die Schwester des Gouverneurs Grafen Clam-Gallas, protegirte „das reizende ungezogene Kind“ ganz besonders. Ihr Ruf drang weit nach allen Richtungen, und in Massen kamen die Intendanten, die Directoren, Regisseure und Agenten – Jeder wollte den neuen Kometen sehen, Jeder ihn bestimmen, den Lauf nach seinem Theater zu richten. Doch ein kluger Astronom in Berlin hatte diesen Lauf schon genau berechnet, er kam gar nicht zum Vorschein, aber der Komet zog nach seiner Sphäre: das war Meyerbeer. Der damalige Regisseur des Berliner Hofoperntheaters hatte ihm bereits seit einiger Zeit berichtet, in Prag sei eine geniale, ganz naturalistische Sängerin erschienen, eine unvergleichliche Darstellerin der Valentine; das Gleiche meldete ein in Prag ansässiger Kunstfreund, dessen Meinung der greise Meister sehr hoch schätzte. Er forschte schon damals ängstlichen Blicks nach einer Sängerin, der er seine Afrikanerin anvertrauen könnte; es gab deren bedeutende genug in Deutschland, doch ihm schwebte das Ideal einer solchen vor, welche die Partie ganz nach seinen Angaben und nicht nach ihren Gewohnheiten und ihrem Willen geben würde; es erschien ihm als eine glückliche Vorbedeutung, daß die vielgerühmte Lucca noch ganz Naturalistin, noch ganz jung war, daher im Anfange ihrer Laufbahn stand und angewiesen war, seiner Anleitung zu folgen. Mit der ihm eigenen Vorsicht, die jede Initiative vermied, wußte er es einzuleiten, daß der Generalintendant Herr von Hülsen selbst nach Prag ging und nach dem aus eigenem Hören festgestellten Urtheile unsere Heldin mit viertausend Thaler jährlich auf drei Jahre engagirte.

Die Prager boten natürlich Alles auf, sie zurückzuhalten, allein der Contract war unterzeichnet, und so zog die kleine Lucca nach der preußischen Hauptstadt. Ihr Auftreten daselbst und der immense Erfolg, den sie sogleich errang, bezeichnen einen Hauptwendepunkt in der neuen Aera der Berliner Oper. Vor der Lucca haben nur die Sontag, die Schröder-Devrient, die Jenny Lind sich einer ähnlichen Aufnahme von Seiten des Berliner Publicums zu erfreuen gehabt. Diese Sängerinnen waren vollendete Künstlerinnen, welche die gründlichsten und geregeltesten Studien mit außerordentlichem Talente vereinigten; aber die Lucca wirkte im Gegensatz zu diesen nur durch das rein Naturalistische, durch schöne Stimme, angenehmste äußere Erscheinung, originelle spontane Auffassung und leidenschaftlichen, nicht von den Gesetzen der Kunst geregelten, sondern von den Eingebungen des Moments getragenen Vortrag. Ist es heutzutage doch nicht mehr die vollendete künstlerische Leistung, welche das große Publicum hinreißt, sondern die Specialität, die Originalität, die durch neue Mittel neue Aufregung hervorruft. Jede neue Rolle war ein neuer Triumph für sie; zugleich erregte ihre Persönlichkeit auch außer dem Theater die allgemeine Aufmerksamkeit.

Herr von Hülsen, der Generalintendant des Hoftheaters, wußte die kostbare Acquisition wohl zu schätzen – er sah voraus, daß diese Sängerin einst ein Magnet sein werde, welcher nicht Eisen, sondern Gold und Silber in die Theatercasse zieht, und als sie nach einigen Monaten in Folge übermäßiger Anstrengung von einem bedenklichen Halsleiden befallen wurde, sorgte er, daß sie aus der Theatercasse zu einer Badereise unterstützt ward. Gestärkt kehrte sie im Herbste 1861 wieder, und das Glück, das bisher ihrem glänzenden Talente zur Seite gestanden hatte, wandte ihr eine neue, große Gunst zu: Meyerbeer unternahm es, mit ihr die Partie der Valentine und der Selica in der Afrikanerin, welche damals eben fertig geworden war, zu studiren.

Bei der bekannten Vorsicht, die der große Componist in allen seinen Schritten beobachtete, da er gern Alles vermied, was auf eine directe Einwirkung seinerseits auf die Bühnendarstellung schließen ließ, kann man sich leicht vorstellen, wie sorgfältig er die Unterweisung, welche er der gefeierten Sängerin ertheilte, vor den Augen der Welt und besonders der Collegen geheim hielt, wie Niemand ahnen durfte, daß er seine Afrikanerin mit ihr studirte. Während acht Monaten besuchte er sie mehrere Male in der Woche und studirte unverdrossen manchmal Stunden lang mit ihr, ja er änderte hier und da Manches an der Partie der Selica, was für die Stimme Derer, die er zur Trägerin dieses letzten Werkes ausersehen hatte, nicht ganz passend schien.

Diese heimlichen musikalischen Berathungen wurden plötzlich unterbrochen, als Meyerbeer seinen Schützling bewegen wollte, ein Engagement an der französischen Großen Oper (Académie Impériale de musique) anzunehmen, und die Sängerin geradezu erklärte, es ginge ihr in Berlin sehr gut und sie habe keinen „Mum sich in Paris einer Blamage auszusetzen“; wenn sie schon die deutsche Bühne verließe, könnte es nur sein, um sich der italienischen Oper zu widmen, bei der es nicht, wie bei der französischen, auch auf deutliche Aussprache, sondern nur auf brillanten Gesang ankomme. Der etwas gereizte Maestro nahm die Partie der Selica wieder nach Hause und schmollte während einiger Zeit mit der Sängerin, die ihm einen wahrscheinlich lange gehegten Lieblingsplan durchkreuzt hatte. Doch in seiner milden Natur lag es nicht, dauernd zu grollen, und da die geniale Sängerin das Ihre that, um ihn zu versöhnen, ward der Friede bald wieder geschlossen. Seinem Einflusse verdankte sie dann jene Berufung nach London, wo sie auf den Gipfel ihrer Laufbahn gelangte. Ihr ganzes Auftreten daselbst zeigt wieder recht deutlich, wie das elegante Theaterpublicum der großen Städte behandelt werden muß, damit es recht in Ekstase gerathe.

Gye, der Director des Coventgarden-Theaters, hatte die Lucca im Jahre 1863 für drei Gastrollen engagirt, gegen ein Honorar von einhundertundfünfzig Guineen. Sie erregte als Valentine in den Hugenotten denselben Enthusiasmus, den sie in dieser Rolle überall hervorgerufen hatte, und der kluge Director schloß sofort einen Contract für 1865 mit ihr ab, für zweihundertundfünfzig Guineen (eintausendsiebenhundertundfünfzig Thaler) monatlich – er dachte „ein sehr gutes Geschäft gemacht zu haben“, denn das Honorar war für London und für die Leistungen der Lucca ein sehr geringes, allein er hatte sich verrechnet. Unsere Sängerin kam 1864 nach der englischen Hauptstadt, sie trat als Margarethe in Faust auf, gefiel ganz außerordentlich, das Publicum strömte nach Coventgarden und vernachlässigte das Majesty’s Theatre, die große italienische Oper, wo die Tietjens sang. Gye rieb sich vergnügt die Hände – aber eines schönen Tages war die kleine Lucca verschwunden. Sie hatte Angesichts der großen Summen, die ihre Mitwirkung einbrachte, auf eine Erhöhung ihres Honorars angetragen; der Director, anstatt diesem nicht unbilligen Ansinnen zu entsprechen, hatte sich auf seinen Contract gestützt und jedes Zugeständniß verweigert; ihre Colleginnen am Theater ließen, wie es scheint, es auch nicht an den Liebenswürdigkeiten fehlen, mit denen Rivalinnen einander das Leben so angenehm zu gestalten verstehen, und so segelte unsere Sängerin ruhig nach dem Continente zurück. Freilich gab sie den Grund an, die Luft an der Themse bekomme ihr nicht, wir glauben aber gar nicht zu irren, wenn wir behaupten, sie bekam nicht genug Guineen!

Im Anfange glaubte der kluge Gye sie entbehren zu können, ja, er mochte vielleicht froh sein, daß er den Trotzkopf los geworden, doch bald zeigte es sich, daß der letztere besser zu berechnen [202] verstand, als sein kluger Director. Im darauf folgenden Jahre mußte die Afrikanerin in London aufgeführt werden; Gye hatte von dem Pariser Verleger das Anrecht hierzu erworben und war gezwungen, dem Rivalen Mapleson von der großen italienischen Oper (Her Majesty’s Theatre), der seinerseits die größte Anstrengung entfaltet hatte, um seinem Theater die vogue zuzuwenden, einen mächtigen Hebel entgegenzusetzen; keine Sängerin, das mußte er sich selbst gestehen, vermochte dieses Gegengewicht zu bieten, als die Lucca, und er mußte die, welche ihm den Streich gespielt hatte, noch bitten, wiederzukommen und ihr Bedingungen zugestehen, nach welchen ihr für drei und einen halben Monat fast zwanzigtausend Thaler gesichert wurden. Sie kam, sie trat als Selica in der Afrikanerin auf, sie faßte alle ihre Erinnerungen an des verewigten Meyerbeer’s Unterweisung zusammen, sie entfaltete alle Mittel ihrer großartigen Begabung, und mit einem Satze schwang sie sich gerade mit dieser Partie auf eine Höhe, wo sie alle Rivalinnen weit hinter sich ließ. Weit nach allen Landen erscholl ihr Ruf, von Petersburg aus kam das Anerbieten von vierzigtausend Rubel für vier Monate, von Paris eine Einladung, doch wenigstens als Gast einige Tage daselbst zu weilen. Sie folgte auf ihrer Rückreise von London dieser Einladung und war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit; alle großen und kleinen französischen Componisten brachten ihr Huldigungen dar; Auber, in dessen Hause sie die Zerline (aus Fra Diavolo) sang, schenkte ihr die Feder, mit welcher er diese Oper geschrieben hatte; Rossini erschöpfte sich in Liebenswürdigkeiten. Umstrahlt vom Glanze dieser Erfolge kehrte sie nach Berlin zurück, und die preußische Hauptstadt, die nicht hinter denen Englands und Frankreichs zurückbleiben wollte, überbot sie; die Luccaverehrung wurde zum Luccacultus, die früheren Bewunderer wurden Enthusiasten, die Enthusiasten Fanatiker, die Fanatiker wurden ganz verrückt.

Seit dem November 1865 ist sie mit dem ehemaligen Gardelieutenant Baron von Rahden vermählt; er war einer der schönsten Officiere der preußischen Armee; ihn hat sie aus der nicht geringen Zahl hochgeborner Werber erkoren, und die künstlerische und gesellschaftliche Stellung, die sie heute behauptet, ist eine, wie sie bisher noch keiner activen Sängerin zu Theil geworden ist. Denn selbst die Sontag trat, als sie Gräfin Rossi wurde, von der Bühne zurück, welche sie nur vom Zwang der Verhältnisse getrieben wieder aufsuchte. Die Lucca aber blieb Mitglied des Theaters, während ihr Gemahl seine bisherige Laufbahn aufgab, und sie ist das Meteor der Berliner Oper, der Fixstern, um den sich Alles dreht, Planeten gleich, das Alpha und Omega eines nicht unbedeutenden Theiles des Berliner eleganten Lebens. Viele unserer eleganten Löwen vom Schlachtfelde kennen in der Stadt neben Hof- und Avancementsangelegenheiten nur die eine: Die Soiréen bei Frau von Rahden; die jungen Helden von der Börse kennen nur zwei Fragen: Wie stehen die Curse? und: wann singt die Lucca? Gar viele der kunstbegeisterten Damen, die zu Hause für Gluck und Mozart schwärmen, gehen in’s Theater, nur wenn die Lucca im Trovatore oder in der Afrikanerin singt – manche strenge Recensenten, die jeden Sänger zermalmen, welcher sich eine unpassende Roulade, irgend den Gesetzen der keuschen Kunst widersprechende Nüancen erlaubt, haben nur Ausdrücke der Bewunderung für die Lucca; wenn die Gefeierte singt, so verwandeln sich die Theaterbillets in Actien, die wie das beliebte Papier gesucht und bezahlt werden. Der Platz vor dem Opernhause ist eine geheime Börse, wo sehnsüchtige Theaterbesucher mit den Händlern feilschen; wenn die Lucca singt, so stehen schon vor Tagesanbruch, ja oft schon von Mitternacht an (factisch!) eine Masse Menschen vor dem Opernhause, die in stoischer Aufopferung der Nachtruhe dort warten, bis die Pforte sich erschließt und sie drängend und gedrängt, stoßend und gestoßen, schimpfend und geschimpft an die Cassa gelangen und einen Sitz für den Abend erobern können.

Prüft man nun die künstlerische Bedeutung der Sängerin, so muß vor Allem und ohne Rückhalt zugestanden werden: die Lucca ist ein darstellendes Genie. Sie ist Naturalistin, die Kunst des Gesanges steht bei ihr in zweiter Reihe, man darf von ihr nicht die Coloratur, nicht den reinen, immer sichern Ansatz, nicht die vollkommene Beherrschung des Materials und den integren Vortrag erwarten, die nur Resultate der vollendeten Kunstschule und hohen Auffassung sind; nichtsdestoweniger ist sie einzig in ihrer Art! Diese nicht gleichmäßig gebildete, manchmal scharfklingende Stimme entwickelt – oft plötzlich – in Momenten der Leidenschaft Fülle und durchdringende Kraft, andererseits in lyrischen Scenen, wo die natürliche Empfindung und nicht die höhere Auffassung maßgebend ist, einen weichen Schmelz, eine eindringliche Wärme, die von mancher geschulten Künstlerin vergebens angestrebt werden. Diese kleine zierliche Gestalt mit dem mehr reizend pikanten als schönen Gesichtchen und dem lebhaften Auge – und die man, bei einer ersten Begegnung außerhalb der Bühne, sich nur als Cherubine, als Zerline oder Norma denken kann, entfaltet in allen modernen hochtragischen Rollen eine überwältigende Macht der Leidenschaft im Vortrage und in der Darstellung, die selbst dem strengen Richter die Anerkennung abzwingt, daß hier etwas von dem „Dämon“ lebt, der momentan über Jeden seinen Zauber ausübt.[2]

Eine solche überreiche Begabung rechtfertigt die außerordentlichen Erfolge und erklärt, wie das große Publicum ganz übersieht, daß die berühmte Sängerin in der wahren deutschen Oper nicht auf derselben Höhe steht, daß ihr die höheren Rollen Mozart’s, Gluck’s und Weber’s fern liegen.

Was nun die gesellschaftliche Persönlichkeit, das Gebahren der berühmten Sängerin betrifft, so konnte der geneigte Leser sich aus unserer Erzählung wohl selbst einigermaßen ein Urtheil bilden; jedenfalls wird er es sehr begreiflich finden, daß über eine solche Persönlichkeit die widersprechendsten, verschiedenartigsten Meinungen vorherrschen, daß jedes ihrer Worte, jeder ihrer Schritte besprochen und commentirt wird, mehr als eine Rede des Grafen Bismarck. Es giebt Leute, welche behaupten, die Lucca sei über alle Maßen hochfahrend, launisch, fast ungezogen, Andere erblicken in ihr das graciöseste, natürlichste, gutmüthigste, liebenswürdigste Geschöpf unter der Sonne – die Einen wollen wissen, daß sie mit ihren Collegen bald sehr höflich verkehrt, bald wieder sie keines Blickes würdigt, daß sie an Tagen, wo das Publicum ihr nicht genügend huldigt, allen Leuten, die ihr gerade in den Wurf kommen, sehr ungebundene Phrasen an den Kopf wirft; daß sie bei jeder Gelegenheit mit der Drohung „Auf der Bühne hab ich’s letzte Mal gesungen“ zur Hand ist – wieder Andere versichern, es gebe keine weniger anmaßende, freundlichere, von Intriguen entferntere Primadonna, und nur die verschiedenen Manöver, die man gegen sie ausführte, brächten sie in solch’ üble Laune, die aber vor dem ersten freundlichen Worte wieder verschwinde.

Um zwischen solchen Widersprüchen ein ganz richtiges Urtheil fällen zu können, müßten wir eine noch genauere Kenntniß des Coulissenwesens besitzen, als wir, aufrichtig gestanden, uns anzueignen wünschen. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß der berühmten Primadonna die eine Anerkennung vor vielen anderen gebührt: Sie ist nicht übermüthig geworden im Glücke: die kleine Choristin des Kärnthnerthor-Theaters, die „Sechszig-Gulden“-Elvira in Olmütz, die gefeierte Sängerin, die europäische Berühmtheit, die Königliche Kammersängerin, die auf Lebenszeit mit hohem Gehalte und Pension angestellte erste Primadonna der Berliner Hofoper, die Baronin Rahden – sie sind im Charakter eine und dieselbe Erscheinung.

Mancher der oben angeführten Widersprüche in den Urtheilen mag daher entspringen, daß die Lucca in ihrer Redeweise wie in ihrem ganzen Gebahren noch den ursprünglichen Typus der echten Wienerin beibehalten hat, der eben eigenthümliche Gegensätze bietet: ist sie gut gelaunt, dann erscheint sie liebenswürdig, jovial, voll naiven Witzes und ohne den leisesten Anflug von Hochmuth, auch voll Herzensgüte; und jener Dialekt, der auf der Bühne hie und da nicht gerade dramatisch wirkt, klingt im gesellschaftlichen Verkehr „natürlich, entzückend, melodiös“, als „Sprache des Frohsinns“ [203] unwiderstehlich etc. etc. ad infinitum. Ist aber die Lucca „schlecht aufgelegt“, dann mag sie allerdings denen, die ihr in die Quere kommen, nicht graciös und liebenswürdig erscheinen und ihrem schönen Munde mögen, wenn sie in Zorn geräth, Donnerworte entrollen, die mitunter an die mythischen Traditionen des Wiener „Schanzl“ erinnern.[3] Sie ist eben ein Unicum, und als solches muß man sie gelten lassen.
H. Ehrlich.

  1. Damals war allgemein der Glaube verbreitet, die kleine Lucca werde zum Ballet übergehen, und das mag auch erklären, daß viele Leute meinen, sie wäre in der That zuerst Tänzerin gewesen.
  2. Der Verf. dieses Artikels hat Frau Lucca in der ersten Vorstellung der Afrikanerin gesehen, nachdem er den beiden Hauptproben beigewohnt hatte – er ging an dem Abende mit jener Gleichgültigkeit eines Zuhörers in die Oper, dem an der Musik nicht die Neuheit und das hohe Agio der Plätze imponirte – als aber plötzlich die Lucca im Costüm der Selica in den Berathungssaal stürzte und die Versammlung des hohen Rathes, vor dem sie als Königin, als Sclavin erscheint, mit stolzem, zornigem Blicke maß, fühlte er sich auf’s Höchste überrascht – sein Interesse blieb rege bis an’s Ende der Vorstellung – dies war das Werk der Lucca! Und ein sehr großer Künstler, der würdigste und entschiedenste Vertreter der edelsten classischen Musik, gestand, daß er nicht ohne eine gewisse Voreingenommenheit gegen die vergötterte Sängerin in die Vorstellung der Hugenotten gegangen sei und daß auch ihn die dramatische naturalistische Macht ihrer Darstellung und ihres Gesanges höchlichst überrascht und angeregt habe.
  3. „Am Schanzl“ ist der Platz zwischen der ehemaligen Rothenthurmbastei und dem an der Kettenbrücke gelegenen Theile des Donauarmes, der die Leopoldstadt und Jägerzeile von der innern Stadt trennt. Wahrscheinlich stand dort einst eine kleine Schanze, wie das Diminutivum „Schanzl“ schließen läßt. Dort war in früheren Zeiten ein Obstmarkt, dort thronten auf hohen Hökerstühlen die hehren Dryaden, die als „Schanzelweiber“ gleich den „Müttern“ des Faust schon durch ihren Namen heilige Scheu einflößten. Dort wirkte noch vor fünfundzwanzig Jahren die in ihrer Art unerreichte „Zweschzenliesel“, von der die Sage erzählt, sie habe dem Kaiser Franz, dem Großvater des jetzigen, als er in seinem schlichten Civilrocke – er trug nie einen andern – unerkannt bei ihr „Plutzerbirn“ kaufen wollte und sie fragte: „Wern’s denn auch gut sein?“ im junonischen Zorne über diesen leisen Zweifel in ihre Waare die Antwort entgegengeschleudert: „Schmeck’s, Kropfeter!“