Das Skelett eines künstlichen Riesen

Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Das Skelett eines künstlichen Riesen
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1914, Sechster Band, Seite 224–226
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[224] Das Skelett eines künstlichen Riesen besitzt noch heute die Universität Dublin. Über seine Herkunft gibt es in der Bibliothek des genannten Instituts Aufzeichnungen, aus denen folgendes [225] hervorgeht. Im Jahre 1728 nahm der Dubliner Professor der Medizin Berkeler einen Knaben an, den Zigeuner todkrank in einer Herberge zurückgelassen hatten. An diesem Kinde versuchte der in seiner Wissenschaft völlig aufgehende Professor zu beweisen, daß seine in einem Lehrbuch über den menschlichen Körperbau theoretisch begründete Behauptung, man könne das Körpermaß eines jeden Menschen durch eine geeignete Behandlung außerordentlich verlängern, richtig sei. Er fertigte also einen besonderen Streckapparat an, in dem das unglückliche Kind den größten Teil des Tages zubringen mußte. Welch unerhörte Grausamkeit in diesem Experiment lag, kam dem gelehrten Herrn ebensowenig zum Bewußtsein wie den übrigen Medizinern der Universität, die diesem Versuch gleichfalls das größte Interesse entgegenbrachten, ohne daß es einem einfiel, gegen diese Roheit einzuschreiten.

Infolge dieses Streckverfahrens war der Knabe mit vierzehn Jahren bereits über 2 Meter groß, dabei natürlich mager wie ein Gerippe und vollständig entkräftet. Trotzdem setzte der in seine Idee ganz verrannte Professor seine Behandlungsmethode weiter fort. Mit achtzehn Jahren maß der junge Mensch bereits 2,40 Meter, und als der Tod ihn zwei Jahre später von seinen Qualen erlöste, 2,51 Meter.

Das Gerippe dieses bejammernswerten Wesens zeigt einen im Verhältnis zu der Gesamtlänge geradezu auffallend kleinen Kopf. Die Beine sind unnatürlich lang und nehmen fast dreiviertel des Körpermaßes für sich in Anspruch. Die Arme erscheinen dagegen allen Streckversuchen widerstanden zu haben. Sie sind von normaler Länge geblieben, nehmen sich aber an dem Riesenskelett natürlich wie gar nicht zugehörig aus. Als Professor Berkeler 1753 starb, hinterließ er dies wunderliche Gebilde der Universität Dublin, unter dessen anatomischen Präparaten es sich heute noch befindet.

Einen ähnlichen Versuch unternahm im Jahre 1874 in Paris ein entmenschtes Ehepaar mit seinen beiden Knaben, einem Zwillingspaar, hier aber zu rein gewinnsüchtigen Zwecken. Ein gewisser Gérard, der mit seinem Wachsfigurenkabinett die [226] Märkte und Messen Frankreichs besuchte, war infolge des Deutsch-französischen Krieges, der allen Handel und Wandel lahmlegte, vollständig verarmt. Die Not brachte ihn auf die Idee, seine Kinder künstlich zu Riesen zu machen, damit er sich durch deren spätere Schaustellung ein behagliches Alter verschaffen könne. Ob er durch einen Zufall über das Experiment Berkelers etwas erfahren hatte und dadurch auf diesen scheußlichen Gedanken gekommen war, ließ sich nicht feststellen. Nachbarn, die das aus der Wohnung Gérards herausdringende Stöhnen und Wehklagen aufmerksam machte, benachrichtigten schließlich die Polizei.

Diese fand die beiden armen Geschöpfe an der Decke in aus Lederriemen hergestellten Traggerüsten hängen, während an Armen und Beinen schwere Gewichte befestigt waren. Im Munde trugen die unglücklichen Kinder feste Knebel, die das Schreien verhindern sollten. Als diese Einzelheiten bekannt wurden, rottete sich, noch bevor das Ehepaar abgeführt werden konnte, eine große Menschenmenge vor dem betreffenden Hause zusammen und empfing die bestialischen Eltern mit einem Steinhagel, vor dem die wenigen Polizisten schleunigst in den Hausflur zurückflüchten mußten. Schon nach wenigen Minuten hatte die Volksjustiz die Strafe an den Übeltätern vollzogen. Das Ehepaar konnte nur noch als Leichen fortgeschafft werden.

Von den beiden Knaben, die sofort in staatliche Obhut genommen wurden, erfuhr man dann, daß die Ärmsten dieses Martyrium der Streckkur bereits über ein Jahr erduldet hatten. Als die Leidensgeschichte des Zwillingspaares dem Pariser Rothschild zu Ohren kam, ließ er die Brüder auf seine Kosten in einer der besten Erziehungsanstalten unterbringen. Léon Gérard ist noch heute Anwalt in Rouen, der andere, Felix, hat sich einen nicht unbedeutenden Namen als Afrikaforscher erworben und war auch im Auftrage der französischen Regierung Mitglied jener gemischten Kommission, die im Frühjahr 1912 nach Erwerbung des Kongozipfels durch Deutschland die Grenzen der einzelnen Gebietsteile genau festlegte.

W. K.