Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein

Textdaten
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Autor: Ludwig Büchner
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Titel: Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 93–95
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein.

Von Dr. Louis Büchner.

Er sprach und blies auf dem Rasen fort:
“Das Eine wächst, wenn das Andere dorrt,
Das ist mein ewiger Weideort.“
 Rückert: Chidher.

Wie oft schon hat man die Natur mit einem Schlachtfeld verglichen, auf dem die lebenden Wesen mit einander um ihr Dasein ringen, ohne zu ahnen, welch’ tiefe Weisheit, welch’ große naturphilosophische Wahrheit in diesem Vergleich verborgen liege! Erst seitdem vor Kurzem der geistvolle Engländer Darwin, der berühmte Naturforscher von der Weltumseglung des Beagle, sein merkwürdiges Buch über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreiche durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Racen im Kampfe um’s Dasein geschrieben hat, ein Buch, von dem sein Uebersetzer, Professor Bronn in Heidelberg, sagt, daß es eine Umgestaltung der gesammten naturhistorischen Wissenschaft erwarten läßt, erst seitdem wissen wir, was jener Ausdruck zu bedeuten hat. Aeußerlich, so setzt Darwin auseinander, scheint die Natur in Heiterkeit und Ueberfluß zu strahlen; aber in Wirklichkeit ist es nur ein steter, ununterbrochener, mit Aufbietung aller Kräfte geführter Kampf sowohl der Einzelwesen unter einander, als derselben gegen die äußeren Lebensverhältnisse, in welchem schließlich nur der Stärkste, Beste oder mit irgend einem eigenthümlichen Vortheil Ausgerüstete den Sieg davonträgt. Ueberall, wohin wir in der Natur blicken, gewahren wir schöne und vortreffliche Anpassungen, sowohl von einem Theile der Organisation eines lebenden Wesens an den andern, als von einem Wesen selbst an das andre, als auch endlich von diesen Wesen an die äußeren Lebensbedingungen, wofür zahllose Beispiele vorliegen. Wie vortrefflich ist der Specht durch den Bau von Fuß, Schwanz, Schnabel und Zunge befähigt, Insecten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen! Wie ausgezeichnet befähigt den Wasserkäfer die Bildung seiner Beine zum Untertauchen und macht ihn damit geschickt zur Flucht, wie zur Verfolgung! Wie leicht trägt der Wind den mit feinen Haaren besetzten Samen durch die Luft und läßt ihn da oder dort zur Weiterentwicklung niederfallen! Wie gut schützt die Thiere im Norden ihr dichter Pelz vor dem Erfrieren, wie gut seine Farbe das grüne auf einem Blatt lebende Insect oder das weiße Schneehuhn vor Verfolgung! Wie schön befähigt das zarte Spitzchen an dem Schnabel junger Vögel dieselben zum Durchbrechen der sie umhüllenden Eischale etc.! Alles dieses nun erläutert Darwin als Folge des Ringens um’s Dasein und der mit ihm verbundenen natürlichen Züchtung.

Wie der Mensch bei der Züchtung seiner Hausthiere die besten oder die mit besonderen Vorzügen oder Eigenthümlichkeiten versehenen Thiere auswählt und zur Nachzucht verwendet, so thut dieses in noch weit höherem Grade die Natur selbst, indem sie jede wenn auch noch so geringe Abweichung des einzelnen Wesens, vorausgesetzt daß sie für dessen Erhaltung vortheilhaft ist, unaufhörlich herauswählt und auf die Nachkommen überträgt, und dabei den schwachen Bemühungen des Menschen, der doch schon soviel erreicht hat, unendlich überlegen ist. Schon de Candolle und Eyell haben nachgewiesen, daß alle organischen Wesen im Verhältniß der Mitbewerbung unter einander stehen. Die Vögel, welche sorglos um uns her ihren Gesang erschallen lassen, leben von Insecten oder Samen und vertilgen daher beständig Leben; aber ihre eignen Eier oder Nestlinge werden unaufhörlich von Raubvögeln und andern Feinden zerstört, und Mangel an Futter, Kälte oder andere Naturereignisse lassen sie zu Zeiten zu Tausenden zu Grunde gehn, wobei die kräftigsten, schnellsten oder mit besonderen Vortheilen ausgerüsteten die meiste Aussicht auf Erhaltung haben. So ringen zu Zeiten des Mangels alle Naturwesen um Nahrung und Leben mit einander oder mit den Naturbedingungen selbst. Eine Pflanze ringt am Rande der Wüste mit der Trockenheit um ihr Dasein, und eine andere, welche jährlich tausend Samen erzeugt, von denen vielleicht nur ein einziger zur Entwicklung kommt, mit anderen, welche schon den Boden bekleiden. Eine Mistel ringt nicht blos mit dem Baume, auf dem sie ihr Schmarotzerdasein fristet, sondern auch mit andern beerentragenden Pflanzen, damit die Vögel eher oder lieber ihre Früchte verzehren und ihren Samen ausstreuen, als der andern. Der Kampf folgt schon unvermeidlich aus der Neigung aller Organismen, sich in viel stärkerem Verhältniß zu vermehren, als allein zur Erhaltung ihrer Gattung nöthig wäre. Kein lebendes Wesen vermehrt sich langsamer, als der Elephant; dennoch würde, ständen seiner Vermehrung keine Hindernisse entgegen, die Erde nach 500 Jahren von 15 Millionen Elephanten als Abkömmlingen eines einzigen Paares bevölkert sein! Jedes Wesen strebt daher nach äußerster Vermehrung seiner Anzahl; aber äußere Beschränkung und Mitbewerbung hindern es an der Erreichung dieses Zieles.

Auf einem Rasen, der stets kurz abgeweidet wird, tödten die kräftigeren Pflanzen die minder kräftigen, da die letzteren dem äußeren Eingriff weniger zu widerstehen im Stande sind; so hat man auf diese Weise von 20 beisammen wachsenden Arten 9 zu Grunde gehen sehen. Viele Thiere werden durch Raubthiere im Zaume gehalten, diese wieder durch Nahrungsmangel, Klima etc. Oft entstehen auf diese Weise die verwickeltsten und nur zum Theil erkennbaren Verhältnisse. Das Gedeihen der schottischen Kiefer in England ist abhängig von dem Rinde, das sie als junges Pflänzchen abweidet, wenn sie nicht eingefriedigt wird. Ueberträgt man dieses nach Paraguay in Südamerika, wo keine Rinder, Pferde und Hunde verwildern, wie in anderen Gegenden Südamerika’s, weil eine gewisse Fliege durch Eierlegen in den Nabel ihrer Jungen diese tödtet, so kann das Gedeihen oder Nichtgedeihen einer Pflanze von der An- oder Abwesenheit insectenfressender Vögel, welche jener Fliege nachstellen, abhängig sein! So giebt es bekanntlich eine Menge Pflanzen, welche nur durch den Besuch von Insecten, wie Bienen, Hummeln, Motten, befruchtet werden und unbefruchtet bleiben, wenn man jenen Besuch und damit die Uebertragung des Fruchtstaubs von der männlichen auf die weibliche Blüthe hindert. Die Existenz der Hummel aber z. B., welche bei einer bestimmten Pflanzenart oder an einem bestimmten Orte jenes Geschäft übernimmt, hängt von der Zahl der Feldmäuse ab, welche ihre Nester und Waben aufsuchen und zerstören; deren Zahl aber wieder wird bedingt durch die Anwesenheit von Katzen, Eulen etc., so daß von der Existenz eines solchen Raubthieres die Menge gewisser Pflanzen an einem gegebenen Orte geradezu als abhängig angesehen werden kann. Säet man verschiedene Weizenarten durcheinander, erntet ihre Samen ohne Sonderung, säet sie wieder, und so fort, so bleiben zuletzt nur die stärksten und fruchtbarsten und diejenigen, welche dem Boden am meisten entsprechen, übrig. Bei den Schafen hat man beobachtet, daß gewisse Gebirgs-Varietäten unter andern Varietäten aussterben. Eine Schwalbenart vertrieb in den Vereinigten Staaten eine andere Art. Die Vermehrung der Misteldrossel hat in Schottland die Abnahme der Singdrossel zur Folge gehabt. In England ist nach dem Botaniker Hooker die eingeborene schwarze Ratte fast ganz verschwunden unter den Zähnen der grauen Ratte aus Hannover, weiche die Schiffe Wilhelm’s des Dritten über die Nordsee geführt hatten, während aus San Francisco in Californien berichtet wird, daß es dort anfangs nur weiße Ratten gab, bis diese durch die von den Schiffen eingeführten schwarzen Ratten vertilgt wurden.

So ist die Natur ein Schlachtfeld, auf welchem stets das Eine das Andere mordet oder zu unterdrücken strebt, und zwar nicht bloß in unmittelbarem Kampfe, sondern noch mehr mittelbar durch größere Fruchtbarkeit, bessere Werkzeuge zur Aufsuchung der Nahrung oder Vermeidung von Gefahr und Verfolgung und Aehnliches. Die Wirkung des Klima’s namentlich ist zumeist eine indirecte und durch Begünstigung andrer besser daran gewöhnte Arten vermittelte. In englischen Gärten giebt es Pflanzen, welche zwar das Klima an sich vertragen, indem sie in den Gärten ganz gut gedeihen, aber außerhalb derselben nicht, weil sie den Kampf mit den dort lebenden Mitbewerbern nicht auszuhalten im Stande sind. Daher ist auch die Mitbewerbung zwischen den am nächsten verwandten Arten am heftigsten, weil sie nahezu dieselbe Stelle im Haushalt der Natur einnehmen und daher am meisten bestrebt sind, sich gegenseitig zu verdrängen. So hängt nicht blos die Existenz, sondern auch sehr oft der Bau [94] eines jeden organischen Wesens auf die innigste, aber oft verborgene Weise mit der aller andern organischen Wesen zusammen, sowohl derer, mit denen es in Mitbewerbung steht, als auch derer, von denen es lebt oder verfolgt wird.

Dieser „Kampf um’s Dasein“, von dem hier nur einige wenige Beispiele aufgeführt werden konnten, hat nun eine große und merkwürdige, oben schon angedeutete Folge! Alle organischen Wesen sind von Natur aus derart zu kleinen Abänderungen von ihrer Art geneigt, daß einzelne Individuen einer Art von Zeit zu Zeit derartige Abweichungen zeigen und durch Vererbung derselben auf ihre Nachkommen eine sogenannte Abart erzeugen. Diese Abänderungen können entweder nachtheilig oder vortheilhaft oder keines von Beiden sein. Ist das Letztere der Fall, so hat die Sache keine weitere Folge. Ist dagegen die Abänderung nachtheilig, so wirkt sie in demselben Maße auf die Vertilgung des sie besitzenden Wesens hin, wie eine vortheilhafte auf dessen Erhaltung und Ausbreitung wirkt, indem sie demselben ein Uebergewicht über seine Mitwesen in dem Kampfe um das Dasein verleiht. Denkt man sich dieses durch hundert oder tausend oder noch mehr Generationen hindurch fortgesetzt, so ist leicht einzusehen, wie die Natur stets bestrebt sein muß, nicht nur die besten Formen zu erhalten und die schlechtesten zu unterdrücken, sondern auch überall schöne und zweckmäßige Anpassungen der kämpfenden Wesen unter einander oder an die äußeren Lebensbedingungen hervorzurufen. Wirkt z. B. große Kälte auf eine Gegend ein, so haben nur diejenigen Einzelwesen Aussicht ihr zu widerstehen, welche durch Kraft oder durch dichte Bedeckung oder irgend einen sonstigen Vortheil vor ihren Mitwesen ausgezeichnet sind – Vortheile, welche sie auf ihre Nachkommen forterben und so allmählich ein zum Aufenthalt in einem Klima besonders befähigtes Geschlecht hervorbringen.

Ein auf grünen Blättern sich aufhaltendes Insect von grüner oder ein auf Baumrinden lebendes von grauer Farbe hat längst seine andersgefärbten Mitwesen in dem Kampf um das Dasein überwunden und vernichtet, weil es einen Vortheil in Bezug auf Verfolgung vor ihnen voraus hatte, den jene nicht besaßen. Wenn das Alpenschneehuhn weiß oder der Birkhahn mit der Farbe der Moorerde erscheint, so sind diese Farben Einzelnen unter ihren Vorfahren nützlich gewesen und ihnen von diesen vererbt worden. Wenn der Hirsch ein kräftiges Geweih oder wenn der Hahn einen starken Sporn hat, so haben diese Organe ihren Vorfahren in dem Kampfe gedient, welchen diese Thiere um ihre Weibchen zu bestehen pflegen, und haben sich dadurch, daß sie Einzelnen unter diesen durch stärkere Hervorbildung einen größeren Vortheil gewährten, in steigender Entwicklung auf die Nachkommen fortgeerbt. So auch mag z. B. das Auge, dieses vollkommenste der Organe, durch zahllose Abstufungen von einem einfachen empfindenden, mit Pigment umgebenen und von einer durchsichtigen Haut bedeckten Nerven, wie er sich bei den Kerbthieren findet, allmählich bis zu seiner jetzigen hohen Ausbildung gelangt sein – eine Ausbildung, welche indessen immer noch nicht allen Anforderungen an Vollkommenheit entspricht. Die nektarabsondernden Pflanzen haben einen Vorzug vor denen, welche dieses nicht thun, wegen der Insecten, welche sie am liebsten besuchen, und der dadurch erleichterten Befruchtung. Je mehr Blüthen- oder Fruchtstaub eine Pflanze hervorbringt, um so größer ist ihre Aussicht auf Erhaltung und Fortpflanzung dieser Eigenthümlichkeit, wenn auch die Menge der Keimstoffe, welche ein organisches Wesen erzeugt, hierbei nicht allein bestimmend ist, sondern noch eine Menge andrer oft unbekannter Umstände mitwirken. So legt der Eissturmvogel nur ein Ei und soll doch der zahlreichste Vogel der Welt sein. In Ostindien findet man Pflanzen, welche erst seit der Entdeckung von Amerika von da eingeführt worden sind und welche, durch die Umstände begünstigt, sich dergestalt entwickelt haben, daß sie jetzt vom Cap Comorin bis zum Himalajah reichen.

So ist die aus dem Kampfe um das Dasein nothwendig folgende natürliche Züchtigung täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, auch die geringsten Abänderungen oder Anpassungen ausfindig zu machen, sie zu verbessern, wenn gut, oder zurückzuwerfen, wenn schlecht, und damit die organische Welt einer steten Vervollkommung entgegenzuführen. Minder begünstigte Formen müssen dabei nothwendig abnehmen, seltener werden und endlich aussterben, um neuen, kräftigeren oder besser angepaßten Formen Platz zu machen, wofür die zahlreichsten und treffendsten Beispiele vorliegen. Ja, die Arten müssen fortwährend abändern, um nur bei Kräften zu bleiben. Jede Spielart, jede neu entstandene Art hat eine größere Kraft und Lebensfähigkeit, als die früheren, und läßt diese, mit seltenen Ausnahmen, nicht mehr aufkommen, weshalb auch eine geschlagene Art kaum jemals wiederkehrt, sie ist für immer vertilgt. Die heutige Welt, als die jüngste, ist auch die verhältnißmäßig stärkste und schlägt alle andern, wofür die canarischen Inseln und Neuseeland ein treffliches Beispiel liefern. An diesen Orten hat sich ihrer isolirten Lage halber eine ältere und weniger vervollkommnete, den längst untergegangenen Formen ähnlichen organische Welt erhalten, welche aber durch die nun von Europa her eingeführten Pflanzen und Thiere auffallend rasch unterdrückt und ausgerottet wird, weil diese in dem Kampfe auf einem größern Gebiet und unter mannigfaltigeren Lebensverhältnissen eine größere Kraft und Lebenszähigkeit erlangt haben. Sogar Thiere, welche an längst vergangene organische Zeitalter erinnern, wie das Schnabelthier und das Schuppenthier, und welche man gewissermaßen als lebende Fossilien ansehen kann, haben sich an solchen isolirten Orten, geschützt vor der Mitbewerbung, noch bis auf den heutigen Tag erhalten.

Dieses Princip scheint nun seinem Entdecker Darwin ausreichend, um daraus eine vollständige Lösung für das größte und schwierigste Räthsel der Naturforschung, an dessen Erforschung bereits die besten und tiefsten Denker vergeblich ihre Kräfte versucht haben, das Geheimniß der Geheimnisse, wie es ein englischer Philosoph nennt, abzuleiten. Indem dasselbe während Millionen und aber Millionen Jahren durch alle Generationen von Pflanzen und Thieren hindurch fortwirkte und in unzähligen Abstufungen allmählich Wirkung auf Wirkung häufte, soll es im Stande gewesen sein, nicht blos Abarten, sondern selbst neue Arten, Gattungen, Familien und Classen zu erzeugen und so vielleicht aus dem einfachsten und unscheinbarsten Anfang durch stufenweise Vervollkommnung die ganze ungeheure Reihe untergegangener und lebender Wesen hervorzubringen.

Es steht dem Verfasser dieses Aufsatzes nicht zu, über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Gedankens abzusprechen; die Gelehrten, unter denen die neue Idee ohne Zweifel große Bewegung und erbitterten Streit hervorrufen wird, werden darüber zu entscheiden haben, ob das Darwin’sche Naturgetz und die von ihm mit außerordentlichem Scharfsinn und seltener Gelehrsamkeit entwickelten Gründe und Thatsachen ausreichen, um eine so wunderbare Erscheinung, wie den Anwachs der organischen Welt auf Erden, auf natürliche Weise zu erklären, oder ob es hierzu noch anderer, bis jetzt unbekannter oder nur geahnter natürlicher Ursachen bedarf. Fällt die Antwort bejahend aus, so hat Darwin unsterbliches Verdienst erworben und für die organischen Naturwissenschaften dasselbe geleistet, was der berühmte Geolog Eyell für die Geschichte der Erde geleistet hat, d. h. aus kleinen und unscheinbaren Ursachen, welche noch heute und unter unseren Augen wirksam sind, und unter Anwendung eines einfachen und einheitlichen Princips die größten und wunderbarsten Wirkungen der Natur in Vergangenheit und Gegenwart abgeleitet. Sollte aber auch die Antwort verneinen ausfallen, so ist das Verdienst des genialen Forschers immerhin noch groß genug; denn er hat uns den tiefsten Blick in das innere und ungekannte Wesen der Naturerscheinungen thun lassen und wenigstens den Weg angedeutet, auf welchem das große Fortschritts- und Entwicklungsgesetz der organischen Natur mit der Zeit gefunden werden kann. Und bei dem Anblick der vielen und merkwürdigen Anpassungen in der Natur, welchen wir neben so vielem Unvollkommenen oder anscheinend Unnützen fast auf jedem Schritte begegnen, werden wir uns nicht mehr versucht fühlen, unsre Vorstellung mit falschen Zweckmäßigkeitsbegriffen anzufüllen, sondern einsehen, durch welche stufenweise und langwierige Arbeit es diesem oder jenem Naturwesen gelungen ist, bis zu seinem jetzigen Verhältniß gegenüber seinen Mitwesen oder den äußeren Lebensbedingungen emporzusteigen. Die „Fortschrittsdoctrin“ ist, wie sich der ausgezeichnete englische Botaniker Hooker ausdrückt, die tiefste von allen, welche je naturhistorische Schulen in Aufregung versetzt haben. Aeußert sich dieses Fortschrittsgesetz auch nicht in einer stetigen und einfachen Reihe, sondern als ein durch mancherlei Umstände und Schwierigkeiten unterbrochenes, zurückgehaltenes oder undeutlich gemachtes, und fehlt es neben dem Fortschritt auch nicht an stabilen oder stehenbleibenden Formen und Zuständen, ja selbst nicht an Beispielen „rückschreitender Organisation“, so ist es doch im Großen und Ganzen [95] unverkennbar und von der höchsten Bedeutung für unsre ganze Welt- und Naturanschauung.

Aber seine volle Wichtigkeit lernen wir erst einsehen, wenn wir dasselbe auf unser eignes Geschlecht, auf den Menschen anwenden. Denn der Fortschritt[1] in dem Kampf um’s Dasein ist nicht blos ein physischer, sondern auch ein intellectueller, ein geistiger. Geistige Anlagen, Triebe und Neigungen, einerlei ob angeboren oder erworben, vererben sich ebenso auf die Nachkommen, wie körperliche Vorzüge oder Abänderungen, wofür eine Menge der schlagendsten Beispiele bekannt geworden sind, und auf diese Erfahrung gestützt, sowie auf die merkwürdigen Nachweise, welche Darwin über die allmähliche Heranbildung und Vererbung der Instincte und Geistesthätigkeiten der Thiere gegeben hat, wird man nicht unschwer zu dem Schlusse gelangen, daß jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufenweise erworben werden kann – eine Idee, nach welcher ein englischer Schriftsteller, H. Spencer, schon im Jahre 1855 die Geisteslehre neu zu bearbeiten versucht hat. Daher ist denn auch bei dem Menschen, als dem höchsten und mit den besten geistigen und körperlichen Hülfsmitteln und demnach auch mit dem stärksten Streben nach Vervollkommnung ausgerüsteten Wesen der Schöpfung, der Kampf um das Dasein der heftigste, unbarmherzigste und erfolgreichste. Wie viele Stufen seines eignen Geschlechts der heutige Mensch schon hinter sich und überwunden hat, nachdem die unter ihm stehende Thierwelt überall, wo sie ihm im Wege war, mit Leichtigkeit von ihm verdrängt worden ist, wissen wir nicht; aber unter den jetzt lebenden Menschenracen wird ein gegenseitiger Kampf geführt, wie kaum irgendwo unter Naturwesen, ein Kampf, bei dem die jüngsten und demnach vollkommensten oder wenigstens am besten angepaßten Racen auch die meiste Aussicht auf Erfolg haben.

Für die ältesten Racen gelten Polynesier und Rothhäute, und in der That sehen wir diese mit einer fast unglaublichen Geschwindigkeit vor dem Andrange der weißen Race verschwinden, bis bald nur noch die Urkunden der Geschichte oder der Erdrinde Zeugniß von ihrem Dasein ablegen werden. Am jüngsten und lebenskräftigsten mögen die kaukasische und die Neger-Race sein, letztere für die heißen, erstere für die gemäßigten Klimate, und daher voraussichtlich nach und nach alle anderen Menschenracen von der Erdoberfläche verschwinden machen! Blicken wir nicht hinter, sondern vor uns in die Zukunft, so sind wir im Stande, unsre Phantasie mit dem Bilde einer noch vollkommneren oder besser angepaßten lebenskräftigeren Race zu erfüllen, welche unsern Nachkommen vielleicht dasselbe Schicksal bereiten wird, das wir gegenwärtig unseren schwächeren Mitracen bereiten. Auch die geistigen Fähigkeiten und Leistungen dieser Race werden die unsrigen so sehr übertreffen, daß sie auf uns ungefähr mit denselben Gefühlen herunterblicken werden, mit denen wir selbst auf diejenigen unsrer Vorfahren herabsehen, welche einst die Pfahlbauten in den Schweizer-Seeen oder die Steinäxte im Thale der Somme anfertigten!

Diejenigen, welche aus der Betrachtung des ewigen Kampfes und gegenseitigen Mordens in der Natur ein beunruhigtes oder erschrecktes Gefühl davon tragen möchten, sucht Darwin mit dem Gedanken zu trösten, daß der Krieg nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird, daß der Tod im Allgemeinen schnell ist und daß es meist der Kräftigen, Gesündere und Geschicktere ist, welcher den Sieg davonträgt. –



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Forschritt