Das Tusculum eines amerikanischen Dichters
Unter der großen Zahl fremder Schriftsteller unserer Zeit sind wenige in Deutschland besser bekannt und höher geschätzt, wie der Amerikaner Washington Irving, und er ist in der That der Anerkennung würdig, die ihm dort gezollt wird. Eine leichte,
gefällige und doch abgerundete Schreibart, reges Phantasiespiel, ausgezeichnete Gabe der Darstellung und ein Humor, der lebhaft an Walter Scott erinnert, sind die Vorzüge, welche Irving den Beifall aller gebildeten Völker erworben haben; den deutschen Leser aber zieht besonders die Gemüthlichkeit an, die sich in seinen Schriften, namentlich denen leichteren Inhalts, ausspricht. Man kann Irving’s Werke nicht lesen, ohne seine Persönlichkeit lieb zu gewinnen und sich zu ihm hingezogen zu fühlen, wie zu einem Freunde; und wie er sich dem Leser in seinen Schriften darstellt, so war er auch wirklich im Leben: einfach, wahr, bescheiden, wohlwollend, milde in der Beurtheilung Anderer und voll hohen Sinnes für das Recht. Nicht der leiseste Makel haftet an seinem Namen. Sein vor einigen Jahren erfolgter Tod erregte überall in den Vereinigten Staaten das größte Bedauern, und hier in New-York, seiner Geburtsstadt, fanden öffentliche Demonstrationen statt, um sein Andenken zu ehren. Es ist nicht meine Absicht, in diesem Aufsatze auf Irving’s literarisches Wirken im Einzelnen einzugehen; seine anmuthigen kürzeren Schilderungen sowohl, wie seine wichtigeren Werke geschichtlichen Inhalts werden ja im Originale oder in der Uebersetzung von allen Gebildeten in Deutschland gelesen, und das „Skizzenbuch“, die „Erzählungen eines Reisenden“, „Bracebridge-Hall“, die „Alhambra“, das „Leben des Columbus“ etc. sind dort kaum minder einheimisch, wie hier in seinem Geburtslande.
Irving hat fast den dritten Theil seines langen, thätigen Lebens in Europa zugebracht. Meistens in England verweilend, machte er von dort aus Reisen nach den Niederlanden, Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien, und in letzterem Lande sammelte er den Stoff für seinen „Columbus“ und andere auf Spanien bezügliche Schriften. Als er nach seinem zweiten siebenzehnjährigen Aufenthalte in Europa in gereiftem Alter in sein Vaterland zurückgekehrt war, erwarb er sich an den Ufern des Hudson, jenes Stromes, den er so trefflich beschrieben und mit dem Zauber der Romantik umkleidet hat, einen Landsitz, wo er, fern vom Getümmel der großen Metropole, in ländlicher Zurückgezogenheit [117] seinem literarischen Berufe oblag. Dieses Landhaus, von Irving „Sunnyside“„(sonnige Seite) getauft, hat eine gewisse Berühmtheit erlangt, sowohl wegen der Erinnerungen, die sich an seinen ehemaligen Bewohner knüpfen, als auch wegen seiner merkwürdigen alterthümlichen Bauart und reizenden Lage, und es wird daher von Fremden und Einheimischen häufig besucht.
An einem Sonntage im October des vorigen Jahres unternahm ich meinen lange beabsichtigten Ausflug nach Sunnyside, wobei ich zwei junge mir befreundete Amerikaner zu Begleitern hatte. Eine einstündige Fahrt auf der Hudson-River-Eisenbahn brachte uns, dicht am linken Ufer des schönen Stromes hin, zur Station Irvington, wo wir den Zug verließen. Nach kurzer Wanderung
sahen wir auf einer niedrigen, aber steilen Anhöhe zu unserer Rechten die Giebel von Sunnyside über Baumwipfeln hervorragen. Einige Augenblicke später standen wir vor dem Gebäude. Das Haus unterscheidet sich in Art und Form von allen den stattlichen, die verschiedensten Baustyle vertretenden Landhäusern, mit welchen die Ufer des Hudson besät sind; obwohl von sehr bescheidener Größe, hat es ein solides, dauerhaftes Ansehen und ist holländischen Ursprungs, wie die mit Wetterhähnen gekrönten Treppengiebel auf den ersten Blick zeigen. Das rothe Dach bildet einen angenehmen Gegensatz zum weißen Anstriche, obwohl von letzterem nicht viel gesehen werden kann, da das Gebäude fast ganz in Grün gehüllt ist; Geisblatt, wilde Rosen, Epheu und andere Rankengewächse wuchern an den Wänden mit solcher Ueppigkeit empor, daß sie beinahe die Fenster verbergen und dem Hause ein laubenartiges Ansehen verleihen. Der Epheu von Sunnyside stammt von einer Ranke, die einst die Mauern von Melrose-Abbey in Schottland, unweit von Abbotsford, dem bekannten Wohnsitze Walter Scott’s, zierte. Ganz dem ländlichen, idyllischen Charakter des Hauses entsprechend sind die malerischen Gruppen von stattlichen Bäumen und Gebüschen, welche auf rasigem Grunde dessen nächste Umgebung bilden; ein Bach fließt murmelnd in steinigem Bette durch die Besitzung und speist einen kleinen Weiher, in welchem sich Enten lustig herumtummeln.
Sunnyside hat Irving von 1836 bis zu seinem im Jahre 1859 erfolgten Tode zum Wohnsitze gedient; von diesem Zeitraume sind jedoch vier Jahre abzurechnen, welche er in der ehrenvollen Stellung eines Gesandten der Vereinigten Staaten am spanischen Hofe zubrachte. Irving war bekanntlich nie verheirathet; seinem Haushalte in Sunnyside standen einige Nichten, die Töchter eines älteren Bruders, vor, die noch jetzt das Haus bewohnen. Lange bevor Irving Sunnyside zu seinem Aufenthalte auserkor, war es sein Wunsch gewesen, in der Nähe des Hudson einen Ruheplatz zu finden, „um dort,“ wie er sich ausdrückte, „fern von den Zerstreuungen der Welt, den Rest eines bewegten Lebens in Frieden zu verträumen.“ Dieses Verlangen ist vollständig erfüllt worden. In unabhängigen äußern Verhältnissen lebend, von theilnehmenden Verwandten umgeben und inmitten der Scenen, denen er seine ersten Eingebungen verdankte, hat er sich viele Jahre der ersehnten Ruhe erfreut, ohne jedoch immer zu „träumen“, wie seine späteren Schriften, aber namentlich die Bände beweisen, in denen er das Leben Washington’s beschrieben hat.
Wir verweilten lange in der anmuthigen Nähe von Sunnyside, Alles in Augenschein nehmend, was uns bemerkenswerth erschien; unser letzter Besuch galt der zwischen Bäumen versteckten niedlichen Gärtnerwohnung, welche nach einem von Irving selbst entworfenen Plane erbaut worden ist. Dann nahmen wir Abschied von dem Tusculum des amerikanischen Dichters und zogen weiter. Das nächste Ziel unserer Wanderung war Tarrytown, wenige Meilen weiter am Hudson hinauf gelegen. Dies ist der Ort, dessen Umgebung Irving zur Scene einer seiner reizendsten kleinen Erzählungen, der Sage vom „schläfrigen Thale“ gemacht hat, und ganz in der Nähe, ja jetzt im Orte selbst, befindet sich die Stelle, wo Major André gefangen genommen wurde. Bekanntlich war es André, englischer Major und Adjutant General Clinton’s, gewesen, der im Auftrag seiner Regierung mit dem Verräther Arnold unterhandelte welcher sich erboten, gegen einen Judaslohn von dreißigtausend Pfund Sterling den Engländern den wichtigen Punkt Westpoint am Hudson zu übergeben, dessen Befehlshaber er war. Der Anschlag mißglückte; André ward ergriffen und als Spion aufgeknüpft.
Die Amerikaner haben André stets milde beurtheilt und ihm diejenige Achtung und Sympathie gewidmet, welche seine männlichen Eigenschaften und sein trauriges Loos verdienen. Er handelte lediglich im Interesse des Monarchen, in dessen Diensten er stand, indem er sich in jenes gewagte Unternehmen einließ, und als es fehlgeschlagen war und er keinen Ausweg vor sich sah, ergab er sich mit Würde in sein Schicksal und ging kaltblütig und entschlossen einem schimpflichen Tode entgegen. Jung, schön und talentvoll, fiel er der eisernen Regel des Krieges zum Opfer, während Arnold, der Schuldige, zeitig von ihm gewarnt, sich durch die Flucht rettete und seinem verdienten Schicksale entging. André’s Hinrichtung fand zu Tappan, auf der andern Seite des Hudson, statt, wo er auch begraben wurde; später jedoch brachte man seine Ueberreste nach England und setzte sie in der Westminsterkirche bei, woselbst ihm Georg der Dritte ein Denkmal errichten ließ. Seit 1853 bezeichnet auch in Tarrytown ein Denkmal den Ort seiner Gefangennehmung. Dieses nahmen wir zunächst in Augenschein.
Eine etwas steile Straße zwischen vereinzelten Häusern hinansteigend, gelangten wir bald zu der nach New-York führenden Landstraße, an welcher uns das Denkmal sogleich in die Augen fiel. Hier war es, wo André am 23. September 1780, als er sich in bürgerlicher Kleidung zu Pferde nach New-York begeben wollte, von drei bewaffneten Männern der Umgegend angehalten und gezwungen wurde, vom Pferde zu steigen. Seine Kleider wurden untersucht, und die verhängnißvollen Papiere kamen zum Vorscheine, die sein Schicksal besiegelten. Vergebens bot er eine bedeutende Summe, um seine Freiheit zu erkaufen: die Landleute wiesen alle Anerbietungen zurück und blieben unbestechlich. Er befand sich ganz nahe bei den englischen Vorposten und hielt in der That jene Personen für solche, wie aus dem Umstande hervorgeht, daß er sich ihnen unvorsichtiger Weise als Royalisten zu erkennen gab. Das Denkmal ist ein einfacher steinerner Obelisk von etwa zwanzig Fuß Höhe. Eine Inschrift auf der Seite, welche der Landstraße zugekehrt ist, belehrt uns, daß hier Major André, „der Spion“, an dem bereits erwähnten Tage von John Paulding, David Williams und Isaac van Wart zum Gefangenen gemacht worden sei, und preist die Uneigennützigkeit und Vaterlandsliebe der Genannten. Dieser Obelisk und André’s Monument in der Westminsterkirche! Ist wohl ein größerer Gegensatz denkbar? Zu André’s Zeit war dieser Platz ohne Zweifel noch wild und einsam; jetzt aber hat sich Tarrytown gegen die Anhöhe [118] hin ausgedehnt, und Landhäuser und Gärten bilden die Umgebung des Denkmals.
Nachdem wir darauf eine kurze Strecke nordwärts auf der Landstraße vorangeschritten waren, kamen wir zu einer links ablenkenden Biegung derselben, die uns bald in den Bereich von Sleepy Hollow (schläfriges Thal) brachte. Zu beiden Seiten des Weges erblickt man jetzt ländliche Wohnungen und Gärten, welche dieser überaus schönen und mit Vorliebe besiedelten Gegend den Charakter der Einsamkeit und Stille benehmen, weshalb auch die Bezeichnung „Sleepy Hollow“ heut zu Tage weniger passend erscheint, als zur Zeit, in welcher Irving seine Erzählung schrieb. Ganz in der Nähe auf einem kleinen Hügel, rechts vom Wege, steht die alte Kirche, deren Lage im „schläfrigen Thale“ so anmuthig geschildert wird. Sie ist von geringem Umfange und schmucklos und erinnert mit ihrem kleinen Glockenthürmchen an jene größeren Capellen, die man in den katholischen Theilen Deutschlands häufig antrifft. Hier zu Lande, wo fast alle Gebäude neuen Ursprunges sind, gilt diese Kirche für alt, weil sie, wie eine Inschrift an der Vorderseite anzeigt, im letzten Jahre des siebenzehnten Jahrhunderts erbaut wurde. Schon von Weitem hörten wir die Glocke zum Nachmittagsgottesdienste läuten und sahen die Kirchengänger in ihrer sonntäglichen Kleidung von allen Seiten herbeikommen. Die Gemeinde gehört, wie ehemals, der holländischen reformirten Kirche (Dutch reformed Church) an. Dicht an die Kirche stößt der geräumige, mit Grabsteinen ganz bedeckte Kirchhof, „auf dem die Sonnenstrahlen so ruhig zu schlummern scheinen.“ Hier und da eine alte Grabschrift lesend, durchwanderten wir denselben und gelangten an die nördliche Grenze, woselbst ein zweiter neuerer Kirchhof an den alten stößt. Ein schmaler, von lebendigen Hecken eingefaßter Pfad trennt beide. Auf diesem neuen Kirchhofe schläft Irving den langen Schlaf. Eine eiserne unverschlossene Gitterthür mit der Inschrift „Irving“ führt zu einem eingehegten Platze, wo die Angehörigen Irving’s in langer Reihe schlummern. Sein Grab befindet sich in der Reihe und ist nicht von den übrigen verschieden: ein einfacher Rasenhügel – am Kopfende ragt eine schmucklose weiße Marmortafel hervor, welche seinen Namen, den Tag seiner Geburt (3. April 1783) und seines Todes (28. Novbr. 1859) anzeigt. Auf dem Grabhügel lag ein verwelktes Blumenkreuz. –
Einfach, wie des Mannes Leben war, ist sein Grab, und so ist es gut! Ein kostbares Denkmal aus Marmor oder Erz könnte seinen Ruhm nicht vermehren und würde einen schroffen Gegensatz zu der Anspruchslosigkeit bilden, welche Irving im Leben kundgab. Jene prunklose Grabstätte dagegen steht ganz im Einklange mit dem Charakter des Mannes, dessen Staub sie bedeckt. Die rauhen Stürme des Lebens haben längst alle überflüssige Empfindsamkeit von mir abgestreift, aber dennoch konnte ich mich einer tiefen Bewegung nicht erwehren, als ich am Grabe dieses trefflichen Mannes weilte, den ich schon in früher Jugend verehrt habe. Ebenso erging es meinen Begleitern. Schweigend verließen wir den Ort und begaben uns wieder nach Tarrytown, von wo aus uns der Abendzug nach der Metropole zurücktrug.