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Walther Kabel: Das Skelett eines künstlichen Riesen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6)

Märkte und Messen Frankreichs besuchte, war infolge des Deutsch-französischen Krieges, der allen Handel und Wandel lahmlegte, vollständig verarmt. Die Not brachte ihn auf die Idee, seine Kinder künstlich zu Riesen zu machen, damit er sich durch deren spätere Schaustellung ein behagliches Alter verschaffen könne. Ob er durch einen Zufall über das Experiment Berkelers etwas erfahren hatte und dadurch auf diesen scheußlichen Gedanken gekommen war, ließ sich nicht feststellen. Nachbarn, die das aus der Wohnung Gérards herausdringende Stöhnen und Wehklagen aufmerksam machte, benachrichtigten schließlich die Polizei.

Diese fand die beiden armen Geschöpfe an der Decke in aus Lederriemen hergestellten Traggerüsten hängen, während an Armen und Beinen schwere Gewichte befestigt waren. Im Munde trugen die unglücklichen Kinder feste Knebel, die das Schreien verhindern sollten. Als diese Einzelheiten bekannt wurden, rottete sich, noch bevor das Ehepaar abgeführt werden konnte, eine große Menschenmenge vor dem betreffenden Hause zusammen und empfing die bestialischen Eltern mit einem Steinhagel, vor dem die wenigen Polizisten schleunigst in den Hausflur zurückflüchten mußten. Schon nach wenigen Minuten hatte die Volksjustiz die Strafe an den Übeltätern vollzogen. Das Ehepaar konnte nur noch als Leichen fortgeschafft werden.

Von den beiden Knaben, die sofort in staatliche Obhut genommen wurden, erfuhr man dann, daß die Ärmsten dieses Martyrium der Streckkur bereits über ein Jahr erduldet hatten. Als die Leidensgeschichte des Zwillingspaares dem Pariser Rothschild zu Ohren kam, ließ er die Brüder auf seine Kosten in einer der besten Erziehungsanstalten unterbringen. Léon Gérard ist noch heute Anwalt in Rouen, der andere, Felix, hat sich einen nicht unbedeutenden Namen als Afrikaforscher erworben und war auch im Auftrage der französischen Regierung Mitglied jener gemischten Kommission, die im Frühjahr 1912 nach Erwerbung des Kongozipfels durch Deutschland die Grenzen der einzelnen Gebietsteile genau festlegte.

W. K.
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Walther Kabel: Das Skelett eines künstlichen Riesen (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 6). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Skelett_eines_k%C3%BCnstlichen_Riesen.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)