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Walther Kabel: Das Skelett eines künstlichen Riesen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6)

hervorgeht. Im Jahre 1728 nahm der Dubliner Professor der Medizin Berkeler einen Knaben an, den Zigeuner todkrank in einer Herberge zurückgelassen hatten. An diesem Kinde versuchte der in seiner Wissenschaft völlig aufgehende Professor zu beweisen, daß seine in einem Lehrbuch über den menschlichen Körperbau theoretisch begründete Behauptung, man könne das Körpermaß eines jeden Menschen durch eine geeignete Behandlung außerordentlich verlängern, richtig sei. Er fertigte also einen besonderen Streckapparat an, in dem das unglückliche Kind den größten Teil des Tages zubringen mußte. Welch unerhörte Grausamkeit in diesem Experiment lag, kam dem gelehrten Herrn ebensowenig zum Bewußtsein wie den übrigen Medizinern der Universität, die diesem Versuch gleichfalls das größte Interesse entgegenbrachten, ohne daß es einem einfiel, gegen diese Roheit einzuschreiten.

Infolge dieses Streckverfahrens war der Knabe mit vierzehn Jahren bereits über 2 Meter groß, dabei natürlich mager wie ein Gerippe und vollständig entkräftet. Trotzdem setzte der in seine Idee ganz verrannte Professor seine Behandlungsmethode weiter fort. Mit achtzehn Jahren maß der junge Mensch bereits 2,40 Meter, und als der Tod ihn zwei Jahre später von seinen Qualen erlöste, 2,51 Meter.

Das Gerippe dieses bejammernswerten Wesens zeigt einen im Verhältnis zu der Gesamtlänge geradezu auffallend kleinen Kopf. Die Beine sind unnatürlich lang und nehmen fast dreiviertel des Körpermaßes für sich in Anspruch. Die Arme erscheinen dagegen allen Streckversuchen widerstanden zu haben. Sie sind von normaler Länge geblieben, nehmen sich aber an dem Riesenskelett natürlich wie gar nicht zugehörig aus. Als Professor Berkeler 1753 starb, hinterließ er dies wunderliche Gebilde der Universität Dublin, unter dessen anatomischen Präparaten es sich heute noch befindet.

Einen ähnlichen Versuch unternahm im Jahre 1874 in Paris ein entmenschtes Ehepaar mit seinen beiden Knaben, einem Zwillingspaar, hier aber zu rein gewinnsüchtigen Zwecken. Ein gewisser Gérard, der mit seinem Wachsfigurenkabinett die

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Walther Kabel: Das Skelett eines künstlichen Riesen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Skelett_eines_k%C3%BCnstlichen_Riesen.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)