Textdaten
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Autor: Ernst Pasqué
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Titel: Das Urbild des Fidelio
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47-50, S. 765-767, 781-784, 797-803, 826-828
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Urbild des Fidelio.

Erzählung von Ernst Pasqué.

Die Herrschaft des Schreckens, der Paris und Frankreich im Jahre 1793 verfallen war, die sich in Robespierre verkörpert fand und allerorten Ströme Blutes fließen ließ, mußte eine Gegenbewegung zur Folge haben. Im Westen, Süden und Norden empörte sich das Volk gegen seine Bedrücker, die Männer der Revolution, die ihm Freiheit und Gleichheit versprochen und dennoch sein Blut verlangten. Toulon und Marseille, Lyon und Bordeaux erhoben sich, wie die Vendée, die Bretagne und die Normandie, und der Wohlfahrtsausschuß sandte seine Heere und Generale, seine Henker mit der Guillotine nach allen Richtungen aus, die Aufrührer zu vernichten. Fréron und Barras ließen in Toulon die Guillotine ihre Blutarbeit verrichten, Tallien in Bordeaux, Robert Lindet in Caen, doch am schrecklichsten wüthete Carrier in dem unglücklichen Nantes.

Schon 1792 hatte sich die Vendée erhoben; dreihunderttausend Aufständige unter dem See-Officier Charette und dem Wildmeister Stofflet, mit dem Fuhrmann Cathelineau als Hauptcommandant, kämpften mit Glück gegen die Republikaner. Nach dem 31. Mai des Jahres 1793 mußten sie, durch mancherlei Unfälle gezwungen, der Uebermacht weichen. Achtzigtausend Vendéer, Männer, Weiber, Kinder, verließen ihre von den Schreckensmännern bedrohte Heimath und suchten einen Rettungsweg durch die Bretagne zu gewinnen. Doch von den „höllischen Colonnen“ des Generals Turreau verfolgt, wurden sie bei Le Mans, dann bei Savenay überfallen und entweder vernichtet oder zu Gefangenen gemacht. Nur wenigen Tausenden gelang es, wieder die Vendée zu erreichen. In Le Mans waren die Gefängnisse mit den Unglücklichen vollgepfropft, auch Tours hatte ihrer eine große Anzahl aufnehmen müssen, und gefesselt, in langen Zügen oder auf Karren, wurden sie von diesen Orten nach Nantes geschleppt, um zu Hunderten, ohne Verhör und Urtheil, füsilirt oder in den Fluthen der Loire ertränkt zu werden, da die Guillotine dem Blutmenschen Carrier viel zu langsam arbeitete.

So hatte denn auch die Hauptstadt der sonnigen Touraine, das alte Tours, die „Segnungen der Revolution“ in Form ihrer Schrecken kennen gelernt, wenn auch nicht in gleich furchtbarer Weise wie Nantes. Die Pariser Machthaber „beglückten“ die Stadt und deren zu Sansculotten und Jacobinern gewordenen Bewohner vorerst mit einem Revolutionstribunal, und als Vorsitzenden der fünf Richter, die, wie überall in der Provinz, ohne Geschworene verurtheilten, sandte es ihnen einen jungen, etwa dreißigjährigen ehemaligen Parlamentsadvocaten mit Namen Jean Niclas Bouilly. Derselbe war in Coudraye bei Tours geboren, in letzterer Stadt erzogen worden, kannte also den Ort, der von allen der Republik feindlichen Elementen gereinigt werden sollte, genau, hatte sich auch bereits als echter Republikaner bewährt, indem er früher gezeigte royalistische Gesinnungen in einer die revolutionären Machthaber befriedigenden Weise verleugnete. Bouilly war zugleich dramatischer Dichter und hatte als solcher mehrere Opern geschrieben, von denen eine von Gretry, dem beliebtesten Componisten jener Epoche, in Musik gesetzt worden war.

Mit seiner jungen Gattin, einer Tochter Gretry’s, war Bouilly in Tours eingezogen und hatte seine richterlichen Functionen, denen es an dramatischer Belebung nicht fehlen sollte, angetreten. Er bewohnte einen Theil des ehemaligen erzbischöflichen Palastes, in dem das Revolutionstribunal tagte, während die Gefängnisse sich in den noch erhaltenen Theilen der Abtei St. Martin befanden. Diese alte Abtei- und Domkirche mit ihren zwei massigen Thürmen, die noch von Karl dem Großen herrühren sollten und deshalb seinen Namen trugen, war schon in den Religionskriegen von den Calvinisten verwüstet worden, und die Sansculotten hatten das Zerstörungswerk wieder aufgenommen und, soweit es ihre Kräfte erlaubten, auch vollendet. Mit ihr fiel das in der Nähe liegende alte Hôtel des Grafen Semblancay, die herrliche Abtei des Marmoutiers und zahlreiche andere kirchliche Gebäude und Sitze der Adligen. Die Ueberreste der Abtei St. Martin bildeten mit ihren beiden gewaltigen und unzerstörbaren Thürmen der noch in ihren starken Umfassungsmauern erhaltenen Kirche einen großen mehr oder minder verwüsteten Gebäudecomplex, der, von hohen festen Mauern umgeben, sich zu einem sicheren Gefängnisse für die vielen Gefangenen, Männer, Weiber und Kinder, die bei Le Mans und Savenay in die Hände der Republikaner gefallen waren, wohl eignete.

Anfänglich verfuhr der neue Richter so milde, als ihm dies nur möglich werden konnte, denn er war im Grunde ein gemäßigter, kein blutdürstiger Republikaner. Doch bald folgte ihm zu seiner Unterstützung die Guillotine mit einer Abtheilung der sogenannten „Marat-Compagnie“, Sansculotten der entsetzlichsten Sorte. Zugleich wurde dem neuen Richter von Tours von dem Wohlfahrtsausschuß die sehr deutliche Weisung ertheilt, nicht so lau wie bisher zu verfahren, und damit er die beste Gelegenheit habe, seine republikanischen Gesinnungen zu bethätigen, übertrugen die Pariser Machthaber ihm das noch weit wichtigere Amt eines öffentlichen Anklägers. Nun mußte Bouilly voran auf dem blutigen Wege, wollte er nicht selbst sein Haupt der Guillotine [766] verfallen sehen. Von den Henkern der Marat-Compagnie, welche die Wächter der Stadt geworden waren und deren Thore besetzt hielten, brauchte ihn nur Einer dem entsetzlichen Carrier zu denunciren, und sein Kopf mußte fallen. So arbeitete denn von nun an auch in Tours die Guillotine mit ungeschwächter Kraft.

Die Gefängnisse in der ehemaligen Abtei St. Martin leerten sich rasch. Täglich fuhren Karren, mit geknebelten Gefangenen, Gesunden, Kranken und Verwundeten hochauf beladen, nach der Hauptschlachtbank Nantes ab, während nur die aus der Stadt und deren nächster Umgegend herstammenden Gefangenen in Tours selbst abgeurtheilt und gerichtet wurden. Doch brachte man auch wieder neue Unglückliche ein, welche die Marat-Compagnie, im Verein mit den einheimischen Sansculotten und Jacobinern, in der Umgegend als Flüchtlinge aufgegriffen, oder ohne irgend einen nennenswerthen Anlaß aus ihren Wohnungen gerissen hatte.

So zog denn eines Tages nach einem solchen Ausfluge die mit Piken bewaffnete Horde unter lärmendem Jubel in Tours ein, einen Gefangenen mit sich führend, den sie als einen seltenen und wichtigen Fang betrachten durfte. In den Grotten der Savonnière, wenige Stunden von Tours am südlichen Ufer des Cher gelegen, hatte man ihn, doch nur durch den Verrath eines Elenden, überfallen können, und welch ein Triumph war dies für die sansculottischen Bluthunde! Denn der Gefangene war kein Anderer, als der junge Graf René von Semblancay, einer der Anführer der aufrührerischen Vendéer, dessen altadeliger Familiensitz in Tours vor wenigen Monaten durch die fanatische Bande geplündert und durch Feuer zerstört worden war. Den Grafen selbst hatte man weder damals, noch später greifen können; es war ihm gelungen, sich mit seiner jungen Gemahlin Blanche, einer geborenen Gräfin von Plessis-Amblay, noch rechtzeitig aus der Stadt zu flüchten. Nach der Katastrophe, welche bei Le Mans über die Seinigen hereingebrochen, hatte er in den düsteren Höhlen der Savonnière, wohl von irgend einem alten treuen Diener mit dem Nöthigen versorgt, eine scheinbar sichere Zuflucht gefunden. Doch nun war er, trotz aller Vorsicht, seinem Schicksale nicht entgangen.

Der Zug der Sansculotten mit der seltenen Beute glich einem Freudenfeste. Von allen Seiten eilten die Männer herbei, die den Gefangenen nur zu rasch wieder erkannten und ihn mit fanatischem Jubel begrüßten, mit Verwünschungen und Beschimpfungen überhäuften, ihn, der, wie einst sein Vater, den Bewohnern von Tours nur Gutes gethan hatte. Mitleidig und bang schauten die Weiber auf den Unglücklichen, der hocherhobenen Hauptes dem traurigen Schicksale, das seiner erbarmungslos harrte, entgegenging; sie erinnerten sich dessen wohl, was die armen Seidenweber der Stadt dem Grafen zu verdanken gehabt hatten, wußten aber auch, welch schreckliches Schicksal die Undankbaren dem edlen Manne bereiten würden.

Als der Zug bei der Wohnung des öffentlichen Anklägers angelangt war, der Gefangene, endlich von der fanatischen Menge befreit, vor seinem Richter stand, da erbleichte Bouilly sichtlich und fühlte sich bis in sein Inneres erschüttert. War doch eine Besitzung des Grafen, der Flecken Coudraye mit seinem stattlichen, nun auch in Trümmern liegenden Schlosse die Stätte seiner Geburt! Hatte er doch als Knabe mit dem jungen Grafen René, der in seinem Alter stand, gespielt, später mit ihm die Wälder durchstreift und eine schwärmerische Jugendfreundschaft für das Leben mit ihm geschlossen! Dann hatten sie sich trennen müssen; Bouilly war nach Orleans auf die Universität, dann nach Paris gezogen – er hatte den Grafen René von Semblancay aus dem Gesicht verloren, ihn im Laufe der wildbewegten Zeit wohl gar vergessen, und nun stand Jener plötzlich vor ihm als sein Gefangener, den er, der Jugendfreund, anzuklagen, zu richten hatte, dessen Loos kein anderes sein konnte, als der Tod durch die Guillotine.

Graf René blickte dem Genossen seiner Knaben- und Jünglingsjahre mit einer ruhigen, ernsten Hoheit in’s Auge, keine Furcht empfand er, nur Mitleid mit dem Manne, den er einstens Freund genannt, und der nun in seinen Augen so tief, bis zu einem Werkzeuge des blutigen Schreckens herabgesunken war. Er schien der Richter, Bouilly der Angeklagte zu sein. Endlich wurde dieser sich doch seiner Stellung, hauptsächlich aber seiner augenblicklichen gefährlichen Lage bewußt, und sich an seine sansculottische Umgebung wendend, deren Blicke bereits Staunen und Mißtrauen kündeten, sprach er mit der starren Ruhe des Richters:

„Bürger Pujol, bringe den Gefangenen in die Abtei, wo er am sichersten aufgehoben sein wird. Gleich morgen soll sein Proceß beginnen und ihm das Urtheil gesprochen werden. Ihr aber, Citoyens und Sansculotten von Tours, habt Euch durch Euren Eifer um das Vaterland verdient gemacht.“

Ein alter Mann mit der Carmagnole, der weiten Aermeljacke der Revolutionsmänner, angethan, eine schmutzigrothe Freiheitsmütze auf dem fast kahlen Haupte und um den Leib einen Ledergurt mit einem gewaltigen Bund Schlüssel der verschiedensten Größen und Formen, bemächtigte sich des Gefangenen und führte ihn hinweg. Mehrere mit Piken bewaffnete Sansculotten, abstoßende Gestalten, die Wächter des Gefängnisses, folgten ihnen, während die Uebrigen, nunmehr durch das Thun des Richters befriedigt, durch seine Worte sich geschmeichelt fühlend, mit frechem Lärmen das Local verließen.

Nach einem kurzen Gange durch die Gassen betrat der alte Pujol mit dem Grafen und seinen Wächtern den weiten Hof der Abtei, in dem in wüstem Durcheinander Karren mit halbverfaultem Stroh standen, die zu dem Gefangenentransport nach Nantes gedient hatten. Auf die ehemalige Kirche schritt er zu, und durch eine kleine, doch schwere Pforte hieß er mit mürrischen Worten den Gefangenen eintreten, worauf sich der Einlaß mit einem knarrenden Geräusch, das in der Oede der weiten Kirche unheimlich widerhallte, hinter dem Grafen schloß. Es war ein entsetzlicher Anblick, der diesem beim Betreten seines nunmehrigen Gefängnisses wurde und seinen Fuß auf der Schwelle bannte. Von der Kirche standen nur noch die Umfassungsmauern, die massigen Säulen mit ihren schweren romanischen Capitälen, die jedoch nur noch einen Theil der Gewölbe trugen. Der größte Theil derselben war mitsammt dem Dach zerstört, und durch die gewaltige Lücke blickte der klare blaue Himmel der Touraine nieder auf die Gräuel, welche Frevlerhand an dem altehrwürdigen Gotteshause begangen. Das Innere der Kirche bot ein entsetzliches, ekel erregendes Bild der Verwüstung und Entheiligung, hatte es doch noch bis vor kurzer Zeit Hunderten von Gefangenen, Männern, Frauen und Kindern, Kranken und Verwundeten als Aufenthalt dienen müssen, bis sie nach Nantes abgeführt worden waren, um dort Erlösung von ihren Qualen durch den Tod zu finden. Auf Schutthaufen, halbverfaultem Stroh, auf den Steinplatten des Bodens, in den zertrümmerten Kirchenbänken und Chorstühlen hatten die Armen tagelang gehaust, nur von etwas Brod und faulendem Wasser lebend, das ihre grausamen Wächter ihnen höhnend vorgesetzt.

Heute war dieser so tief entweihte Kirchenraum leer, und trotz seines eklen, ruinenhaften Zustandes mußte man ihn als ein sicheres Gefängniß betrachten. Die noch vorhandenen Pforten, theilweise mit schweren Balken und riesigen Eisenklammern fest verwahrt, hatten starke Schlösser, und die immer noch mit ihren Eisengittern versehenen Fensterhöhlen befanden sich hoch über dem Boden, sie gingen noch dazu auf den fest umgrenzten Hof hinaus, der Tag und Nacht von fanatischen Patrioten streng bewacht wurde. Ein Entkommen, ohne Hülfe von außen, war unmöglich, dies mußte Graf René sich sagen, im Falle seine Gedanken solche Wege wandeln sollten. Doch über Anderes, als sein eigenes Schicksal, hatte er in diesem Augenblick nachzusinnen.

An seine junge Gemahlin Blanche, die er mehr als das eigene Leben liebte, wie eine Heilige anbetete, mußte er denken, von der er plötzlich weggerissen worden war, ohne ihr nur noch einen Abschiedsgruß gesagt zu haben, deren ungewisse, gefährliche Lage ihm weit mehr Weh und Bangen bereitete, als seine eigene. Kurz vor Beginn der Revolution hatte er sie heimgeführt, um bald als Flüchtling das Haus seiner Väter mit ihr zu verlassen, um sich dann von ihr zu trennen und mit Tausenden Gleichgesinnter in den Krieg für Thron und Altar, für Gott und seinen König zu ziehen. Gräfin Blanche, ebenso muthig wie schön, wollte ihrem Gemahl in diesen Kampf folgen, um Gefahren und Entbehrungen mit dem Geliebten zu theilen. Doch diesem Vorhaben widersetzte sich Graf René. Er brachte die Geliebte in der Nähe von Tours bei einem alten erprobten Diener unter, und als des Kampfes unglückliches Ende genaht, flüchtete er sich zu ihr und barg sich in ihrer Nähe. Nun war er doch gewaltsam von ihrer Seite gerissen worden; was nach seiner Gefangennahme aus ihr, der Heißgeliebten geworden, das wußte er nicht, und dies verursachte dem starken und edlen Manne größere Qualen, als er sie je um sich selber hätte erdulden können.

[767] In seiner palastartigen Wohnung war Bouilly, der öffentliche Ankläger der Schreckensherrschaft, von Gedanken eigener Art gepeinigt worden. Es drängte ihn, sich und sein Thun vor den Augen des ehemaligen royalistischen Freundes zu rechtfertigen und diesem – wenn es geschehen könne, ohne ihn, den Beamten der Republik, zu verdächtigen – zu dienen. Als nach Entfernung der letzten Sansculotten sich die Ruhe in seiner Umgebung wieder eingestellt hatte, raffte Bouilly sich zu dem Entschluß auf, den Gefangenen in seinem Gefängnisse aufzusuchen, um der Form nach ein erstes Verhör mit ihm anzustellen, im Grunde aber nur, um mit ihm in dem eben angedeuteten Sinne zu reden.

Im Hofe der ehemaligen Abtei fand der öffentliche Ankläger die Wächter und den alten Pujol, welche beim Weine den gemachten guten Fang feierten, scherzten und lachten und ihr „ça ira“ sangen. Pujol, früher ein armer Seidenweber, war beim Beginn der Revolution als Gefangenwärter in den Dienst der Republik getreten, deren Schreckensmänner ihm später das blutige Amt eines Nachrichters aufzwangen, welches von dem alten Manne fast willenlos ausgeführt wurde. Bouilly winkte ihn zu sich heran und befahl ihm den Kirchenraum aufzuschließen, dann hieß er den Alten sich während des Verhöres des Gefangenen entfernen und draußen seiner weiteren Befehle harren.

Nur wenige Schritte und er befand sich dem Grafen gegenüber. Wiederum blickten beide stumm einander an. Graf René zeigte keinerlei Ueberraschung, er fand das Erscheinen des Beamten der Republik in diesem Augenblick wohl natürlich und erwartete dessen Fragen. Bouilly mußte diese Gedanken errathen, denn seine ernste Miene nahm einen Ausdruck der Theilnahme an, und endlich sprach er nicht ohne Bewegung und dabei sichtlich bemüht, den Ton seiner Stimme zu dämpfen:

„Ich bin nicht gekommen als Ihr Richter, Herr Graf – nur die Erinnerung an vergangene Zeiten hat mich zu Ihnen geführt um Sie zu fragen, was ich jetzt noch für Sie thun kann.“

Graf René hatte während dieser Worte wie sinnend vor sich nieder geblickt; ohne seine Stellung zu verändern oder das Auge zu erheben, entgegnete er nach einer Pause langsam und mit einem Achselzucken: „Sie werden für mich thun, was Sie in Ihrer Stellung thun müssen: mich auf die Guillotine senden.“

“Ich kann Ihren Proceß in die Länge ziehen, die Untersuchung verwickeln, verzögern und so Ihre Verurtheilung hinaus schieben,“ tönte es zögernd und zagend von den Lippen des Richters, als ob er Furcht hätte, durch solche gefährliche Worte in der Trümmerstätte ein verrätherisches Echo zu wecken.

„Wozu?“ entgegnete der Graf. „Muß ich sterben, so ist es besser, es geschieht rasch, als nach einem langen Zögern, das meine Pein nur vermehren könnte.“

„Haben Sie denn keine Sorge um Ihre Familie – keinen Auftrag an dieselbe?“ fragte Bouilly nach einer Pause weiter.

Jetzt fuhr der Graf empor. Einen Augenblick lang schaute er dem Andern erregt und forschend in das Antlitz, dann ließ er das Haupt langsam wieder sinken und entgegnete fast tonlos, doch bestimmt: „Wohl hätte ich einen solchen, doch von Ihnen will ich ihn nicht ausgeführt wissen.“

„Reden Sie, Graf René!“ rief Bouilly hastig und sich vergessend, „ich werde Ihren Wünschen gewissenhaft nachkommen, ich schwöre es Ihnen –“

„Lästern Sie nicht,“ unterbrach der Andere ihn unwillig. „Für den Diener der blutbefleckten Revolution giebt es keinen Gott, keinen Eid mehr.“

Diese Worte riefen eine Wandlung in Bouilly hervor, sein Selbstgefühl empörte sich dagegen. Jäh hob er den Kopf, und während sein Auge nunmehr den Grafen anblitzte, sprach er mit einer Stimme, deren Klang er nicht zu mäßigen vermochte, die immer stärker die weiten öden Kirchenhallen durchtönte:

„Die Ziele der Revolution, der ich diene, sind gewaltige, weltbeglückende, und Männer, groß und edel in ihrem Denken und Empfinden, begeisterten sich für sie, Männer, die durch Geburt und Rang, Wissen und Talente zu den besten Bürgern Frankreichs gezählt werden dürfen, in deren Reihen zu stehen und zu kämpfen keine Schande ist. Sind heute die Mittel, jene Ziele zu erreichen, auch nicht immer zu vertheidigen, zum Theil sogar verwerflich, so wird sich ganz gewiß und schon bald eine Wandlung vollziehen und die Wahrheit glänzend aus diesem Chaos von Trümmern und Blut hervorgehen. Schlagen Sie an Ihre eigene Brust, Herr Graf, und fragen Sie sich, ob Ihre Partei sich frei von Blutschuld bekennen darf, ob sie mit uns nicht gerade so verfahren würde, wie wir mit ihr, wäre sie die Herrin Frankreichs und nicht die einige untheilbare Republik?“

„Robespierre und die Guillotine wollen Sie wohl sagen,“ warf der Graf nach dieser pathetischen Rede mit geringschätzendem Lächeln ein. Da ertönte plötzlich am Eingang die Stimme Pujol’s, der fast überlaut rief:

„Bürger Ankläger, die Sansculotten und Jacobiner draußen im Hofe vernehmen Deine gewaltige Stimme, sie kommen näher, um die Rede zu hören, in der Du die Feinde der Republik niederdonnerst.“

Bouilly schrak erbleichend zusammen. Er hatte sich wirklich vergessen und wurde sich plötzlich der vollen Gefährlichkeit seiner Lage bewußt. Sich, so gut es gehen wollte, beherrschend, sprach er zu dem alten Manne:

„Ich werde das Verhör morgen fortsetzen, bringe den Gefangenen einstweilen in eine der Capellen oder in die Sacristei.“

Hierauf verließ er, ohne den Grafen nur noch einmal anzuschauen, den Kirchenraum.

Der alte Pujol folgte dem Davongehenden mit seinen Blicken; als das Pförtchen sich hinter ihm geschlossen hatte, kehrte er sich dem Grafen zu und redete diesen in seiner mürrischen Weise an:

„Die Sacristei ist sicherer, als die wenigen noch tauglichen Capellen, wenn auch nicht viel besser als diese. Doch lange werdet Ihr wohl nicht drinnen bleiben, denn das Tribunal macht rasche Arbeit, dann müßt Ihr auf meinen Karren. Einstweilen – kommt!“

„Du bist also der Henker,“ sprach Graf René, hinter dem alten Manne dreinschreitend, der ihn über die Trümmer, zwischen den Schutthaufen hindurch nach dem Hintergrund der Kirche und dem Seitenschiff führte, wo die Sacristei lag. „Doch nicht immer triebst Du ein solches Gewerbe, denn auch Dich erkenne ich wieder.“

„Was wißt Ihr von mir,“ brummte Pujol noch finsterer als bisher, „und wie es gekommen ist, daß ich geworden, was ich bin? Hab mein Amt nicht gesucht, es ward mir bestimmt und ein Sträuben hätte nichts genützt. Ich lasse das Messer nur fallen. Andere führen meine Hand und tragen die Verantwortung dafür, nicht ich! Und dann – wer weiß, wozu es noch gut ist!“

„Armer alter Mann!“ sprach unwillkürlich der Graf mit einem Seufzer des Mitleids vor sich hin.

„Wer weiß, wozu es gut ist! sage ich Euch nochmals,“ fuhr der Andere rauh auf. Und gut war es, daß ich der Henker bin und keiner der Anderen es war. Ich habe keinem Verurtheilten das Ende erschwert, vielen von ihnen einen letzten Dienst erwiesen. Deshalb stelle ich Euch dieselbe Frage, wie vorhin er, der Euch richten wird, es gethan hat. Habt Ihr einen Auftrag an irgend Jemand, so redet, ich richte ihn aus, ich verspreche es Euch – ohne Eid, an den Ihr doch nicht glauben würdet, wenn ich ihn schwüre.“

“Ich glaube an Dein Wort, trotzdem Du der Henker bist,“ sprach Graf René, plötzlich stehen bleibend und den Alten mit tief ernstem Blick anschauend. „Ich habe Dich gekannt, als Du noch ein ehrlicher Seidenweber warst und für die Meinigen arbeitetest. An den Pujol von damals will ich denken und Dir auch heute noch vertrauen. Höre!“

„Schweigt jetzt!“ rief der Andere ihm mit leisem keuchenden Ton und wie in wildzorniger Erregung zu. „Schweigt und folgt mir an einen Ort, wo nur ich Euch hören kann.“

Mit Mühe hatten sie das Chor erreicht, nun bog Pujol nach der linken Seite ab, und beide betraten bald den Raum der ehemaligen Sacristei. Hier sah es etwas besser oder doch nicht ganz so abscheulich aus wie in den öden Kirchenhallen. Der Raum enthielt unter Anderem mehrere breite Schrankbänke, welche zum Aufbewahren der gewöhnlichen Priestergewänder gedient hatten und sich in noch gutem Zustand befanden, somit als eine annehmbare Ruhestatt für die Nacht gelten konnten. Kleine Fenster, mit Eisengittern wohl verwahrt, doch in gewöhnlicher Höhe angebracht, gestatteten durch das Chaos der in dieser fernsten Ecke des Hofes zusammengepferchten Karren hindurch einen Blick auf das große Straßenthor, in dessen Nähe die Sansculotten Wache hielten. In diesem Raume angelangt, sagte der alte Mann, ohne dabei sein mürrisches Wesen abzulegen, nur: „Nun redet!“

[781] Graf René stand auf dem Punkte, dem alten sansculottischen Henker Pujol ein Geheimniß preiszugeben, das seiner Gattin ein gleich entsetzliches Loos bereiten konnte, wie das seinige, und er zögerte, doch nur wenige Augenblicke, dann sprach er mit festem Entschluß:

„Es muß sein. Ich will mein Vertrauen zu Euch festhalten, und Ihr werdet es nicht täuschen, ich fühle – ich weiß es, und deshalb hört! Mein Weib, meine arme, theure Blanche jammert mich!“ fuhr er plötzlich mit weicheren Tönen fort, „von ihr muß ich Nachricht haben und Ihr – sollt sie mir bringen.“

„Sagt, wo sie zu finden ist, aber schnell! Ich weile schon zu lange bei Euch,“ tönte es rauh, fast grimmig in die Klagelaute des Grafen.

„Geht nach dem Dorfe Verets,“ fuhr dieser fort, „am Cher und nicht weit von den Grotten der Savonnière gelegen, wo man mich verrieth und fing. Dort fragt nach dem Bauer Gratien, der wird Euch Auskunft geben.“

„Morgen Vormittag habt Ihr Antwort,“ sprach Pujol hastig, „und nun merkt genau auf das, was ich Euch sage. Noch einmal kehre ich zu Euch zurück mit einem der Patrioten, dem allerschlimmsten und allergefährlichsten. Achtet nicht darauf, was er etwa sagen wird, noch was ich vielleicht ihm antworte oder sonst mit ihm reden werde. Ihm muß ich die Aufsicht über Euch anvertrauen, wenn ich mich entfernen und keinen Verdacht dabei erregen soll. Doch wahret Glauben und Vertrauen – vor Jenem schütze ich Euch.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Pujol die Sacristei, das schwere Schloß knarrte, und der Gefangene war wieder allein. Nun trat er einem der Fenster näher und schaute hinaus in den Hof und auf die Gruppe der in der Ferne bei dem Eingang weilenden Sansculotten, welcher Pujol sich jetzt in seiner gebückten mürrischen Haltung näherte.

„Ohe! Le Borgne!“ rief er den Männern schon von weitem entgegen, „komm’ heran! Laß die Karten und die Flasche, hab’ wiederum Arbeit für Dich.“

Aus der Gruppe der zechenden und spielenden Sansculotten löste sich langsam ein Mann, der wohl das abschreckendste Aeußere von all den dort Versammelten zeigte. Es war ein langer hagerer Mensch in einer schmierigen, zerrissenen Carmagnole, den Kopf mit der rothen Mütze wie spähend vornüber geneigt. Das linke Auge saß schief und wie geschwollen in dem fahlen, ewig grinsenden Antlitz, das nur Widerwillen und Furcht erregen konnte. Er hatte vor Monaten in einem Handgemenge eine Verletzung erlitten, wodurch er, wenn auch gerade nicht um das eine Auge gekommen, doch in solch böser Weise gezeichnet worden war. Deshalb nannte man ihn, anstatt mit seinem Namen Gaillard, nur mit dem Spitznamen „Le Borgne“, der Einäugige. Sein abstoßendes Aeußere paßte vollkommen zu seinem Charakter. Er war ein heimtückischer, grausamer und nach jeder Richtung hin gefährlicher Mensch und versah zeitweise Pujol’s Dienst als Gefängnißwärter, wenn dieser hinaus auf den Richtplatz mußte. Mit schlürfenden Schritten näherte er sich Pujol, und diesem von unten herauf lauernd in das Gesicht schauend, fragte er ihn:

„Was soll’s, Pujol? – Ich dachte schon, Du würdest gar nicht mehr zum Vorschein kommen, der Cidevant hätte Dich entweder umgebracht, oder – Du complotirtest mit ihm.“

„Um seinen Kopf zu erlangen? Dazu bedarf es keines Complots; morgen fällt er von selbst in den Sack!“ entgegnete der Alte mit lauter Stimme, auf den cynischen Ton des Andern eingehend. „Und damit der seltene Bissen meiner Guillotine, die schon zu lange hungert, nicht entgehe, sollst Du wieder einmal mein Stellvertreter sein. Denn ich muß zum Citoyen Bouilly – und später wohl hinaus in’s Land.“

„Her mit den Schlüsseln!“ rief Le Borgne mit einer hämischen Gier, die hageren Finger nach dem Schlüsselbunde Pujol’s ausstreckend.

„Geduld, Freundchen! Erst thue Deine Pflicht als mein neuer Gehülfe, fülle den Krug dort mit Wasser und dann erwarte mich.“

Nach diesen Worten trat er in seine Wohnung, während Le Borgne einen großen Steinkrug nahm und diesen an dem laufenden Brunnen mit Wasser füllte. Bald kehrte der Alte zurück. Er trug einen Laib Brod unter dem Arme und sagte zu seinem Gefährten: „Komm!“

Nun schritten Beide wieder der Kirchenruine zu, und Le Borgne warf scheinbar gleichgültig, doch mit einem giftigen Blicke auf das große Brod die Worte hin: „Du verproviantirst den aristokratischen Schuft ja, als ob er noch eine Woche zu leben hätte! – Von Rechtswegen müßte sein Kopf jetzt schon in Deinem Sacke stecken. Säße der Carrier hier und nicht in dem vermaledeiten aristokratischen Nantes, das er doch noch mit Stumpf und Stiel ausrotten wird, so hätte der cidevant Graf zur Freude aller wahren Sansculotten sofort der Sainte Guillotine seine Reverenz gemacht.“

[782] „Er kommt schon noch an die Reihe,“ brummte Pujol, – „wie wir Alle, Du nicht ausgenommen, daran kommen werden.“

In der Sacristei bei dem Grafen angelangt, stellte Pujol den gefüllten Krug nebst dem Brod vor den Grafen hin, der schweigend mit verschränkten Armen auf der Bank saß und die Eintretenden nicht zu beachten schien. Dann sagte der Alte ihm mit barschem Tone:

Hier Eure Kost – es wird reichen.“

„Morgen folgt das Dessert,“ setzte Le Borgne mit frechem Höhnen hinzu. „Ihr bezahlt es dem Pujol mit Eurem Kopfe, und mir wird Euer Hemd eine frischgefärbte rothe Mütze liefern.“

„Du bürgst mir für den Gefangenen während meiner Abwesenheit,“ unterbrach Pujol die Rede des entsetzlichen Menschen, „und nun fort!“

„Hättest den Cidevant keinem Besseren anvertrauen können, als mir, Vater Pujol,“ rief Le Borgne noch im Abgehen, „und daß Du es gethan hast, stellt die Lauterkeit Deines Patriotismus in meinen Augen wieder her.“

Beide verließen die Sacristei der Kirche. Draußen übergab Pujol Le Borgne einen Bund Schlüssel und schärfte ihm nochmals ein, Niemand, wer es auch sei, zu dem Gefangenen zu lassen und ebenso wenig selbst dessen Zelle zu betreten. Dan machte er sich auf den Weg nach der Wohnung des öffentlichen Anklägers, des Citoyen Bouilly.

Mit diesem hatte der Alte nur eine kurze Unterredung, denn auffallend rasch, kaum die nöthigsten Fragen stellend, war Bouilly auf Alles eingegangen, was Pujol ihm vorgeschlagen hatte: die Karren, welche vor etwa einem Monat mehreren Bauern der Umgegend von Tours gewaltsam davongeführt worden waren, gedachte er den Leuten wieder zuzustellen, erstens, um den Hof des Gefängnisses von ihnen zu säubern, und dann um den armen Bauern und guten Sansculotten wieder zu ihrem Eigenthume zu verhelfen.

„Von selbst kommen sie nicht, die armen Teufel haben zu große Furcht vor unserer Abtei, die sie als Falle betrachten und freiwillig, unaufgefordert nie betreten werden. Nur ich bin im Stande, sie zu beruhigen, und werde es thun, es geht nicht gegen meine Pflicht. Deshalb will ich morgen früh ganz in der Stille hinausgehen und werde im Laufe des nächsten Vormittags wieder zurück sein. Die Schlüssel übergab ich Le Borgne, der ja auch mein Stellvertreter ist, wenn ich – draußen auf dem Platze bei der langen Brücke zu thun habe.“

Also meinte er und also geschah es. Mit beginnendem Tagesgrauen rüttelte Pujol Le Borgne aus dem Schlafe, machte ihn nochmals mit dürren Worten für den seiner Obhut anvertrauten Gefangenen verantwortlich und verließ die Gefängnisse der Abtei, draußen den Weg nach dem nahen Ufer des Cher einschlagend.


Am andern Morgen gegen elf Uhr zog der alte Pujol, den derben Knotenstock in der Hand und über der Schulter einen Sack vollauf und schwergefüllt, wiederum in Tours ein. Doch war er heute nicht allein, eine junge Bäuerin in der Kleidung, wie sie in der Umgegend von Tours getragen wurde und fast der der Bretagner und Vendéer ähnlich war, begleitete ihn. Ihr Körper stak tief in den vielen und weiten Röcken drin und das über der Brust geschnürte Mieder, noch von einem kreuzweis gefalteten dicken Tuch bedeckt, schien für ihren Oberkörper zu kurz zu sein, wodurch die ganze Gestalt etwas Plumpes, Unbeholfenes und deshalb durchaus nichts Anziehendes erhielt. Ihr Gesicht erschien von der heißen Sonne der Bretagne stark gebräunt, und erst bei schärferem Schauen vermochte man die regelmäßige Schönheit der Züge zu entdecken. Nur das braune Auge leuchtete unbehindert unter der weißen Haube hervor, die mit ihrem breiten, plattgefalteten Rande auf der Stirn eine kleine Spitze bildete, wodurch die Kopfbedeckung der Bewohnerinnen der Touraine und der Bretagne zu einer so hübschen und originellen gestaltet wird. Alles Haar war aber unter dieser Haube versteckt, und dies that wiederum dem sonst gewiß hübschen Gesicht Abbruch. Auch sie trug ein Bündel, in ein rothgeblümtes Tuch geknüpft, im Arme und in der Hand einen fast ebenso derben Knotenstock wie der alte Pujol.

Als Beide sich den Sansculotten näherten, welche die Wache am Thore hatten, mußten sie manche Spottreden hören: „Der alte Vater Pujol hat sich ein frisches Schätzchen geholt!“ so tönte es unter frechem Lachen ihnen entgegen.

„Welch häßliche Vogelscheuche!“ rief ein Anderer. Die plumpe Dirne genügte mir nicht einmal als Spülmagd!“

„Dem Henker genügt sie; dem ist ja jeder Kopf genehm! Gleichviel ob schön, ob häßlich, sie müssen ihm alle an’s Messer.“

„Er geht eben scharf in’s Zeug, und lange erträgt keine seine Liebkosungen.“ Und rohes Gelächter folgte jedem dieser entsetzlichen Späße.

„Mach’ den Bürgern Deine Reverenz, Margot,“ sagte Pujol ruhig zu seiner Begleiterin, „und zeige ihnen, daß Du doch nicht ganz so häßlich bist, wie sie annehmen.“ Dann wandte er sich an die Männer, und während Margot unmerklich erbebend recht unbeholfen knixte, rief er diesen mit scherzendem Tone zu: „Es ist meines Onkels Enkelkind. Hab’ sie mir als Magd mitgenommen, um ihr hier eine gute Erziehung zu geben. Doch stellt die Dirne sich nicht besser an als bisher, dann mag sie sich lieber heute wie morgen wieder heimtrollen.“

Damit schritt er weiter und zog Margot ziemlich unsanft mit sich fort. Neues dröhnendes Lachen und rohe Scherze folgten ihnen.

Als Beide die breite Straße hinschritten, welche Tours in zwei Hälften theilt und nach der langen Brücke über die Loire führt, sagte Pujol leise zu seiner Begleiterin:

„Das war ein Anfang, aber noch nichts gegen das, was uns bevorsteht. Werdet Ihr es ertragen können?“

„Ich will Alles – das Abscheulichste überwinden, kann ich nur mein Ziel erreichen,“ antwortete die Bäuerin in gleich heimlicher Weise, doch mit fester Stimme.

„Dann – mit Gott voran! Und vergeßt nicht das Ge ringste von unseren Abmachungen.“

Sie gingen weiter. Plötzlich blieb Margot stehen, und unwillkürlich zusammenschauernd deutete sie in der Richtung nach der Brücke hin und fragte: „Was ist das?“

Am Ende der Straße, mitten auf dem großen freien Plaze vor der langen Brücke, sah man eine seltsame Maschine: aus einem viereckigen, rothangestrichenen Gerüste stiegen zwei Balken von gleicher Farbe hoch empor, die oben durch ein Querholz mit einander verbunden waren und in ihrer Mitte ein breites Eisen in einem kalten, gleißenden Scheine hervorschimmern ließen. Der Mann an Margot’s Seite blickte finster zu Boden und brummte mürrisch als Antwort: „Was geht’s Euch an? Schaut nicht hin, es ist nichts für Euch!“ – Dann bog er hastig mit seiner Begleiterin in eine enge Seitengasse ab.

Noch eine kurze Wanderung, und das Thor der Abtei war erreicht. Ein lauter Ruf Pujol’s, und Le Borgne zog den Riegel zurück. Die beiden Ankömmlinge betraten den Hof. Sofort wurden sie von den wachehaltenden Patrioten mit lustigen Grüßen, mit Lachen und derben Scherzen empfangen, und die peinliche Scene von vorhin wiederholte sich in noch lärmenderer Weise. Nur Le Borgne sagte nichts; er blickte mit seinem häßlichen Lächeln die Bauerndirne von unten herauf frech und durchdringend an und fragte endlich scheinbar gelassen Pujol:

„Wirst Du nun Dein Amt wieder übernehmen? Soll ich Dir die Schlüssel einhändigen?“

„Behalte sie nur noch eine Weile, sie sind in den besten Händen,“ entgegnete der Alte gleich ruhig. „Werde wahrscheinlich noch einmal hinaus müssen; auf alle Fälle giebt es heute viel zu thun, und da wird mir Deine Hülfe nothwendig sein.“

Einen Augenblick schaute Le Borgne stumm von der Seite zu ihm auf, dann sagte er:

„Gut, ich will Dein Amt weiterführen, als ob Du hinaus müßtest in den Dienst der Sainte Guillotine, doch dann will ich auch von meinem Rechte als Schließer Gebrauch machen. So frage ich Dich denn, Bürger Pujol, was schleppst Du in Deinem Sacke in die Abtei ein und wer ist die Bauerndirne? He! Du siehst, ich vertrete Dich gut.“

„Das Mädel ist eine entfernte Verwandte, wie ich schon den Freunden am Thore sagte, und soll mir hier als Magd, Euch als Schenkin dienen,“ antwortete der alte Pujol mit größter Ruhe. „Und in dem Sacke ist weiter nichts als köstlicher Proviant für Euch, den ich draußen bei den Bauern requirirte. Holla, Margot! hinein mit dem Sack und ausgepackt, denn die Frühstückszeit ist da!“

[783] Die übrigen Sansculotten, welche die Beiden umringt und ihrem kurzen Zwiegespräche aufmerksam gelauscht hatten, begrüßten die Worte Pujol’s mit lärmender Freudigkeit und mit Späßen, die an Derbheit und schamloser Frechheit nichts zu wünschen übrig ließen. Margot hatte sich den Sack aufgeladen, und Pujol drängte sie in seine Wohnung, die dicht neben dem Raume lag, der den Sansculotten als Wachtstube diente. Le Borgne wollte ihnen folgen, da wandte der Alte sich um, und den frechen Menschen aufhaltend, sagte er, ohne einen Anflug von Eifer oder gar Zorn, doch sehr bestimmt:

„Dies ist meine Wohnung, und in ihr wie bei meiner Magd hast Du nichts zu schaffen. Geh’ und sieh nach dem Gefangenen, für den Du aufzukommen hast.“

Le Borgne zog sich brummend zurück, und auf die Kirche zuschreitend, murmelte er vor sich hin:

„Die Geschichte gefällt mir nicht – und doch überläßt er mir den Gefangenen. Hol’ ihn der Satan! Schon längst müßte der Cidevant der Guillotine verfallen sein. Bis das geschieht, will ich ihm schon der rechte Wächter sein.“

In dem Wohnraume begann Pujol mit Hülfe Margot’s rasch den Sack seines Inhalts zu entleeren. Würste, Schinken kamen zum Vorschein, doch endlich auch ein eingeschnürtes Bündel, das der Alte rasch und geschickt in einer Nebenkammer barg. Der Proviant wurde draußen von den Männern gierig in Empfang genommen, Pujol und Margot trugen Kannen mit Wein herbei, den sie aus einem der Fässer gezapft hatten, die in einem der nahen Schuppen lagerten. Dann begann das Frühstück der Wächter, und die arme Margot schien für Augenblicke Ruhe vor ihren wüsten Scherzen zu haben.

Da wurde stark wider das Eingangsthor gepocht, und als Pujol den schweren Riegel weggeschoben hatte, trat ein Mann in der Carmagnole, mit einem umgehängten Säbel und auf der rothen Mütze eine große Cocarde, in den Hof. Es war einer der Wächter und Diener des Revolutions-Tribunals, von dem öffentlichen Ankläger abgesandt, den Gefangenen vor seine Richter zu führen. Sofort beauftragte Pujol zwei der Männer, mit dem Gerichtsdiener dem Le Borgne nachzueilen und die Befehle des Tribunals zu vollziehen. Fluchend, in ihrem köstlichen Frühstück gestört worden zu sein, erhoben sich diese und schritten mit dem Gerichtsdiener auf die Kirche zu, in deren Eingang sie verschwanden. Die Zurückgebliebenen lachten ihrer und versprachen, für sie zu essen und zu trinken, welche Worte denn auch im vollen Sinne wahr gemacht wurden. Wenige Augenblicke später durchschritt der kleine traurige Zug den Hof des Gefängnisses, um sich nach dem Revolutions-Tribunal zu begeben. In der Mitte der vier bewaffneten Sansculotten ging Graf René, wenn auch mit bleichen Zügen, doch furchtlosen Blicks vor sich schauend.

Pujol war beim Frühstück geblieben, tapfer mitessend und trinkend, doch Margot stand in der Stube und blickte durch die kleinen halbblinden und theils zerbrochenen Scheiben des Fensters hinaus in den Hof. Die gefalteten Hände hielt sie auf die heftig arbeitende Brust gepreßt, und ihren schönen Augen entquollen Thränen. Jetzt sah sie den Gefangenen vorüberschreiten, und ihre Lippen zuckten, als hätte sie laut aufschreien wollen. Doch sie beherrschte sich, mußte aber die Hände von dem Herzen fahren lassen, um einen Halt zu suchen, da ihre ganze Gestalt wankte und niederzusinken drohte. Nun bewegten sich die Lippen wirklich, doch nur wie in inbrünstigem Beten. Da hörte sie die Stimme Pujol’s, der laut und mit auffallender Heiterkeit seinem vorüberziehenden Stellvertreter zurief:

„Nun kannst Du die Annehmlichkeiten Deiner neuen Stellung kosten, Le Borgne, während wir hier für Dich den saftigen Schinken und den Wein kosten werden und zwar auf Dein Wohl! Es ist übrigens zweifelhaft, ob wir Dir etwas übrig lassen. Sage dem Bürger Ankläger nur noch, daß draußen Alles in schönster, bester Ordnung ist.“

Bei den letzten Worten hatte er den Grafen mit einem sprechenden Blick gestreift, den dieser verstanden haben mußte, denn sein Antlig heiterte sich für einen Augenblick auf. Da schrie Le Borgne bereits unter dem Thor mit einer Stimme, die vor grimmem Zorn bebte:

„Ich verzichte auf den Schinken, wenn ich nur morgen den Kopf des aristokratischen Schurken dafür erhalte, und ich hoffe, daß ich nur mit einem Verurtheilten zurückkehren werde.“

Es war ein Glück, daß in diesem Augenblick das schwere Bohlenthor des Hofes hinter den Vieren mit Gewalt zuschlug, denn in dem lauten dröhnenden Schall erstarb der Aufschrei einer weiblichen Stimme, der aus der Wohnung Pujol’s hervorgedrungen war. Der Alte mußte ihn dennoch gehört haben; die Schmausenden, zu eifrig mit ihrem Speisen beschäftigt, hätten ihn nicht vernommen, auch wenn er noch heller ertönt wäre. Sie bemerkten es nicht einmal, oder beachteten es nicht, daß Pujol sich erhob und rasch in seine Wohnung trat.

„Was habt Ihr mir versprochen?“ raunte er fast grimmig Margot zu. „Wo ist der Muth hin, dessen Ihr Euch rühmtet? Es gilt einen schweren Kampf, und wenn Ihr Euch nicht besser beherrscht, ist er für uns und für ihn verloren.“

„Vergebt mir,“ flüsterte Margot in hastiger Weise ihm zu. „Es überkam mich, weil ich das erste Mal ihn wiedersah. Nun sollt Ihr mich stark und ruhig, fähig und bereit zu Allem finden.“

„Will es zu Gott hoffen – für uns Alle,“ brummte der Alte. Doch nun kommt hinaus und verseht Euren Dienst, damit wir sie immer mehr zum Trinken bringen und dann an unsere Arbeit gehen können. Der Augenblick ist günstig und kommt nicht wieder. Die drei Gefährlichsten der Bande hab’ ich glücklich hinausgeschafft, die Uebrigen sind weniger, hoffentlich gar nicht mehr zu fürchten“

Der Alte hatte recht geschlossen, denn als er mit Margot hinaustrat, fanden sie die vier zurückgebliebenen Sansculotten bereits in einem mehr oder minder unzurechnungsfähigen Zustande. Ihren Krügen, die von Pujol stets auf’s Neue gefüllt worden waren, hatten sie derart zugesprochen, daß Einer von ihnen schon eingeschlafen war. Ein Anderer suchte beim Erscheinen Margot’s sich aufzurichten, um die Dirne mit grellem Jauchzer zu umfangen, doch er berührte sie nicht einmal, strauchelnd gerieth er in ein Taumeln und fiel dann schwer zur Erde nieder.

„Trinkt, Ihr Burschen!“ rief Pujol den beiden Andern zu. „Dürft es, denn es giebt im Augenblick keinen Gefangenen mehr zu hüten, und schlaft Ihr darüber ein, so wachen wir für Euch. Komm, Margot, greif zu, mein Kind!“

Die beiden Wächter nickten zustimmend, und was sie sonst noch erwiderten oder vielmehr lallten, ging in den Kannen unter, die sie abermals zu langen Zügen an die Lippen setzten. Pujol hatte Margot zurück in die Wohnung gezogen, hier flüsterte er ihr in ernster Weise zu:

„Merkt auf! Ich führe Euch jetzt durch die Gebäude hinter der Wagenburg her bis in die Nähe der Sacristei; prägt Euch den Weg ein, damit Ihr ihn später finden und unbemerkt dorthin gelangen könnt. Für jetzt müssen wir das Bündel in der Nähe und am rechten Ort bergen.“

Zugleich war er mit Margot in die Nebenstube getreten, hatte dort das Bündel aufgenommen, und nun ging es weiter.

Auf dieser Seite des Hofes der Abtei reihte sich Bauwerk an Bauwerk, klein und groß, zum Bewohnen eingerichtet oder ehemals als Stallungen oder Schuppen dienend, doch waren sie zum größten Theil mit der Kirche zerstört worden. Vor den ganz im Hintergrund des Hofes liegenden Ruinen standen die Karren, wohl zwanzig an der Zahl, noch immer mit mehr oder minder faulendem Stroh bedeckt. Durch Thüren und Mauerlücken führte der Weg, auf dem Pujol und Margot sich ihnen näherten; einmal in ihrem Bereich durften sie auf den Hof treten und ungesehen hinter ihnen wegschreiten. Denn die Karren bildeten in der That eine Wagenburg, die zugleich die Sacristei deckte.

„Dort ist’s!“ flüsterte der Alte seiner Begleiterin zu, mit sprechendem Blick auf die kleinen Fenster des Ausbaus der Kirche deutend. „Und das Nöthige habe ich vorbereitet.“

Dann barg er auf einem der Fuhrwerke das Bündel und schichtete frisches Stroh darüber. Als dies geschehen war, traten beide wieder den Rückweg an, und Pujol flüsterte mit einem schweren Seufzer vor sich hin:

„Gott gebe, daß es gelinge!“

„Es muß gelingen!“ entgegnete ihm Margot mit mächtig aufflammendem Muthe. Habt Ihr denn nicht gehört, was der Elende, der ihn zu seinen Richtern führte, beim Verlassen des Hofes sagte? Er müsse verurtheilt und morgen – es ist entsetzlich! mein Mund vermag es kaum auszusprechen! – morgen guillotinirt werden?“

[784] „Laßt Euch solche Worte nicht anfechten,“ meinte Pujol hastig weiter schreitend, „so schnell geht es für diesmal nicht. Der Richter Bürger Bouilly, in dessen Hand des Grafen Leben liegt, scheint diesen früher gekannt zu haben, ihm sogar befreundet gewesen zu sein, und er wird den Proceß, um einer oder andern Ursache willen, so viel als möglich in die Länge ziehen. Wir werden ihm dabei die rechte Hülfe leisten, und gelingt unser Vorhaben, was ich zu Gott hoffen will, so wird der Bürger Richter sich nicht wenig, wenn auch nur ganz im Stillen, darüber freuen.“

„Ich hörte den Namen nie von ihm,“ sprach Margot sinnend vor sich hin, als Pujol ihr plötzlich zuraunte:

„Aufgepaßt! wir sind wieder in ihrer Nähe und draußen höre ich die Andern nahen. Bleibt drinnen, bis sie vorüber sind, und singt irgend ein Liedchen.“

Der Alte trat auf die vier Wächter zu, die jetzt sammt und sonders eingeschlafen waren. Mit Scheltworten, durch Rütteln und Schütteln trieb er sie vom Boden, von ihren Sitzen empor, während in der Stube Pujol’s die Stimme Margot’s erklang, die mit gedämpftem Ton, doch ohne zu zittern, ein bretagnisches Volkslied angestimmt hatte. Es war eine jene schwermüthigen Melodien, die sich in kleinen Intervallen bewegen und nur einmal, gegen den Schluß, eine Note in höherer Lage kräftig anschlagen lassen. Sie sang:

“Ich kenn’ ein kleines Liebeslied,
Das sang ich, als ich von ihm schied.
So traurig und so hoffnungsreich
Dünkt keins dem Ohr und Herzen gleich.“

Graf René, der in diesem Augenblick, von Le Borgne und den beiden Sansculotten geführt, den Hof betrat, fuhr bei dem Klange der matt aus dem Innern der Wohnung ihm entgegen tönenden Stimme sichtlich zusammen. Doch sofort beherrschte er sich wieder und schritt weiter, wenn auch immerfort nach dem Ort lauschend, woher das Lied erklang. Le Borgne hatte nichts bemerkt, denn gleich beim Betreten des Hofes stieß er gräuliche Verwünschungen gegen den öffentlichen Ankläger aus, der mit dem elenden „Aristo“ unter einer Decke stecken und dafür mit diesem auf die Guillotine müsse. Denn er habe den Gefangenen nur verhören und nicht richten lassen, was erst morgen geschehen – oder auch nicht geschehen werde.

[797] Wüthend vor Zorn über die nicht erfolgte Verurtheilung des Grafen René geleitete Le Borgne seinen Gefangenen über den Hof, und seine wüsten Drohreden und Flüche verstummten erst, als er in der Kirchenruine verschwunden war. Pujol lachte hinter ihm drein, und die Anderen, welche durch die Wuth Le Borgne’s belustigt wurden, machten es ebenso.

Nur zu bald kehrte Letzterer zurück, und noch immer voller Zorn, Flüche und Schmähungen auf den Lippen, begann er die Speisen, den Inhalt eines Kruges, den Pujol ihm lachend und ihn neckend dargereicht hatte, mit begieriger Hast zu verschlingen. Nach einer Weile, und als der schwermüthige Sang Margot’s forttönte, schrie er wild auf:

„Zum Teufel mit dieser langweiligen Singerei! Die Dirne soll hervorkommen und uns die Carmagnole vorsingen!“

Die andern Sansculotten stimmten unter Lachen und Lärmen ein und trieben Pujol an, seine Nichte, oder Enkelin – seine Magd, oder sein Liebchen – wie sie Margot unter frechem Höhnen nannten, herbeizuholen. Der Alte durfte sich nicht weigern, er trat sogleich in seine Wohnung, doch erst nach einer Weile kehrte er mit Margot zurück, die sich dem Vorschlag wohl erst nach einigem Zureden gefügt haben mochte.

„Sing’ uns die Carmagnole, Dirne,“ herrschte Le Borgne ihr zu, seine Stimme anstrengend, um die lärmenden Reden seiner Gefährten zu übertönen, „und wir tanzen dazu der Reihe nach mit Dir – wenn wir dafür fest genug auf den Beinen sein werden. – Haha!“

„Ich kenne das Lied, welches Ihr da nanntet, nicht,“ entgegnete Margot im Ton und Dialekt der Landleute der Umgegend von Tours, Le Borgne dabei mit ihren großen Augen fest und furchtlos anschauend.

„Ah! Du bist die Nichte – oder Geliebte eines alten Sansculotten, des wackeren Henkers von Tours und kennst die Carmagnole nicht?!“ rief Le Borgne, vor Staunen den Krug, aus dem er eben hatte trinken wollen, wieder von den Lippen absetzend, und die Anderen schrieen durch einander: „Unerhört! – Wo bist Du denn aufgewachsen? – Gewiß nur unter Aristokraten und nicht unter echten Sansculotten!“

„Stille!“ brüllte Le Borgne. „Ist Dir die Carmagnole bis heute fremd geblieben, so wirst Du doch unser ‚Ça ira‘ kennen! Das singe!“ Und er schnarrte: „‚Ça ira! ça ira! les aristocrates à la lanterne!‘ – Doch dieses schöne Lied kennst Du wiederum nicht, wie ich sehe. Konnte es mir denken! Pujol – Pujol! was hast Du Dir da für ein aristokratisches Schätzchen mit heimgebracht!“

„Margot ist in der Einöde auf dem Lande aufgewachsen, wohin die Segnungen der Revolution noch nicht gedrungen sind,“ entgegnete Pujol, auf den Ton des Andern eingehend. „Deshalb nahm ich sie mit mir, um hier ihre republikanische Erziehung zu vollenden. Doch nach dem, was ich jetzt an ihr erlebe, fürchte ich, daß meine Kraft nicht ausreichen wird, und ich will sie lieber wieder mit ihrem alten Großvater heimschicken, der heute Abend kommen wird.“

„Was verstehst Du denn zu singen, kleine braune Hexe?“ fragte Le Borgne, den lauernden Blick verstohlen, doch scharf auf Margot gerichtet.

„Tanz- und Trinkliedchen kennt sie ganz gewiß,“ antwortete Pujol für die Angeredete, und mit sprechender Geberde, rauh und befehlend herrschte er Margot zu: „Singe uns ein Lied vom Wein, sogleich! Oder ich treibe Dich jetzt schon aus meinem sansculottischen Paradiese hinaus!“

„So ist’s recht! Singe und wir trinken dazu! Ça ira!“ riefen die würdigen Patrioten lärmend und lachend durch einander. Margot besann sich nur wenige Augenblicke, dann sang sie frei heraus, mit kräftiger Stimme und sogar mit einer trotzigen Fröhlichkeit:

„Wer einsam schlürft den goldnen Wein,
Begeht gar große Sünde.
Nur unter Freunden schenket ein,
Daß Glas zu Glas sich finde.
      Stoß an! stoß an!
      Trink zu, Cumpan!“

Das Lied, wenn auch veraltet und durch die rohen Gesänge der Revolution verdrängt, mußte den Sansculotten von Tours doch bekannt sein, denn sie wiederholten lustig den Refrain und thaten auch, was dieser erheischte. Mit größter Geschäftigkeit eilte der alte Pujol von der Gruppe der Zechenden zu seinem Faß und wieder zurück, stets die Krüge auffüllend und zum Trinken anfeuernd. Ein abermaliges und vollständiges Betäubtwerden der rohen Gesellschaft konnte nicht ausbleiben, es mußte sogar recht bald erfolgen.

Der Abend war mittlerweile gekommen, seine Dämmerung begann den Hof und die ruinenhaften Bauwerke ringsum einzuhüllen, und vor dem großen Eingangsthor war schon seit einer Weile ein Gebrause von Stimmen hörbar geworden. Da raunte [798] Pujol Margot im Vorbeigehen zu: „Nun ist es an der Zeit!“ Dann trat er schwankend, als ob auch er des Weines zu viel genossen hätte, auf das Thor zu, öffnete dies und ließ eine Anzahl Bauern in ärmlicher Tracht ein, von denen einige ihre mageren, abgetriebenen Gäule an der Leine führten.

„Was soll’s?“ schrie Le Borgne, sich mühsam von seinem Sitz erhebend.

„Es sind die armen Teufel, die uns ihre Fuhrwerke liehen, um die gefangenen Aristokraten nach Nantes zu bringen,“ entgegnete Pujol ihm gleichgültig. „Sie kommen, um uns von ihren alten Kasten, die mir hier im Wege stehen, zu befreien. Macht rasch!“ schrie er jetzt den Bauern zu, „wenn ich Euch nicht für die Nacht in meinen Käfig sperren soll. Doch zuerst stärkt Euch durch einen Schluck Wein. – Es sind gute Patrioten,“ wandte er sich wieder zu der Gruppe der Wächter, „und werth, mit wackeren Sansculotten und Jacobinern zu trinken.“

Die Leute näherten sich mehr oder minder furchtsam, und Pujol reichte ihnen Wein, von dem sie tranken. Le Borgne hatte sich erhoben und sprach mit schwerer Zunge hämisch vor sich hin:

„Da will ich doch erst noch einmal nach dem seltenen Vogel sehen, der bereits in der Falle sitzt, damit er mir nicht davon fliege.“

Hierauf wankte er auf die Kirchen- und Gefängnißpforte zu.

Margot war verschwunden.

“Herr Gott!“ murmelte Pujol vor sich hin. „Wenn sie jetzt nicht aufpaßt, ist Alles verloren, und ich bin es mit ihnen.“


Graf René saß in seinem Gefängnisse, der Sacristei, doch nicht entmuthigt blickte sein Auge. Das Verhör, welches er vor seinen Richtern bestanden hatte, war vor der Hand ergebnißlos geblieben. Der öffentliche Ankläger, sein ehemaliger Freund und Jugendgenosse Bouilly, hatte zwar in langer Rede gewaltig gegen die Feinde der Republik gedonnert, doch dabei weit mehr Pathos als Ueberzeugung entwickelt; zugleich hatte er Vertagung des Urtheils beantragt, da man hoffen dürfe, durch weitere strenge Verhöre des Gefangenen einer neuen Verschwörung gegen die Republik auf die Spur zu kommen, womit Richter und Geschworene sich nach kurzer Berathung einverstanden erklärten. Schon dies hatte den Grafen hoffnungsfroh gestimmt und seine herben Gesinnungen dem ehemaligen Jugendfreunde gegenüber gemildert. Die versteckten, doch ihm verständlichen Worte und Blicke Pujol’s beim Verlassen des Gefängnißhofes, das Lied und die Stimme, welche es gesungen, als er wiederkehrte, hatten seinen Muth, seine Hoffnung gehoben und belebt, obgleich der Sang ihn auch wieder mit einer unsäglich peinvollen Unruhe erfüllte, deren er nicht Herr zu werden vermochte, und die sich womöglich noch steigerte, als er in seinem öden Gefängnisse angelangt war und Zeit genug hatte, darüber nachzusinnen.

Wem konnte diese Stimme, deren Klang ihm das Herz erschüttert hatte, angehören? – Es war die seiner Blanche, er vermochte nicht daran zu zweifeln, und dennoch! – wie wäre die Gräfin in den Hof des Gefängnisses, unter die wüsten Sansculotten gekommen? Unbeweglich saß er da und marterte sich in Gedanken ab, Gewißheit über das, was ihn quälte, zu erlangen. Pujol hatte seine Blanche gesehen, sie war in Sicherheit, das wußte er, doch sagte er sich auch, daß der alte Mann es nimmer gewagt haben würde, sie in die Höhle der Jacobiner zu bringen, sie einer Berührung mit solchen eklen entarteten Menschen auszusetzen, wie sie sich um den Gefängnißwärter und Henker versammelt fanden. Seine Sehnsucht hatte ihn wohl getäuscht, so nur und nicht anders konnte es sein. Also sagte er sich und wiederholte es immerfort, und dennoch wollte die ersehnte Ruhe nicht bei ihm einkehren. Wer konnte ihm Gewißheit geben?

Die Zeit verging, der Abend nahte heran, und dunkel wurde es um ihn her. Da hörte er vor den Fenstern seines Gefängnisses Stimmen; es waren die Bauern, welche sich mit ihren Karren beschäftigten, um sie fortzuführen. Zugleich klirrte das Schloß der Thür der Sacristei, und als diese sich halb öffnete, wurde der Kopf Le Borgne’s sichtbar. Sein abstoßendes, von Wein geröthetes Angesicht verzerrte sich in einer häßlichen Freude, als er den Grafen sah, der unbeweglich auf seiner Bank saß und nicht einmal den Blick zu ihm wandte.

„Er sitzt fest,“ höhnte er, „und fest ist das Schloß wie das Gitterwerk seiner Fenster, er wird mir und der Guillotine nicht entwischen!“ Dann verschwand er wieder und die schwere Thür schlug so gewaltig hinter ihm zu, daß es wie Donnerton durch das öde Kirchenschiff und hinaus in den Hof hallte.

Seltsam! aus diesem schweren dumpfen Schalle, der zwischen den Kirchenmauern langsam verhallte, stieg draußen auf dem Hofe der leise Klang einer Frauenstimme empor. Es war dasselbe Lied – dieselbe Stimme, welche der Graf vorhin gehört hatte, und die nun sang:

„Als Kind schon hörte ich den Sang,
Der mir ein Trost bis heut erklang.
Und Wort und Ton, und Ton und Wort,
Send’ ich als Trost zum fernsten Ort.“

Einen Augenblick horchte René dem Gesang und der Stimme, unfähig zu athmen, sich von seinem Sitze zu erheben. Dann sprang er mit dem Ausrufe: „Blanche! es kann nur Blanche sein!“ empor und flog auf eines der Fenster zu.

Draußen sah er hinter den Karren eine Bauerndirne, eine unbeholfene Gestalt, die das Lied gesungen haben mußte. Sie entfernte sich und drehte ihm dabei den Rücken zu. Nun aber, bevor sie in einem der Schuppen verschwand, wandte sie den Kopf nach der Sacristei hin – und der Graf erblickte ein gebräuntes fremdes Gesicht. Ein Ruf der Enttäuschung, den er hatte ausstoßen wollen, wandelte sich plötzlich in einen solchen der Ueberraschung und der Freude. Denn dicht unter dem Fenster, an dem er weilte, stand ein alter Mann in der Jacke der Landleute, mit langen weißen Haarsträhnen, die unter dem breitrandigen Hute hervortraten und das tiefgefurchte Gesicht umrahmten.

„Gratien!“ schrie Graf René sich vergessend auf, und der Alte flüsterte erschrocken:

„Um aller Heiligen willen, Herr Graf, schweigt und nehmt – thut, was ich sage!“ Damit warf er ein zusammengeknotetes kleines Bündel durch die Eisenstäbe des Fensters in die Sacristei und fuhr hastig fort: „Werft Euren Rock ab – in dem Bündel findet Ihr eine lange Jacke und einen Hut – legt Beides an. Dann entfernt von dem kleineren Fenster die mittelste der Eisenstangen – Pujol hat sie gelockert – und kommt durch die Lücke! Keine Minute ist zu verlieren.“

René hatte schon den Rock abgeworfen, das Bündel geöffnet und eine Schooßjacke nebst einem alten Breithute hervorgezogen und angelegt. Nun eilte er an das bezeichnete kleinste der Fenster – ein Rütteln an dem mittelsten der Eisenstäbe zeigte, daß er in der That nur lose in den Mauersteinen saß. Noch wenige Augenblicke, und er hielt ihn in seinen Händen. „Eine Waffe!“ keuchte er mit leuchtenden Blicken, dann zwängte er sich durch die schmale Oeffnung und sprang in den Hof hinab. Der alte Gratien zog ihn hinter den Fuhrwerken rasch mit sich fort.

Es war die höchste Zeit, denn schon setzten sich einige der Karren in Bewegung, doch die Beiden gelangten glücklich und unbemerkt zu dem Fuhrwerke, das früher von Pujol mit frischem Stroh versehen worden war. Hier flüsterte Gratien dem Grafen René zu:

„Klettert hinauf! bergt Euch unter dem Stroh. Sind wir draußen vor dem Thor, so dürft Ihr zum Vorschein kommen und ungehindert neben mir einhergehen, auch wird es dann Nacht geworden sein und Niemand Euch erkennen.“

Wenige Augenblicke später lag der Flüchtling wohlgeborgen unter dem Stroh, Gratien, der bereits seinen Gaul vorgespannt hatte, kauerte sich seitwärts auf den Schluß der Gabel seines Karrens, ein Schnalzen mit der Zunge, von einem leichten Peitschenschlage begleitet, und das unbeholfene Gefährt setzte sich langsam und polternd in Bewegung.

Die Wenigen, welche Pferde mit sich führten, ließ Gratien wohl mit Willen an sich vorbei, und als Letzter fuhr er hinter jenen drein; dann folgten die ärmeren Bauern, die ihre Karren selbst, mit Hülfe ihrer Söhne, Gevattern oder Nachbarn, heimwärts schleppen mußten. Pujol hatte das Thor weit geöffnet. Die wachehaltenden Sansculotten, welche noch im Hofe weilten, waren in keinem zurechnungsfähigen Zustande mehr – ihre anderen Cameraden hatten sich in die Stube zurückgezogen, dort ihren doppelten Rausch auszuschlafen, und Le Borgue, der da glaubte, seines Gefangenen sicher zu sein, that sich keinen Zwang mehr an: er trank mit bereits stieren Mienen weiter, höhnte lallend die Ausziehenden mit Worten, die Entsetzen und Abscheu hervorrufen mußten, doch legte er ihnen nichts in den Weg. Als der Karren [799] des alten Gratien bei dem Wachtposten angelangt war, trat Margot plötzlich aus der Wohnung Pujol’s und sagte diesem mit einem Anfluge von Trotz:

„Ich begleite den Großvater bis hinaus vor das Thor.“

„Kehre nur wieder für immer mit ihm heim!“ antwortete ihr der Alte mit seinen rauhesten Tönen. „Eine Dirne, wie Du, die nicht einmal die Carmagnole und das ‚Ça ira‘ kennt, kann ich in meiner Wirthschaft nicht gebrauchen.“

„Recht so, Pujol, alter Knabe!“ lallte Le Borgne. „Eine solche Dirne taugt selbst dem Henker nicht! Jage sie zu allen Teufeln!“

Der Karren mit seinem Führer, seiner gefährlichen Ladung war schon draußen auf der Gasse und Margot schritt neben dem alten Gratien dahin, unbekümmert um das, was der Trunkenbold ihr nachrief, wie um das Lachen und Scherzen des frechen Pöbels, der sie und die davonziehenden Karren umringte und begleitete. Sie ballte die Finger, welche sie nicht zum Gebet falten durfte, fest zusammen, und nur die nassen Blicke sandte sie mit einem unaussprechlich seligen Ausdruck nach oben, dem Herrn zu danken für die Rettung des Gatten, den sie jetzt schon geborgen und ihr für immer wiedergeschenkt wähnte.

Arme Frau!

Eine bange Viertelstunde und das Thor der Landseite, welches nach der Brücke des Cher führte, war erreicht. Hier brannte vor der Wachtstube der Sansculotten ein großes Feuer, das den Weg erhellte und die Aus- und Einziehenden besser erkennen ließ. Der Auszug der Karren war den Wachen bekannt und ungehindert passirten die ersten, mit Gäulen bespannten Fuhrwerke das Thor. Jetzt kam der Karren des alten Gratien, und trotzdem Margot sich in den Schatten des Gefährts drückte, wurde sie bemerkt und erkannt. Eine neue Gefahr erstand ihr und machte das Herz der starken Frau zum Zerspringen schlagen. Die Wächter eilten auf die andere Seite des Karrens, rissen sie mit Gewalt in die Nähe des flackernden Feuers, um sie besser zu betrachten, mit Späßen, die immer derber wurden, zu necken und zu höhnen. Dabei mußte Gratien mit seinem Fuhrwerk Halt machen. Vergebens bat der Alte mit zitternder Stimme, sein armes Enkelkind Margot ziehen zu lassen; vergebens rang diese die Hände, ihre Bitten mit ihren Thränen vereinigend, es half nichts. Je mehr sie sich sträubte, je kecker, wilder gestaltete sich die Lustbarkeit der Unholde. Da rief Einer: „Werft neues Stroh in das Feuer, damit es heller aufflackert und wir die braune Hexe besser sehen und bewundern können. Der Karren ist ja hochauf damit beladen!“ – „Vorwärts, greift zu!“ schrieen Andere, und wohl ein Dutzend Hände begannen das Stroh von dem Karren herabzureißen und in das Feuer zu werfen, welches plötzlich mit unheimlichem Knistern haushoch aufflackerte und den Platz ringsum mit einem grellen Schein beleuchtete.

Zugleich wurden von verschiedenen Seiten laute, wilde Rufe der Männer laut, von einem einzelnen Angstschrei einer weiblichen Stimme schneidend durchtönt, und von dem Karren zerrten die Wächter einen Mann in Bauerntracht zur Erde, der sichtbar geworden war, nachdem man das Stroh entfernt hatte. Vergebens versuchte er sich mit einer Eisenstange zu wehren, nur zu rasch wurde er von der Menge überwältigt. Der alte Gratien wußte nicht was beginnen, dort war seine Begleiterin mit einem grellen Aufschrei ohnmächtig, wie leblos zu Boden gesunken, und hier schleppte man seinen armen Herrn herbei, der, die Lippen fest auf einander gepreßt, mit stolzen, zürnenden Blicken auf seine Bedränger niederschaute, die ihn nicht erkannten und dennoch mit immer wilder ertönenden Flüchen bedrohten. Dem Grafen mußte der Alte sich zuerst zuwenden, denn dieser schwebte in größter Gefahr. Mit zitternder Stimme, die Hände flehend erhoben, rief er jammernd: „Laßt ihn! – laßt ihn, Ihr guten Leute! Es ist ein Nachbar – der ermüdet auf dem Stroh meines Karrens eingeschlafen war.“

Lautes höhnendes Lachen beantwortete diese zagend vorgebrachte Rede; es war, als ob sie genau das Gegentheil von dem bewirkt hätte, was der alte treue Diener zu erreichen versuchte. „Fort mit ihm, nach der Abtei!“ schrie es von allen Seiten, „dort wird man schon erfahren, wer der verdächtige Vogel ist, der sein Nest so tief unter das Stroh baute.“

Graf René wurde von einem Theil der Sansculotten ohne Aufenthalt wieder die breite Hauptstraße zurück, in der Richtung nach der Abtei St. Martin davongeführt, während die Anderen als Wächter des Thors und der beiden Begleiter des Gefangenen zurückblieben. Das Volk hatte sich des Karrens des alten Gratien als guter Beute bemächtigt und lärmend, johlend, das „Ça ira“ singend, fuhr man mit ihm davon, der Stadt zu. Das Stroh der übrigen Karren, welche von hier aus die Stadt verlassen hatten, wurde durchwühlt, doch als man nichts Verdächtiges fand, ließ man die Leute ziehen.

Gratien und die noch immer wie leblos am Boden liegende Margot fanden sich von Sansculotten umringt und von diesen durch Worte und Geberden hart bedroht. Einer der Elenden wollte die Ohnmächtige durch einen kräftigen Stoß seiner Pike „für die Guillotine“ wieder in’s Leben wecken, wie er höhnisch meinte, doch wurde er glücklicher Weise an solchem unmenschlichen Beginnen durch einen weniger fühllosen Cameraden gehindert. Endlich schlug Margot die Augen auf. Einige Augenblicke irrten die Blicke wie noch immer abwesend umher, die Lippen bewegten sich, als ob sie nach Worten rängen, bis endlich in einem zitternden Seufzer der Name „René“ hörbar wurde.

Da schrie einer der Sansculotten: „Ah! die Dirne hat uns verrathen, wer der Bursche ist, den wir fingen. René heißt er, Graf René von Semblancay ist es, den gestern die Patrioten einbrachten, und der heute in der Jacke eines Patrioten uns entwischen wollte!“

Ein toller Freudenjubel erhob sich nach diesen Worten, und in wildem Durcheinander rief es: „Auf, auf! dem elenden – verrätherischen Aristokraten nach! – Nach der Abtei! – Und die Beiden müssen mit, sie waren seine Helfershelfer und haben die Guillotine so gut verdient wie der Aristo!“

Arme Margot! Wieder zum Leben erwacht, hatte sie in der gräßlichsten Angst ihres Herzens den Namen preisgegeben, der das Todesurtheil für ihn, den sie so muthig zu retten getrachtet hatte – für sie selbst werden konnte. Doch würde sie auch nicht geredet haben, René wäre doch verloren gewesen, man hätte ihn in der Abtei trotz seiner Verkleidung erkannt. Arme Margot!

Beide, der alte Gratien und Margot, wurden hinter dem ersten Trupp drein und nach der Abtei gezerrt, doch als sie dort anlangten, war die erste, größte Aufregung bereits vorüber. Das plötzliche unerwartete Erscheinen des Grafen, den man in sicherem Gewahrsam glauben durfte, hatte auf die trunkenen Sansculotten ernüchternd gewirkt. Anfänglich überfiel sie ein starres Staunen, das sich jedoch bald in Wuthausbrüche wandelte. Der Erste, welcher sich gefaßt hatte und doch am schwersten davon hätte betroffen sein müssen, war der alte Pujol. Zugleich handelte er. Auf Le Borgne stürzte er sich, faßte ihn derb am Halse, und ihm den Schlüsselbund zu entwinden suchend, schrie er in gut gespielter wilder Aufregung: „Schurke! Du hast ihn entwischen Lassen! Nun sollst Du mit ihm das Gefängniß theilen – mit ihm auf das Schaffot, denn mein Amt als Schließer übernehme ich wieder – und verhafte Dich! Her mit den Schlüsseln!“

Doch Le Borgne war jünger und kräftiger als Pujol. Nach dem ersten Schrecken schleuderte er den alten Mann weit von sich und sprang auf die Kirche zu, wohin die Anderen den Gefangenen zerrten. Wenige Minuten nur, und er trat mit seinen Leuten wieder aus dem Gefängniß hervor, schreiend: „Durch das Fenster ist er ausgebrochen, eine Eisenstange fehlt, und nur von draußen kann sie entfernt worden sein. Pujol ist der Verräther!“

Le Borgne war jetzt Herr der Situation, und keiner seiner Genossen wagte ihm zu widersprechen, sie fügten sich sogar mit einer grimmen, gierigen Freude seinen Befehlen. Zweien der Sansculotten herrschte er zu, sich mit ihren Piken draußen vor das beschädigte Fenster aufzustellen, dort Wache zu halten und den elenden Aristokraten niederzustechen, wenn er sich ihnen nur zeigen würde. Dann schloß er die Kirchenpforte ab, und auf das zuschreitend, knirschte er mit einem zornglühenden Blick auf Pujol zwischen den Zähnen: „Nun kommt die Reihe an Dich, Du schuftiger Verräther.“

Der arme Pujol, durch den empfangenen Stoß schwer getroffen, vermochte sich kaum auf den Füßen zu halten, dennoch war er gewillt, den Kampf mit dem Unhold aufzunehmen. Leider kam es nicht dazu, denn jetzt zog der zweite Trupp der Thorwachen mit seinen beiden Gefangenen in den Hof ein. Mit welcher wilden Freude wurde Margot von dem wüthenden Jacobiner [802] empfangen! Er ließ die Leute ihren Bericht kaum zu Ende bringen, als er schon schrie: „Das ganze Complot ist entdeckt! Der alte Vendéer hat die Dirne mitgenommen, die den Gefangenen befreite, und Pujol ist ihr Complice. Nun haben wir ein Recht den Verräther einzusperren, und daß er mit den Anderen auf die Guillotine muß, dafür werde ich zu sorgen wissen. Ihre Köpfe sollen mir nicht entgehen, denn für morgen bin ich der Henker! Angefaßt, Cameraden, und in’s Gefängniß mit der Satansbrut!“

Während die Horde der Wächter ihrem neuen energischen Führer zujubelte, stahl einer von ihnen sich heimlich durch das Thor, um zu dem öffentlichen Ankläger zu eilen, diesem den Vorgang zu melden und sich dadurch wohl einen Lohn zu verdienen. Der arme Pujol war durch den Anblick Margot’s und des alten Gratien wie vom Blitz getroffen worden, und mit seiner Kraft schien ihm nun auch die Besinnung zu schwinden: er wußte, daß jetzt Alles verloren sei, für die armen Gefangenen sowohl, wie für ihn. Willenlos ließ er sich mit Margot und Gratien davonführen, und unter wilden Flüchen wurden die Armen in den öden Kirchenraum gestoßen. Dort sperrte Le Borgne sie zur größeren Vorsicht in eine der Seitencapellen ein, die noch mit ihrem starken Eisengitter versehen und besonders zu verschließen war.

Als Le Borque wieder im Hofe anlangte, blieb er plötzlich stehen, reckte seine lange knochige Gestalt, und während seine großen Augen gleich denen eines Raubthiers funkelten, sprach er mit einer Ruhe, die auffallend gegen die Wuth abstach, welche er soeben noch ungehindert hatte walten lassen, zu seinen Genossen:

„Jetzt merkt auf! Ich verlasse den Hof und die Stadt, und Ihr wacht über die Gefangenen – mit Euren Köpfen bürgt Ihr mir für sie! Die Schlüssel nehme ich mit, und bis ich wiederkehre, laßt Ihr Niemand – hört Ihr, Niemand, wer es auch sei, in den Hof – auch den Bouilly nicht, denn der steckt mit in dem Complote. Bald bin ich wieder zurück, und dann soll ein promptes, echt republikanisches Blutgericht über die Schurken gehalten werden, den rechten Richter bringe ich mit: – den Bürger Carrier von Nantes!“

Ein teuflischer Jubel folgte diesen Worten, und unter dem Rufe: „Es lebe Le Borgne, der echte Sansculotte und Jacobiner!“ verließ dieser den Hof des Gefängnisses, dessen Eingang dann nach seinem Befehle von innen mit dem schweren Riegel für Jedermann; selbst für den öffentlichen Ankläger des Revolutions-Tribunals, Bouilly, geschlossen wurde.

Keine Viertelstunde später sprengte Le Borgne auf einem guten Pferde über die lange Brücke und bog dann in die Straße ein, welche westwärts nach Angers und Nantes führte.


Unter den Terroristen, welche den Wohlfahrtsausschuß und die Commune, den Pariser Gemeinderath, bildeten und zur Zeit Paris und Frankreich beherrschten, war ein heimlicher Zwiespalt ausgebrochen, der bald immer offener sich kundgeben und endlich zum Sturze Robespierre’s, des Hauptes der Comités, und seines ganzen Anhangs, zu dem blutigen und folgewichtigen „9. Thermidor“ führen sollte. Die mit unbeschränkter Vollmacht nach Norden, Süden und Westen ausgesandten Commissaire des Wohlfahrtsausschusses, denen der Auftrag geworden, die Royalisten und Föderirten unbarmherzig durch die Guillotine oder vermittelst Pulver und Blei zu beseitigen, hatten ihre Aufgabe in einer Weise erfüllt, daß sich darob von einem Ende Frankreichs zum andern Entsetzensschreie erhoben. Besonders waren es die „Noyaden“, die sogenannten „republikanischen Hochzeiten“, von dem Proconsul Carrier in dem unglücklichen Nantes veranstaltet, bei denen sich zu einer unmenschlichen Grausamkeit noch ein wollüstiger Hohn gesellte, die eine allgemeine Empörung hervorriefen und selbst von den Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses gemißbilligt wurden. Diese wollten zwar auch eine gänzliche Vernichtung der Feinde der Republik, doch sollte dies rasch und mit so wenig Aufsehen als möglich bewerkstelligt werden. Der halbwahnsinnige Lebon, der Verwüster von Arras und der Normandie, wurde nach Paris vor das Comité berufen und mit heimlichem Tadel, doch mit öffentlicher Billigung seines unmenschlichen Verfahrens wieder in jene unglücklichen Departements zurückgeschickt. Commissaire, mit Instructionen und Vollmachten versehen, sollten nach den übrigen Departements abgehen, die verschiedenen Revolutions-Tribunale zu revidiren.

An die Spitze der Commission der Civil-Administration, der Polizei und Tribunale, der ersten jener zwölf Commissionen, welche unter dem Regimente des Wohlfahrtsausschusses die alten Minister ersetzten, war der berüchtigte Präsident des Pariser Revolutions-Tribunals, Armand Hermann, getreten, derselbe, welcher Marie Antoinette, die Hebertisten und Dantonisten zur Guillotine verurtheilt hatte. Von ihm war Carrier nach Nantes gesandt worden, nun schickte er ihm, klug der Strömung nachgebend, welche sich insgeheim, doch immer deutlicher gegen Robespierre geltend machte, den „Commis-Voyageur“ des Wohlfahrtsausschusses, den immer unterwegs sich befindenden Saint-André mit der nöthigen Begleitung nach. Er sollte Carrier von Nantes abberufen, nach Paris führen und dann dessen Nachfolger in der halbverwüsteten und verödeten Stadt werden, jedoch insgeheim erhielt er die Weisung, das dortige Revolutions-Tribunal in seinen Befugnissen zu beschränken oder aufzulösen und die noch vorhandenen Gefangenen nach Paris zu senden, wo man rascher und geräuschloser mit ihnen fertig zu werden hoffte.

Saint-André langte mit seinen drei Begleitern, einem Secretär und zwei Commissairen, in Nantes an, als die Vernichtungswuth Carrier’s wohl ihren höchsten Grad erreicht hatte. Der unselige Mensch war wie vom Blitze getroffen, als ihm so unerwartet und plötzlich ein Halt zugerufen wurde. All sein rasch wieder erwachter Grimm, sein Toben und Drohen, seine in den grellsten Farben ausgeführte Darstellung der Lage, der Gefahren, welche der Republik drohten, wenn man seinem allein zum Ziele führenden Verfahren Einhalt gebiete, fruchteten nichts. Die Functionen des Revolutions-Tribunals von Nantes wurden, gewiß unter dem heimlichen Jubel und den inbrünstigsten Dankgebeten der wieder aufathmenden Bewohner der unglücklichen Stadt, von Saint-André vorläufig suspendirt, und Carrier mußte sich zur Abreise nach Paris bereit halten. Während die andern Commissaire die Acten des Tribunals durchsahen, die Gefangenen verhörten, um einige davon sofort wieder in Freiheit zu setzen, jedoch den größten Theil in einzelnen Trupps durch die Marat-Compagnic über Le Mans nach Paris transportiren zu lassen, fuhr Carrier mit Saint André, einem vertrauten Schreiber und der nöthigen Bedeckung über Angers, Saumur nach Tours und Orleans, um auch die dortigen Revolutions-Tribunale zu visitiren.

Es war ein stolzer Zug, der da auf der Landstraße, die schönen Ufer der Loire entlang, dahinfuhr, würdig des Repräsentanten des Wohlfahrtsausschusses und Robespierre’s. In einem offenen Reisewagen mit vier kräftigen Pferden bespannt, den man in Nantes aufgetrieben hatte, saßen die beiden Volkstribunen mit ihrem Schreiber. Vorauf ritten zwei Husaren in ihren blau verschnürten Jacken, die, wenn auch bestaubt und herabgekommen, sich doch noch immer recht schmuck ausnahmen. Auf dem Haupt trugen sie die hohe, spitzzulaufende Mütze, unter der zu beiden Seiten die langen Haarflechten niederhingen, die noch ein Ueberbleibsel des ancien Régime waren, welches die Regimenter sich nicht nehmen lassen wollten. Vier andere Husaren beschlossen den Zug. Carrier’s Aeußeres erschien vernachlässigt, er hatte in Nantes Anderes zu thun gehabt, als an seinen Putz zu denken. Wohl trug er den Federhut und die dreifarbige Schärpe nebst dem langen Schleppsäbel an der Seite, doch die Farben der Hutzier wie die der Schärpe waren verblichen und beschmutzt, und die Klappen der Weste, welche sich nach republikanischer Mode weit über den Rock hinauslegten, sahen eher grau als weiß aus. Dagegen war sein Nachbar Saint-André in einer fast theatralischen Weise herausgeputzt. Seine in greller Farbenfrische prangenden Federn stiegen von dem einmal aufgeklappten Hute stolz in die Luft empor und waren durch das Rütteln des Wagen in immerwährender Bewegung. Sie nickten nach allen Seiten hin, als ob sie in herablassender Weise hätten danken wollen für die Zeichen der Bewunderung, der Unterwürfigkeit, die ihrem Besizer, dem Freunde des großen Robespierre, dargebracht wurden. Und doch war die Straße leer, das Land wie verödet, und anstatt dem stolzen Zug sich zu nähern, wenn er herankam und vorüberflog, zogen die Menschen sich zurück, als ob eine pestbehaftete, fluchwürdige Erscheinung vor ihnen aufgetaucht wäre, erleichtert aufathmend und sich heimlich bekreuzigend, wenn sie wieder verschwunden war. Die Unterhaltung zwischen dem abgesetzten und [803] dem neuen Volkstribunen konnte keine lebendige sein, denn Carrier’s Herz war von einem wilden Grimme, einer ohnmächtigen Wuth erfüllt, und wehe denen, die ihm jetzt als Opfer unter die Hände gefallen wären! Doch vor der Hand war er unschädlich geworden und ging dabei unbewußt seinem eigenen Untergang entgegen.

Bei dem Dorfe La Croix-Verte waren sie über die Loire nach Saumur und dessen altem Schlosse gefahren, in dem sich die republikanischen Behörden eingenistet hatten, und wo sich zugleich das Tribunal und die Gefängnisse befanden. Nach flüchtiger Revision der Acten durch Saint-André wurde der Tag unter den Jacobinern und Sansculotten festlich beschlossen. Der Wein floß dabei in Strömen, und in bewußtlosem Zustande suchten die würdigen Bürger des neuen Frankreichs und dessen Repräsentanten ihr Lager auf, um am andern Tage ihren Triumphzug nach Tours und Orleans fortzusetzen.

Gegen fünf Uhr in der Frühe sprengte ein Reiter, der sich durch sein Aeußeres sofort als echten Sansculotten und Jacobiner kennzeichnete, auf schweißbedecktem Pferde in den Schloßhof. Es war Le Borgne, der den weiten Weg von Tours bis Saumur in etwa sieben Stunden zurückgelegt hatte. Nach dem Bürger Carrier fragte er und verlangte dringend in wichtiger Angelegenheit ihn zu sprechen. Doch der Gesuchte schlief noch, trotzdem weckte man ihn. Der viele genossene Wein und der ihn verzehrende Ingrimm hatten ihn aber derart überwältigt, daß er erst nach langem Rütteln wieder zum Leben erwachte. Dann dauerte es noch eine ganze Weile, bis ihm die Besinnung wiederkehren wollte. Nun ließ er den Mann vor sein Lager kommen und forderte ihn fluchend auf zu reden, mit der Drohung, daß, wenn sein Bericht nicht die Mühe des Aufwachens lohne, er den Störer seiner Ruhe auf die Guillotine senden würde. Und Le Borgne erzählte von der Befreiung des Gefangenen in Tours.

Je weiter er redete, desto aufmerksamer horchte Carrier, und unheimlich begannen seine Augen unter den dunklen zusammen gezogenen Brauen zu leuchten, die schmalen Lippen sich in verhaltenem Grimm zusammenzuziehen.

Kaum hatte Le Borgne seinen mit den niedrigsten Schmähungen auf Bouilly, Pujol und das ganze Tours erfüllten Bericht geendet, als Carrier mit beiden Füßen aus dem Bette sprang, seine ganze Gestalt zitterte in zorniger Aufwallung und die Fäuste geballt schrie er:

„Und diesen aristokratischen Schuft, der gegen uns in der Vendée kämpfte, hielt Bouilly zwei Tage in Händen – und er lebt noch? Und sein Henker verhilft dem Gefangenen zur Flucht? Unerhört! nicht zu glauben, nicht zu fassen! Doch Geduld, Carrier ist in der Nähe und wird Euch richten. Alle – Alle! und wenn ich selber den Henker machen müßte.“

Rasch zog er sich an, jagte die harrenden Diener, welche voller Angst den Wuthausbruch des schrecklichen Menschen mit angehört hatten, hinaus, ihm und dem wackeren Jacobiner Wein und Speisen zum Frühstücke zu bringen, denn in einer Viertelstunde müsse er zu Pferd und auf der Straße nach Tours sein. Und nicht eher wolle er ruhen noch rasten, bis die elenden Feinde der Republik sammt und sonders ihre Verrätherei auf der Guillotine gebüßt hätten.

„Der André, der eitle Narr, schläft noch und wird noch Stunden schlafen,“ so murmelte er schließlich mit einer grimmen Verachtung vor sich hin, „und langt er in Tours an, so wird dort die Arbeit gethan sein.“

Wie freute Le Borgne sich dieser wildzornigen Energie, und um die Rückkehr keine Minute zu verzögern, verschlang er förmlich die Speisen, welche ihm vorgesetzt wurden. Als das kräftige Frühstück verzehrt worden war, eilten Beide in den Schloßhof nach den Ställen. Carrier befahl, den Bürger Saint-André nicht zu wecken und, wann er endlich aufgewacht sein würde, ihm zu sagen, daß er, Carrier, nach Tours vorausgeritten sei. Dann wurden zwei Pferde der Husaren gesattelt und ohne Rücksicht auf die Widersprüche der Soldaten von Carrier und Le Borgne bestiegen, die dann in raschem Trabe das Schloß und die Stadt verließen, um über die Loire La Croix-Verte und die nach Tours führende Straße zu erreichen.

Ihr Auszug war indessen von Saint-André nicht unbemerkt geblieben, denn Carrier hatte in seiner Stube wie im Hofe laut genug geschrieen und getobt, um von den Schläfern im Schlosse gehört zu werden. Kaum hatte daher der Commissair des Wohlfahrtsausschusses Näheres über den frühen und scharfen Ritt seines Gefährten erfahren, als er, Unheil witternd, sofort seinen Leuten Befehl gab, den Wagen anzuspannen und sich zur Abreise bereit zu machen. So kam es, daß keine halbe Stunde später auch Saint-André mit seinem Gefolge sich auf dem Wege nach Tours befand.

[826] Die Gefangenen zu Tours hatten in ihrem ruinenhaften und doch so festen Gefängniß eine traurige Nacht verbracht. Durch die ebenso kluge wie grausame Vorsorge Le Borgne’s war es ihnen nicht einmal möglich gewesen, sich der Sacristei zu nähern, um dem Grafen ein Zeichen zu geben. Geduldig mußten sie harren, bis die Stunde der Befreiung, die vielleicht die ihres Todes sein konnte, kommen würde. Doch die Zeit verging, der neue Tag drang in den wüsten Raum, und noch immer regte sich nichts, weder vor der Kirchenpforte noch in dem weiten Hofe. Stunde um Stunde schwand in gleicher beängstigender Stille dahin; der Mittag nahte heran, ohne daß Jemand sich zeigte, ihnen nur einen Trunk Wasser, ein Stückchen Brod zu bringen. Man mußte sie vergessen haben – oder sollte man sie absichtlich hier allein lassen wollen, um sie dem Tod des Verschmachtens preiszugeben? Solchen Befürchtungen verlieh Pujol Worte, dann faßte Margot, oder Blanche von Semblancay, wie wir sie jetzt nennen müssen, mit fester Hand nach ihrem von dem weiten Brusttuche bedeckten Mieder, als ob sie dort eine Waffe berge, die im Stande wäre, sie vor einem solchen qualvollen Ende zu bewahren und für immer mit dem geliebten, dem sichern Tode geweihten Gatten zu vereinigen. Doch jäh und zusammenfahrend ließ sie wieder von selchem frevlen Denken ab, und den Blick zu inniger Bitte nach oben gerichtet, faltete sie die Hände zum Gebet. Sie hoffte!

Mittag mußte schon eine ganze Weile, weit über eine Stunde, vorüber sein, da wurde es plötzlich in dem Gefängnißhof lebendig. Das große Thor schien lärmend weit aufgerissen zu werden, denn zwei dumpfschallende Schläge drangen bis in den Kirchenraum, dann näherten Stimmen sich rasch und hörbar dessen Eingang. Das alte Schloß knarrte, nun wurde ein Riegel nach dem andern aufgezogen und endlich öffneten sich auch beide Flügel der Pforte des entwürdigten Gotteshauses in ganzer Weite. Eine fanatische Menge drang in die Kirche ein, an ihrer Spitze zwei Personen, welche eher geradeswegs der Hölle entstiegen zu sein schienen, so abstoßend dünkten sie den hinter ihrem Eisengitter ihnen erschrocken entgegenschauenden drei Gefangenen. Carrier war es und sein Begleiter Le Borgne, die nach scharfem Ritt in Tours angelangt waren und sofort den Weg nach der Abtei eingeschlagen hatten, ohne sich um das zu kümmern, was hinter ihnen dreinzog und ihnen immer näher und näher rückte.

Auf der Schwelle des zerstörten Kircheninnern schrak sogar Carrier, dessen Auge und Herz sich doch an den furchtbarsten menschlichen Jammer gewöhnt haben mußte, sichtlich zusammen und zögerte weiter zu schreiten, so wüst und ekel erschien ihm das Chaos von Trümmern und Unrath, welche sein Auge zu streifen, sein Fuß zu betreten sich scheute. So drängten denn auch die sansculottischen Wächter des Gefängnisses und der Pöbel nicht weiter nach, sondern blieben draußen, den Eingang füllend, stehen, in Erwartung der Dinge, die da kommen mußten. Le Borgne, der den Weg nach dem Chor und der Sacristei einschlagen wollte, hemmte den Schritt und schaute Carrier fragend an. Dieser hatte eine erhöhtere Stelle seitwärts der Kirchenpforte erreicht und herrschte nun seinem Führer in gewohnter barscher Weise zu:

„Führe mir die Gefangenen her, hier will ich sie verhören und richten, und schnell soll es gethan sein!“

Sein Auge funkelte bei diesen Worten in schreckerregender Weise, und die Hand umkrallte den Griff seines langen Cavallerie-Säbels, den er wie ungeduldig in der metallenen Scheide lockerte, daß das scharfe klirrende Geräusch des Eisens unheimlich die Stille der weiten Hallen durchtönte. Le Borgne war nach der Sacristei geeilt, in seiner grimmen Freude mit seinen langen Beinen eilfertig die Trümmerhaufen überspringend, und als er nach kurzer Pause mit dem Grafen wieder zum Vorschein kam, da fuhr Carrier’s Gestalt hoch auf, und beide Hände auf die in ihren Riemen lenksame Waffe gestützt, schaute er mit seinen finsteren Blicken dem Gefangenen entgegen, als ob er nicht allein dessen Richter, sondern auch sein Henker wäre.

Ohne Furcht, aber mit unverhohlenem Abscheu, trat Graf René dem Manne näher, dessen Namen Le Borgne ihm genannt, mit Absicht genannt, und von dessen entsetzlichen Thaten er in seinem Versteck nur zu oft Kunde erhalten hatte. Als er vor ihm stand, eilte Le Borgne in gleicher Hast wie früher davon, die drei übrigen Gefangenen herbei zu holen.

Einige Augenblicke schauten die beiden Männer einander an, und vor dem flammenden Blick des Gefangenen mußte Carrier sein Auge senken, wodurch der Haß und Zorn in seinem Innern nur gesteigert werden konnte. Dann schüttelte die ganze Gestalt sich wie in heftigem Unwillen und in seiner frechen Weise fragte er:

„Du bist also der ci-devant Graf von Semblancay, der bei Le Mans unter dem Schurken, dem Fuhrknecht Cathelineau, gegen die wackeren Soldaten der Republik kämpfte?“

„Ich bin Graf René von Semblancay,“ entgegnete René mit einer stolzen Ruhe, als ob er die Beschimpfungen des Andern nicht vernommen hätte oder ihnen nur mit Verachtung begegnete. „Zugleich bin ich Capitain in dem Heere Sr. Majestät unseres allergnädigsten Königs Ludwig XVII., das unter Führung seines edlen Commandanten Cathelineau für Thron und Altar kämpft und jederzeit bereit ist, freudig das Leben für die königliche Sache zu opfern.“

„Das wagst Du mir zu sagen?“ schrie Carrier auf, zitternd vor Zorn und das fahle Gesicht nun mit einer flammenden Röthe bedeckt, „hast dies Alles natürlich auch Deinen Richtern gesagt und trägst trotzdem nach drei Tagen Deinen Kopf immer noch auf dem Rumpfe?!“

„Ich habe Jedem frei und offen also geantwortet, der mich darum befragte, wie es sich für einen Mann von Ehre geziemt, und ich würde keinen Augenblick anstehen, Deinen Obern, den tausendfachen Mördern und ihrem fluchwürdigen Haupt Robespierre, in gleicher Weise zu antworten.“

„Du Schuft!“ schrie Carrier sinnlos vor Wuth auf, und zugleich fuhr sein Säbel klirrend aus der Scheide.

„Stünde mir eine Waffe zu Gebot, so würde ich den Elenden, der ein solches Wort mir gegenüber wagte, passend zu züchtigen wissen,“ lautete die mit Hoheit gegebene Antwort des Grafen.

Da hob sich der Arm Carrier’s mit der blinkenden Waffe, zugleich wollte er mit einem Sprung sich auf den unbeweglich vor ihm stehenden Grafen stürzen, als er plötzlich mit einem grellen Wuthschrei innehielt und wie vor Schreck erstarrt stehen blieb. Denn Unerwartetes war mit der Schnelligkeit eines Blitzes geschehen.

Aus der längst von Le Borgne herbeigeführten Gruppe der anderen Gefangenen hatte sich Blanche gelöst und war auf den Grafen zugeflogen, den Bedrohten mit ihrem Leibe deckend. Während sie den Gatten mit dem linken Arm heftig umschlang, war die Rechte unter dem Tuch des Mieders mit einer dort verborgen gehaltenen Pistole wieder zum Vorschein gekommen, deren Mündung sie auf Carrier richtete, in demselben Augenblick, als dieser in seiner Wuth den Arm zum tödlichen Streiche auf den Grafen erhoben hatte. Zugleich rief sie mit einer Stimme, die wie der Ruf eines richtenden Erzengels in hellem ergreifenden Klang die Kirchenhalle durchtönte:

„Zurück, Unmensch! oder Du bist des Todes!“

Carrier wankte – sein Fuß strauchelte und mit dem einen Knie sank er zu Boden; sein Gesicht war erdfahl geworden, die Mündung der todbringenden Waffe sah er immerfort und unbeweglich auf sich gerichtet – den Arm mit dem Säbel hatte er vollends sinken lassen.

Ein Staunen, mit Erschrecken gepaart, hatte sich Aller bemächtigt, die Zeuge dieser Scene gewesen; der Athem eines Jeden schien zu stocken, keiner einer Bewegung fähig zu sein, bis auf die rohen Sansculotten, die draußen standen und ihre tiefe Ergriffenheit nicht zu verbergen vermochten. Selbst Graf René, der sein theures Weib, dessen Liebe und Heldenmuth so Hohes für ihn gewagt, ihm das Leben gerettet hatte, in seinen Armen wußte, selbst er vermochte im ersten Augenblick nicht einmal den Namen Blanche auszurufen.

Da durchtönte die ergreifende Stille, und die Spannung des Augenblicks lösend, eine fremde Stimme, die mit Ruhe, doch auch mit einer überlegenen Ironie sagte:

„Ei, ei, Bürger Carrier! Du liegst vor einer Aristokratin auf den Knieen? – und deshalb bist Du mir heute früh – [827] desertirt? Es ist wohl eine Wandlung mit Dir vorgegangen, aus dem sansculottischen Saulus ist ein royalistischer Paulus geworden? Oder sollte das kleine Ding in der Hand der Frau dort Deine zarten Nerven so gewaltig erschüttert haben?“

Es war der Commissair des Wohlfahrtsausschusses Saint-André, der mit seinem Gefolge gleich nach Carrier in Tours angelangt und, von dem öffentlichen Ankläger Bouilly geführt, sofort nach der Abtei geeilt war. Beide Beamten der Republik hatten die Schwelle der Kirche im entscheidenden Augenblick erreicht, und mit durchaus verschiedenartigen Gefühlen waren sie dem Auftritt gefolgt. Saint-André empfand eine nicht geringe Freude über die fatale Niederlage Carrier’s, die er jedoch nur durch seine ironischen Worte kundgab, während Bouilly’s Blicke leuchteten, nicht etwa nur aus Theilnahme: er hatte die Scene mit den Augen des Dichters, des Dramatikers erschaut.

Nach den Worten Saint-André’s, die Carrier wie mit glühenden Nadelstichen treffen mußten, hatte sich dessen Lippen ein grimmer Fluch entrungen und keuchend, zitternd vor Wuth und Schrecken, erhob er sich vom Boden. Schon redete Saint-André weiter, und mit ernstem, beruhigendem Ton wandte er sich an Blanche, die noch immer die toddrohende Waffe schußfertig in ihrer Hand hielt.

„Setzt die Waffe in Ruhe,“ so sprach er, „Ihr habt von uns nichts für den Mann an Eurer Seite zu fürchten: die Republik wird ihn richten, und ihrer Gerechtigkeit dürft Ihr vertrauen.“

Da löste sich die Starrheit der heldenmüthigen Frau in ein krampfhaftes Schluchzen auf. Die Pistole ließ sie zu Boden fallen, und beide Arme um den Hals des Gatten schlingend, ihn krampfhaft an ihre Brust drückend, stieß sie unter Weinen und Lachen nur die Worte hervor: René, mein René!“

„Mein geliebtes, heldenmüthiges Weib! meine theure Blanche, wie kann ich Dir danken – wie Dir jemals vergelten, was Du in Deiner Liebe für mich gethan hast?!“ So vermochte René endlich zu reden, und indem er die geliebte Gattin in seinen Armen hielt und ihre Stirn küßte, wurden auch seine Augen feucht. Und er schämte sich dieser Mannesthränen nicht, hatte doch mancher der rohen Sansculotten nach den Augen fahren müssen, sich dort ein Naß wegzuwischen, das ihnen wohl schon längst fremd geworden sein mußte.

Nun grüßte auch der alte Gratien mit thränenfeuchten, doch glücklichen Blicken seinen Herrn, nur Pujol stand abseits, finster zu Boden blickend, als wenn er nicht würdig sei, sich der Gruppe der Glücklichen zu nähern.

Carrier war hinaus in den Hof gestürzt, von Le Borgne gefolgt. Nun verließen auch Saint-André und Bouilly den Kirchenraum, und scheu theilte sich die Menge vor dem buntgeputzten hohen Beamten der Republik. Da trafen sie auf Carrier, der zornwüthenden Blickes sich vor Saint-André hinstellte und ihm mit zischenden Tönen die Worte zuschleuderte:

„Ich reite direct nach Paris, um dem Comité, das Dich gesandt hat, Dich und Dein verrätherisches Thun zu denunciren!“

„Und ich begleite den Bürger Carrier, um als Zeuge gegen Euch Alle auszusagen!“ schrie Le Borgne, zugleich den Bund Schlüssel Bouilly vor die Füße werfend.

„Gehe!“ rief Saint-André mit höhnischem Drohen Carrier nach, der auf die in der Nähe des Thors angebundenen Pferde zuschritt, „und sieh Dich vor, daß Du nicht selber auf die Guillotine geschickt wirst! Doch nun ist es Zeit zu frühstücken,“ wendete er sich jetzt fast scherzend an Bouilly. Der Satansmensch hat mir seit fünf Uhr in der Früh keinen Augenblick gegönnt, um nur einen Bissen, einen Trunk zu mir zu nehmen, was allein schon die Guillotine verdient hätte, welcher der Wahnwitzige gewiß nicht entgehen wird. Gebt rasch Eure Befehle, dann kommt, alles Uebrige besprechen wir bei Tische, denn auch ich darf keinen Augenblick mehr säumen, muß rasch ihm nach und nach Paris.“

Bouilly ließ den Hof von dem Pöbel, der eingedrungen war, säubern, dann hieß er einen der Wächter die Schlüssel an sich zu nehmen, die Kirchenpforte zu schließen und die Gefangenen einstweilen in ihrem Verwahrsam zu belassen und zu bewahren.

Carrier und Le Borgne trabten auf ihren abgetriebenen Pferden, die sie bald durch frische zu ersehen gedachten, davon, und wenige Augenblicke später fuhr der Wagen des Commissairs der Republik, der draußen auf der Gasse gewartet hatte, mit Saint-André und Bouilly, von den Husaren gefolgt, nach dem ehemaligen erzbischöflichen Palais, dem heutigen Tempel der republikanischen Gerechtigkeit und der Wohnstätte ihres ersten Priesters.

Wiederum waren zwei Stunden vergangen, für die Gefangenen in einer hoffnungsfreudigen Erwartung, die sie vollständig vergessen ließ, daß sie seit gestern Nachmittag nichts genossen hatten. René und Blanche hatten für nichts Anderes Sinn, als für ihre Wiedervereinigung, ihre Rettung aus drohender Gefahr, doch auch die beiden alten Leute, Gratien sowohl wie den armen Pujol, ließen sie theilnehmen an ihrem Glücke, das bald in einer stillen, seligen Herzensfeier sich äußerte, bald in himmelhoch jauchzenden Freudenlauten Ausdruck zu finden suchte. Da wurde endlich die große Pforte wieder geöffnet, und der neue Schließer trat ein. Er habe Befehl, die Gefangenen vor den öffentlichen Ankläger zu führen, so sagte der Mann und forderte dann die Vier auf, ihm zu folgen.

Als sie vor Bouilly in dessen zeitweiliger prächtiger Wohnung standen, sprach dieser vorerst zu Pujol ernst und jedes Wort betonend: „Nimm die Schlüssel der Abtei wieder an Dich; entlasse die Patrioten bis auf zwei, welche als Wache für die Gebäulichkeiten genügen; die Gefangenen sollen an anderem Orte abgeurtheilt werden.“

Nachdem Pujol und dessen Gefährte sich entfernt hatten und Bouilly sich mit den drei Gefangenen allein befand, sagte er nach einigen Augenblicken der Sammlung mit einer Verbeugung zu dem Grafen:

„Durch den Commissair der Republik ist mir die Weisung geworden, Sie nach beendigter Untersuchung dem Revolutions-Tribunal zu Paris zu überweisen. Doch dürften darüber noch mehrere Tage vergehen. Bis dahin soll – meine Wohnung Ihr Gefängniß sein, wenn Sie mir Ihr Wort geben wollen, dieselbe nicht ohne mein Wissen zu verlassen.“

Ein zitternder Freudenlaut Blanche’s beantwortete diese wohlwollende Rede, und Graf René blickte freudig erstaunt auf den ehemaligen Jugendfreund und entgegnete:

„Ich verspreche es Ihnen nicht allein mit meinem Ehren worte, sondern — gebe Ihnen auch die Hand darauf.“

Zugleich reichte er Bouilly die Rechte, die dieser gerührt ergriff und als ein Zeichen der Versöhnung mit freudigem Danke in der seinigen preßte.


Die Tage vergingen, und noch immer weilte Graf René von Semblancay mit seiner Gemahlin, nur dem Sinne nach, nicht in Wirklichkeit als Gefangener, in der Behausung des Beamten der Republik. Da nahte der 9. Thermidor, und bald langte auch von Paris die Kunde an von dem Sturze Robespierre’s und der Hinrichtung des Tyrannen und seines ganzen blutgierigen Anhangs: etwa hundert Personen, fast die ganze Pariser Commune sandten die Sieger auf die Guillotine. Die Schreckensherrschaft war vorüber, und wie Paris, athmete ganz Frankreich auf. Als Bouilly diese wichtige Kunde mit unverhohlener Freude seinem Gefangenen mittheilte, sprach er leuchtenden Blickes zu ihm:

„Nun sind Sie frei, Herr Graf, auf meine Verantwortung entlasse ich Sie, Ihre Frau Gemahlin und Ihren alten treuen Diener. Und nun hören Sie weiter, was ich mir für Ihre nächste Zukunft ausgedacht habe. Denn Vorsicht ist noch immer nöthig, und die besseren Zeiten werden wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. In dem nahen Coudraye befindet sich das Haus meiner Eltern, es steht in der Obhut eines Mannes, der Vertrauen verdient. Eine Weisung ist bereits an ihn abgegangen, daß die Stätte meiner Geburt neue Bewohner erhalten wird, die er als Herren des Orts zu betrachten hat. Ich biete Ihnen das Haus mit Allem, was es enthält und umfaßt, als ein Asyl an, das Ihnen Sicherheit gewähren wird, und zwar für so lange, als Sie es mit Ihrer Gegenwart zu beehren für gut und rathsam finden werden. Ich hoffe, Herr Graf, daß Sie mein wohl gemeintes Anerbieten nicht zurückweisen werden, und müßte ich dazu als Beistand – die Erinnerung an alte, glückliche Zeiten in Ihrem Gedächtniß wieder wachrufen.“

Graf René war vollends besiegt. Tief gerührt entgegnete er rasch:

„Nur von einem Freunde kann und darf ich einen solchen edelherzigen Dienst annehmen, und ich thue es mit innigstem Danke für mich und meine Blanche, indem ich Ihnen betheuere, [828] daß heute mein Herz für Sie empfindet, wie in unserer schönen Jugendzeit, und mein Mund Sie wie damals mit dem Freundesnamen grüßt!“

Nach diesen Worten umarmte er Bouilly, und Gräfin Blanche reichte ihrem Retter mit dankenden Worten die Hand.

Noch an demselben Tage verließ das junge, der Freiheit und dem Leben wiedergegebene Paar in einfach ländlicher Kleidung und in Begleitung des alten treuen Gratien die Wohnung des neugewonnenen Freundes und die Stadt. Diesmal hatten sie keinen störenden Aufenthalt an dem Thore, denn Zeit und Menschen hatten sich bereits merklich geändert, und der Beamte der Republik geleitete sie, um die Freunde in ihre neue Heimath einzuführen. –

Das Revolutions-Tribunal zu Tours wurde von den neuen Machthabern aufgehoben, und Bouilly ward seiner Stelle als öffentlicher Ankläger ledig. Bald darauf kehrte er nach Paris zurück, das er von nun an nicht mehr verlassen sollte.


In Paris nahm Bouilly seine schriftstellerische Thätigkeit wieder auf, die sich mit besonderer Vorliebe, und von einem seltenen Erfolge gekrönt, der Operndichtung zuwendete. Er hatte Viel erlebt und an Stoffen fehlte es ihm nicht. So wurde er durch das nicht gewöhnliche Darstellungstalent der ersten Sängerin des Theaters Feydeau, der schönen Madame Scio, angeregt, die hochdramatische Situation, der er im Gefängnisse der Abtei zu Tours beigewohnt hatte, als Blanche von Semblancay das Leben ihres Gatten gegen den Unmenschen Carrier mit einem bewunderungswürdigen Heldenmuthe vertheidigte, dramatisch zu verwerthen. Doch mußte er dazu Zeit, Ort und Namen ändern – es wäre unmöglich, zu gefährlich und auch zu undelicat gewesen, anders zu verfahren. Er schrieb ein Opernbuch, das er „Léonore, ou l’amour conjugal, fait historique en deux actes“ (Leonore, oder die eheliche Liebe, eine historische Begebenheit, in zwei Acten) benannte, dessen Handlung in Spanien und vor etwa hundert Jahren spielte. (Erst später änderte Bouilly diese Bezeichnung und sagte „Fait historique espagnol“.) Gaveaux, der erste Tenor des Theaters Feydeau, zugleich fruchtbarer Operncomponist, setzte das Buch in Musik, und am 19. Februar 1798 wurde die Oper unter obigem Titel in dem genannten Theater zum ersten Male aufgeführt. Der Erfolg war für das Buch ein ganz bedeutender, für die Musik ein weniger guter, und deshalb hielt sich die Oper nicht lange auf dem Repertoire. Auch fand diesmal nur das Buch den Weg über die Grenze nach Deutschland. Zuerst componirte es hier der Italiener Paër, damals Capellmeister der italienischen Hofoper in Dresden, dann gelangte es in die Hände Beethoven’s, dem es Gelegenheit bot, sein Meisterwerk „Fidelio“ zu schaffen, das 1805, bei seiner ersten Aufführung verkannt, bei Seite gelegt – 1814 mit größerem Glücke, weil besser verstanden, wieder aufgenommen – erst 1822, durch die hinreißende Wiedergabe der Titelrolle durch die achtzehnjährige geniale Wilhelmine Schröder (bald darauf Schröder-Devrient) sich den bewundernden Zeitgenossen in seiner ganzen Größe, seinem vollen Glanze offenbarte, das als eines der größten musikalisch-dramatischen Meisterwerke gelten wird, so lange die Menschen Freude empfinden an dem wahren Schönen in der Kunst.