Textdaten
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Autor: Adelheid Weber
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Titel: Das Rechte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24–25, S. 397–400, 420–424
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Rechte.

Novelle von Adelheid Weber.

Wir schritten durch das goldgrüne Maigras. Mein Mann machte mit den Freunden einen Abstecher nach Burg Lochstädt und hatte mich, die ich zur Zeit schlecht zu Fuß war, in der Obhut unseres alten lieben Sanitätsraths am Seestrande zurückgelassen. Mir war sehr wohl zu Muth. Meer und Himmel lachten in strahlendem sonnendurchleuchteten Lichtblau, die gelben Blüthenkätzchen der Birken nickten auf ihren schwanken Stielchen lustig ins köstliche Blau hinein; die Blätter der Gebüsche drängten und stießen die rosigen Knospenhüllen mit Gewalt entzwei und hingen dann in Büscheln, ganz von Jugendglanz umgossen, aus den purpurnen Hüllen nieder; die Vogel hatten noch solch köstlich ungeübte, ein wenig heisere schüchterne Tönchen, und plötzlich schwang sich hie und da aus ihrem Stammeln ein Schrei empor – jauchzend, scharf, ungestüm, als sei er die Stimme der machtvoll dem Werden entgegendrängenden Natur. Ich konnte nicht anders: der Jubelschrei der Natur wollte auch aus mir heraus, ich machte wie die Vögel die Augen zu und den Mund auf und sang den Sonnenschein an.

„Da lockst du gar ins frische Grün
Die allerschönsten Mädchen hin!“

sang ich und hatte recht damit, denn Wald und Strand hatte der Sonntag mit ganzen Völkerschaften von kleinen Nähmädchen und großen Damen beschickt; sie trugen alle rothe, grüne, blaue Kleidchen, als hätte der Frühling selbst sie ihnen angezogen, und sie waren alle schön, alle, mit ihren lachenden Lippen und ihren sehnsüchtig strahlenden Augen – und sie sahen alle aus, als dämmere ihnen das Bewußtsein, daß sie und wir und Laub und Vögel und Wasser alle Kinder seien derselben großen Mutter und daß in uns allen derselbe ungestüme Werdedrang lache und weine, hoffe und bange.

Aber mitten in meinem Singen unterbrach mich der Sanitätsrath, indem er meinen Arm bedeutungsvoll, wie abmahnend berührte. Verwundert sah ich den alten Freund an, denn er war trotz seiner Sechzig voll Verständniß für Lebenslust, ja er hielt sich geradezu zum jungen Volk, damit es ihm die eigene Jugend – nicht etwa zurückbrächte, sondern festhielte; denn er fühlte sich frisch und thatkräftig wie der Jüngste und war der glücklichen Ueberzeugung, daß ein Tropfen wahrer Freude kräftig genug sei, einen Becher voll Leid mit köstlichem Aroma zu durchduften, mit rosigem Schimmer zu überglänzen und ein Körnchen echter Güte gleich dem Sauerteige fähig, ein gehäuftes Theil zäher Selbstsucht zu durchdringen und nutzbar zu machen.

So folgte ich denn, von dem plötzlichen Ernst betroffen, welcher das joviale Lächeln von seinem frischen Gesichte vertrieben hatte, seinem Blick und sah in einiger Entfernung von uns zwei Damen stehen, mit dem Gesicht dem Meere zugewandt, deren Erscheinung sich in dem Frühlingszauber freilich gleich einem Tintenfleck in einer schönen Malerei ausnahm. Sie waren beide von Kopf bis zu Fuß in Schwarz gekleidet, und die eine, größere, schlankere der beiden trug eine breite schwarze Binde über dem linken Auge, welche auch einen Theil der mir zugewandten Wange bedeckte und das Gesicht so verbarg und entstellte, daß man beim ersten Blick eigentlich nichts gewahrte als die Binde. Als wir den Damen dann näher kamen, sah ich freilich, daß die mit der Binde, nach der sehr weichen und feinen Rundung von Wange und Kinn und dem blüthenweißen Teint zu schließen, noch jung sei und vielleicht ohne die Entstellung schön gewesen wäre, während die alte Dame ein unschönes verbittertes und vergrämtes Gesicht hatte. Einige Schritte von ihnen spielte ein weißgekleidetes kleines Mädchen im [398] Sande. Alles in allem war der Anblick der beiden, die eng aneinander geschmiegt, schwarz wie das leibhaftige frierende Unglück in dem Sonnenglanz dastanden, wohl geeignet, einen mit jenem Schauer die Schritte beschleunigen zu lassen, mit dem der Gesunde vor dem Anschauen unheilbarer Krankheit flieht.

„Es ist meine Hauswirthin, Frau Doktor Kolw, mit ihrer Tochter“, flüsterte der Sanitätsrath. „Sie begehen heute den fünften Jahrestag des Ereignisses, das dem Mädchen da das linke Auge gekostet hat.“

„Die Arme!“ rief ich aus. „Sie kann noch nicht alt sein und war jedenfalls nicht häßlich.“

„Sie ist heute sechsundzwanzig Jahre alt und war einundzwanzig, eine Schönheit, die Braut eines sehr reichen Mannes von bestrickender Liebenswürdigkeit, der sie vergötterte, als ihr das sogenannte Unglück in einer Sekunde die volle Sehkraft, Jugend, Schönheit, den Geliebten und die Zukunft raubte,“ antwortete mein alter Freund.

„Das sogenannte Unglück?“ wiederholte ich befremdet. „Ich meine, vor Thatsachen gleich dieser müßte auch Ihr Optimismus die Segel streichen, Doktor. Schönheit und Liebe auf einen Schlag zu verlieren – wo gäbe es ein schlimmeres, unversöhnlicheres Geschick als dieses?“

„Wenn nun aber in dieser Schönheit und dieser Liebe der Keim eines noch größeren dauernden und unversöhnlichen Unglücks verborgen gewesen wäre?“ erwiderte mein Begleiter. „Denn darüber sind wir wie alle nachdenklichen Menschen doch wohl miteinander einig, daß Glück und Unglück – das echte Glück und das wahre Unglück, nicht die sogenannten, die in äußeren Umständen beruhen – ganz individuell sind und im Frieden oder Unfrieden mit uns selbst, im Sichausleben oder Unterdrücktwerden unserer Natur, das heißt unserer stärksten drängendsten Eigenschaften und Kräfte bestehen. Und wenn die Geschichte dieses Mädchens wieder einmal schlagend die Richtigkeit des so klaren und doch immer wieder vergessenen Satzes von der individuellen Prägung von Glück und Unglück bestätigte? – Aber statt zu docieren, will ich Ihnen erzählen. Kommen Sie weiter in den Wald hinein, damit wir ungestört sind!“

Und im Weiterschreiten erzählte mein alter Freund:

„Ich muß weit ausholen, wenn ich Ihnen Mariannens Geschick ganz verständlich machen soll. Denn es ist, wie gesagt, das Ergebniß ihrer Charakteranlage, und die Bildung und Entwicklung des Charakters greift weit in die Kindheit, ja in Charakter und Geschick der Eltern zurück. Ich kannte Mariannens Eltern genau; als bester Schulfreund eines jüngeren Bruders ihres Vaters war ich fast täglicher Gast in dessen Elternhause; als dann Fritz – so hieß Mariannens Vater – als rasch zu Namen gekommener Frauenarzt eine Klinik errichtete, machte er mich, der eben promoviert hatte, zu seinem Assistenten und nahm mich in sein Haus und an seinen Tisch. Ich bin ihm Dank schuldig und habe ihn auch ohne das rechtschaffen lieb gehabt; denn er war ein guter Kerl, so, was man ‚eine Seele von einem Menschen‘ und ‚ein fideles Haus‘ nennt, von jener Gutmüthigkeit, die eigentlich in Leichtsinn, und jener Heiterkeit, die in Oberflächlichkeit ihren Grund hat, die aber, verbunden mit einem sprudelnden Humor, seine Persönlichkeit bis ins reife Mannesalter mit dem Zauber unverwüstlicher Jugendlichkeit umgab. Zudem war er ein bildschöner Mensch – Gardelieutenants-Typus – blond, prächtige Figur, breite Schultern, schmale Hüften, das unwiderstehliche Schwerenötherlächeln unter dem kecken Schnurrbärtchen und in den kornblumenblauen Blitzaugen. Natürlich war er Don Juan und Herzenbrecher bis ins reife Mannesalter, und ebenso natürlich ein schlechter Haushalter, der nicht nur seine reichen Einnahmen, sondern auch das große Vermögen seiner Frau in Sekt und Spiel und noblen Passionen mit guten Freunden verthat. Und nun diese Frau! Es lief eine Anekdote über seine Werbung um, von der ich zu seiner Ehre annehmen will, daß sie erfunden war, die aber so treffend seinen Charakter und sein Verhalten kennzeichnet, daß ich sie in höherem Sinne wahr nennen muß. Er war der sehr reichen Betty Löwenberg auf einem Juristenball vorgestellt worden und hatte einen Walzer mit ihr getanzt. Darauf geht er sofort ans Büffett und sagt zu einem Corpsbruder: ‚Brr – einen Schnaps! – Aber ich nehm’ sie doch!‘

Von der Ehe, die auf solchen Grundlagen ruhte, können Sie sich einen Begriff machen. Ober Sie können’s doch nicht; denn was den Konflikt verschärfte und unheilbar machte, war der Charakter der Frau. Betty Löwenberg hatte früh gewußt, daß sie sehr häßlich sei: etwas schief gewachsen, klein, mit rundem Rücken, großer Nase, schmutzig braunem Teint. Sie hatte allerdings sehr schöne, große, traurige, schwarze Augen – Marianne hat sie von ihr geerbt – aber wer schaut einem so häßlichen Mädchen in die Augen? Weil sie aber einen scharfen und klaren Verstand hatte, war sie sich früh über ihre Häßlichkeit und deren Folgen klar geworden und zog sich von der Welt zurück, die für sie keine Freuden übrig hatte. Je älter sie wurde, desto mehr vereinsamte sie, desto mehr warf sie sich in ihre Bücher und Studien hinein und wurde so eine gelehrte Frau – eine Menschengattung, die damals noch mehr als heute von der Dummheit und Oberflächlichkeit, die nie dem Warum und sehr selten dem Wie auf den Grund geht, als eine Abnormität geächtet und verspottet wurde. Armes Geschöpf! Natürlich gab ihr bißchen oberflächliche Frauenbildung ihren Studien keine feste Grundlage; natürlich konnte sie auf dem der Frau überall versperrten Wege nicht zu einem Ziele kommen, das des aufreibenden Kampfes verlohnt hätte; natürlich schätzte sie das Erreichte viel zu hoch, weil sie’s mit so großer Mühe erlangt hatte – und natürlich hatte darum die Welt recht, wenn sie diese kleine arme ‚Gelehrte‘ eine verbildete verbitterte Närrin nannte. Und zu ihrem Unglück hatte dies arme Ding ein heißes Herz, und das schrie um so lauter nach Freude und Liebe, je länger es von fremdem Uebelwollen und eigener Selbstbeherrschung grausam geknebelt worden war. Als nun der schöne, von Heiterkeit und Liebenswürdigkeit strahlende Doktor Kolw auf jenem Balle, den Betty einer Freundin zuliebe mitmachte, sie mit seinen scheinbar von innen herausstrahlenden hübschen Huldigungen überschüttete, da sprang das geknebelte Herz auf und jubelte laut. – Armes Ding! Ob sie sich wirklich über die Beweggründe seiner Werbung getäuscht, ob die spät aufflammende Leidenschaftlichkeit ihrer Natur um jeden Preis nach Befriedigung verlangt hat – wer weiß es! Sicher ist nur eins: daß sie unglücklich werden mußte und in der That schon in den Flitterwochen bis zur Verzweiflung unglücklich war. Denn was das Schlimmste war: sie liebte ihren Mann, alle die Jahre hindurch, und schämte sich bitter dieser Liebe, über die er lustig und gutmüthig gelacht hätte, wenn er von ihr gewußt hätte. Aber sie verbarg sie ihm freilich gut genug unter der abweisendsten starrsten Kälte, denn sie wußte, daß er sie fortwährend betrog, und all ihr Stolz und ihre Frauenwürde sträubten sich dagegen, ihm das Geheimniß ihres Herzens zu verrathen. So verbitterte und vergrämte sie immer mehr.

Ich befand mich damals schon in ihrem Hause. Ich war ein junger Mensch, urtheilte oberflächlich und stand – in der ersten Zeit wenigstens – naturgemäß auf seiten des liebenswürdigen lustigen Mannes gegen die finstere scharfzüngige geizige Frau. Viel später erst habe ich die Tragik begriffen, die darin liegt, wenn ein Mensch sich seiner natürlichsten Regungen schämen muß – dessen schämen, was anderer Glück und Stolz ausmacht – nur darum, weil äußere Umstände bei ihm zur Lächerlichkeit stempeln, was andere schmückt und adelt.

Bei Mariannens Geburt – nach zehnjähriger unglücklicher Ehe – that ich den ersten Blick in dies vereinsamte heiße Herz.

Fritz Kolw hatte als Arzt und Ehemann gefordert, daß das Kind gleich nach der Geburt, welche der Mutter fast das Leben gekostet hatte, von der Schwerkranken getrennt und einer Wärterin übergeben werde. Als er nun von der letzteren hörte, daß Betty sich entschieden weigere, das Kind von sich zu lassen, war er sehr ärgerlich in ihr Zimmer und an das Bett getreten. Da lag das Püppchen, roth und zufrieden wie das Leben selbst, in ihrem Arme, und sie – das Haar hing ihr grau in die Stirn, ihre Züge waren verfallen wie bei einer Todkranken; die Hände hatte sie geballt, die Zähne aufeinander gebissen, als leide sie unsägliche Schmerzen. Da, als er mit einem Machtwort der Quälerei ein Ende machen wollte, hob sie die Augen zu ihm auf. Und diese schwarzen großen ausdrucksvollen Sterne, die er viele Jahre nur verfinstert oder in bitterem Zorne glühend gesehen hatte, strahlten von einer wahrhaft himmlischen Glückseligkeit.

‚Laß sie mir – sie darf ich lieben!‘ flüsterte die Frau.

Das war auch dem leichtherzigen Fritz Kolw durch und durch gegangen, und er erzählte es mir, um sich von dem Eindruck zu entlasten. Ich aber sah damals zuerst in den Abgrund von [399] Schmerz, den das Leben so mancher Frau birgt. Und wie jede erste große Wahrnehmung erschütterte diese mich tief und beeinflußte fortan mein Denken und Verhalten gegen die Frau.

Als Betty gesund geworden war, trieb sie’s ähnlich mit dem Kinde weiter. Es war ein schwaches Pflänzchen und kümmerte in seinen ersten Lebensjahren so hin, jeden Augenblick bereit, das Köpfchen zu senken und umzufallen. Daß es gegen alles Erwarten leben blieb, hat ganz allein die Mutter möglich gemacht, Tag und Nacht – und wie viele Nächte! – trug sie’s herum, bettete es kühl, wenn es fieberte, und warm, wenn es fror, päppelte es mit der peinlichsten Sorgfalt, hätschelte es, hielt mit Bitten und Schelten, mit wahrer Todesangst und lächerlichem Raffinement jedes Geräusch von ihm fern, wenn es schlief, wachte mit Argusaugen, daß niemand es belästige oder aufrege – ja, meine Liebe, damals lernte ich Goethes Wort verstehen: ‚Zwanzig Männer vereint ertrügen nicht solche Beschwerde.‘ Daß die Frauen, solche wie Betty meine ich, sie eigentlich auch nicht ertragen, das heißt, daß sie sie mit ihrer Jugend und Gesundheit und jedem Restchen von leichtem Sinne bezahlen, der uns anderen so gut durchs Leben hilft, das hat Goethe zu erwähnen vergessen, und wir Männer vergessen es alle und wundern uns hinterher, wie rasch manche Frau äußerlich und innerlich altert, wie gedrückt und kleinlich sorgenvoll sie einherwankt, während ihr Mann den Kopf hoch hält und die Welt in ihrer Weite überschaut.

Und wenn wenigstens die Kinder selbst es wüßten und beherzigten! Dann würde wohl die aberwitzige Lehre der Neuzeit nicht aufgekommen sein, daß nur die Eltern für die Kinder, nicht die Kinder für die Eltern da seien, daß der Mensch keine Dankesschuld für seine Existenz abzutragen und das jetzige Geschlecht sich und die ungehinderte Entfaltung seiner Stärke zu bedenken und über das Vorlebende wie über alles Schwache, Kranke, Alte kühn hinwegzuschreiten habe. Eine bequeme Moral – für Bestien! Dankbar sind freilich auch die Hunde.

Entschuldigen Sie die Abschweifung, liebe Frau; mir läuft immer die Galle über, wenn mir diese allermodernste Bestienmoral in den Sinn kommt. Freilich lebte es sich bequemer in der Welt ohne Gewissen und ohne Mitleid, mit dem Rechte des Starken – bis dann die Bestien sich alle untereinander aufgefressen hätten. Denn das wäre natürlich das letzte Ende. Ich gönn’s ihnen von Herzen. Wohl bekomm’s! Unterdes halt’ ich mich zu meinem Herzenstrost an Menschen wie die Marianne.

Ja, also wie gesagt – oder hab’ ich’s noch nicht gesagt? Die Marianne war von klein auf ein besonderes Kind. Schon äußerlich. Sie sah aus wie eine Prinzessin – Sie verstehen schon, ich meine die im Märchen oder in der Volksphantasie, Haare von ganz feinen Goldfäden, in hundert Löckchen wie ein Strahlenkranz um den Kopf zitternd, ein Teint – nun, die Kinder gleichen ja oft Apfelblüthen, aber die Marianne war doch ganz besonders zart, wie durchsichtig – und sie blieb’s auch. Dazu die schwarzen schimmernden Augen mit dem großen fragenden forschenden Blick. Ich sage Ihnen, Frauchen, mich überlief’s manchmal, wenn sie zu mir aufschauten, als wären sie dem Unbekannten, Ungeheuern, Göttlichen noch ganz nahe.

Merkwürdig auch, wie sie sich zu anderen Kindern und diese sich zu ihr verhielten. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie vor ihrem Elternhaus an der Pumpe steht. Es war auf dem Hinterroßgarten, einer Straße, in deren Hintergebäuden viele kleine Leute wohnen, deren Kinder natürlich die Gasse bevölkerten. Da steht der zweijährige Punkt in seinem weißen Spitzenkleidchen, mit den goldenen Haaren, ganz allein – die Betty lag natürlich im Hinterhalt, aber sie ließ dem Kinde sein Vergnügen an dem früh erwachten Selbständigkeitstrieb. Die Marianne steht also ganz allein da und blickt mit ihrem ernsthaften Gesichtchen still und furchtlos vor sich hin. Jetzt kommt Bewegung unter die Straßenjungen. Sie stürzen in die Thorwege hinein, und dann einer nach dem andern wieder heraus, und jeder trägt in der Hand eine Blume oder einen ganzen Wisch, hastig von der Wiese mitsamt den Grashalmen zusammengerafft, und nähert sich dann fein langsam und artig der Marianne, die schon damals nach nichts verlangte als nach Blumen. Und dieser kleine Punkt streckt das winzige Händchen aus, nimmt die Blumen und sagt: ‚Bitte‘ – denn sie verwechselt noch die Höflichkeitsformeln. Wenn aber einer der Jungen wagt, ihr näher zu kommen, streckt sie den Finger aus und sagt streng; ‚Dadeiben!‘ genau wie eine Königin oder eine Gottheit in ihrer unnahbaren Hoheit – und der unnütze unbändige Straßenjunge zieht sich stracks beschämt und gehorsam wie ein gescholtener Pudel von der kleinen Hoheit zurück. Diese Unnahbarkeit blieb ihr zugleich mit einer nicht nur aus ihrer Schönheit zu erklärenden merkwürdigen Anziehungskraft, die namentlich das männliche Geschlecht zu ihr hinzog. Sie aber ging immer still dahin, als wäre sie von einer Isolierschicht umgeben, die niemand durchdringen konnte. Auch ich nicht, der ich, auch nachdem ich mich längst selbständig gemacht hatte, Haus und Tisch mit meinen alten Freunden theilte – ich war der Betty nach und nach ein Freund geworden und gab mich, da ich Junggeselle blieb, gern in ihre hausfrauliche Obhut. Aber auch dem Vater habe ich Marianne nie vertraulich begegnen sehen, obgleich er sie mit Spielsachen, Näschereien, Blumen förmlich überschüttete. Denn er war sehr stolz auf ihre poetische Schönheit. Einmal traf er sie, als sie gerade wieder ‚Weihnachten‘ spielte. Sie hatte alle Topfblumen, die sie schleppen konnte, in ihr Kinderzimmer getragen und um ihr Tischchen gestellt, den Teppich davor mit Blumen bestreut, ihre Puppen ausgeputzt und mit Blumen geschmückt und saß nun, ein Kränzchen von Tausendschönchen auf dem Kopfe und Blumen im Schoße, auf der Erde und sang mit ihrem lieblichen Stimmchen: ‚Vom Himmel hoch da komm’ ich her.‘ Sie sprach damals selten, sang aber alles nach, was sie nur hörte. Da hob Fritz in einer Aufwallung von Zärtlichkeit sie von dem Teppich in die Höhe und bedeckte ihr Gesichtchen mit Küssen. Sie ließ es lautlos und reglos geschehen; als er sie aber wieder auf die Erde setzte, wischte und rieb sie mit ihrem Tüchlein über die Wange, als wollte sie Flecken davon vertilgen. ‚Seht die Margell!‘ rief er halb belustigt, halb geärgert – ‚ist mir selten passiert, daß die Mädels meine Küsse abwischten. Weißt Du nicht, wer ich bin, Prinzessin?‘

Die Kleine sah ihn ernsthaft an. ‚Du bist nur der Papa,‘ sagte sie.

Nur der Papa!‘ rief Fritz Kolw. Da sah er auf und begegnete dem Blick seiner Frau. Voller, gesättigter Triumph flammte darin und daneben ein Entzücken, eine Glückseligkeit, die dem Fritz das Blut in die Stirne trieb. Von diesem Augenblick an begann die Vergeltung für ihn. Er warb um die Liebe seines Kindes, mit Zärtlichkeit und Strafen, mit Scherz und Ernst, mit Geschenken aller Art. Je mehr er ihr aber nahe zu kommen trachtete, desto ernster zog sie sich von ihm zurück und schmiegte sich an die Mutter. Nicht daß sie für Betty und Betty für sie viel äußere Zärtlichkeitsbeweise gehabt hätte – selten sah ich Mutter und Kind einander küssen – aber sie saßen und gingen stets eng nebeneinander und verstanden einander ohne Worte, durch den Instinkt, in jedem Athemzug und Herzschlag. Und so hat die Marianne jedenfalls viel früher, als wir ahnen konnten, gewußt, wie Vater und Mutter miteinander standen; und ihr Herz hat sich auf die Seite der Mutter gestellt und zum Vater gesagt: ‚Dableiben!‘

Das fühlte der Fritz wohl, und sein erstes vergebliches Werben, das um die Liebe seines eigenen Kindes, brach ihm das fröhliche Selbstvertrauen und allmählich die Lebenslust und den Lebensmuth, trieb ihn aus seinem Hause zu anderen, und von diesen wieder nach Hause. Denn er wurde jetzt inne, daß er draußen nur flüchtige Leidenschaft oder oberflächliche Neigung, aber nie die echte Liebe gefunden hatte – jene Liebe, wie sie seine Frau und sein Kind mit stillen Banden unlöslich zusammenband. Ein verborgen keimendes, rasch fortschreitendes organisches Leiden mag dazu gekommen sein, seinen Leichtsinn und Frohmuth zu brechen: er alterte rasch, kränkelte und starb – treu und sorgsam gepflegt von seinem Weibe, von allem Komfort umgeben, aber ohne Liebe, Betty war nicht unversöhnlich gegen ihn – auch den starrsten Groll bricht die Nähe des Todes – sie liebte ihn nur nicht mehr. Jahrelange Kränkung, Entrüstung und Scham hatten ihre Liebe zu ihm für immer getötet, zumal ihr leidenschaftliches Fühlen sich genug thun konnte in der Liebe zu ihrem Kinde.

Als Fritz Kolw tot und der Nachlaß geordnet war, stellte es sich heraus, daß der Verstorbene nicht nur seine reichen Einnahmen, sondern auch das Vermögen seiner Frau bis auf einen geringen Rest verbraucht hatte. Da zeigte sich mir denn der ganz besondere Charakter dieser Frau wieder in neuem Lichte. Weit entfernt, daß sie den Kopf verloren oder sich das Herz durch Angst vor der Zukunft schwer gemacht hätte! Sie sagte, als ich [400] ihr die trostlose Sachlage zaghaft und stückweise eröffnet hatte, ganz ruhig: ‚Da wird mir denn meine viel gescholtene Gelehrsamkeit den ersten Nutzen einbringen!‘ Am nächsten Tage schon kündigte sie sich in allen drei Zeitungen der Stadt für Sprach-, Musik-, Mal- und Litteraturstunden an, kurz für allen den Krimskrams, mit dem sich die ‚höheren Töchter‘ von heutzutage behängen. Sie hatte die Marianne, die damals zehn Jahre alt war, immer allein unterrichtet und sich dadurch einige Uebung im Lehren erworben. Und der Ruf ihrer Gelehrsamkeit, den ich natürlich thunlichst ausposaunte, auch wohl das Mitleid mit der jähen Veränderung ihres Loses führte ihr wirklich Scharen von Schülerinnen zu, die sich, da in der That viel von ihr zu lernen war, mit jedem Jahre erneuerten und vermehrten. Dazu kam die Miethe für einen Theil des Hauses, den sie nun an andere abtrat, das Kostgeld, das ich ihr zahlte – kurz, sie erwarb für sich und die Tochter nicht nur einen ganz auskömmlichen Lebensunterhalt, sondern legte allmählich ein artiges Sümmchen für alte oder kranke Tage zurück. Und nun hätten Sie sehen sollen, wie die Frau aufblühte! Wie ihr so lange zertretenes, verkümmertes Selbstvertrauen freudig ins Blatt schoß, als sie bemerkte, daß sie wirklich etwas zu leisten, sich und ihr Kind aus eigener Kraft weiterzubringen vermöge, und wie mit dem Selbstvertrauen und dem Respekt, den man ihr nun überall entgegenbrachte, eine ernste Lebensfreudigkeit, ja eine gewisse Liebenswürdigkeit, ein Geltenlassen der anderen, die nun sie gelten ließen, in die verbitterte Frau einzogen! Sie hielt sich freilich nach wie vor von den Leuten fern – ich glaube, zumeist aus eifersüchtiger Liebe zu Marianne. Jeder Blick, jeder Puls in ihr schienen zu sagen: ‚Mein Kind und ich! Ich und mein Kind! Ihr anderen: bleibt draußen!‘

Und auch die Marianne – ich mußte immer wieder daran denken, wie sie an der Pumpe stand und den Zeigefinger gegen die Straßenjungen ausstreckte: ‚Dadeiben!‘ Und wie diese ihrer Schönheit ehrerbietigst den schuldigen Tribut zu Füßen legten.

Nun, es liefen ihr bald ganz andere Jungen nach. Denn sie wurde immer schöner, und das Besondere an ihr, die unsichtbare Isolierschicht, in der sie gerade und abgemessen und doch wieder lieblich und rührend daherging, reizte die Männer. Sie aber sah keinen an; sie hatte aus den Leiden ihrer Mutter eine Art zorniger Geringschätzung gegen unser ganzes Geschlecht geschöpft, das ihr leichtsinnig und zutappend und von einem gröberen Stoff erscheinen mochte, welcher mit dem feinen, aus dem sie und die Mutter geschnitzt waren, keine Gemeinschaft haben konnte. Und sie mochte recht haben damit. Denn als auch ihr Tag kam, als das junge Blut auch in ihr zu Worte kam und dann mit der starken Leidenschaft, die unter ihrer stillen Art schlummerte, nach Glück rief, da hatte ich die bestimmte Empfindung, daß sie an beiden willenlosen gefesselten Händen in ihr Unglück gezogen werde. Andere Leute nannten es freilich ein schier märchenhaftes Glück – wie denn überhaupt die Geschichte von Marianne und ihrer Mutter eigens gemacht scheint, um zu beweisen, daß, was anderen Glück scheint, unser Unglück, und was sie Unglück nennen, unser Glück sein kann.

Ich selbst war der unfreiwillige Vermittler der Geschichte. Ich sehe die Scene vor mir, als hätt’ ich sie gestern erlebt. Es war ein Maitag wie heute und Mariannens zwanzigster Geburtstag. Die Betty hat den Kaffeetisch im Garten decken lassen, und wir beiden Alten sitzen beim Kuchen, essen aber nicht, sondern schauen wie in Verabredung die Marianne an. Sie hat dem Geburtstag zu Ehren und ihrer Mutter zur Freude ihr bernsteinfarbenes Haar gelöst; das wallt ihr nun in tausend Goldfäden um die Schultern, und die Sonne zittert und blitzt darin. Ein Kränzchen von Leberblümchen liegt auf ihrem Kopfe, und das Blau der Blumen macht ihr Haar noch goldener. Sie trägt ein weißes Kleid, wie sie’s immer gern that – es paßt zu ihr, als gehöre es zu der schlanken knospenden Gestalt und der fremdartigen Lieblichkeit des Gesichts. Sie hat den Arm um eine junge Birke geschlungen und blickt zu dem Ahorn im Nachbargarten empor, dessen gelbe Blüthen sich just so golden vom blauen Himmel abheben wie ihr Haar von dem Blau ihres Kranzes. ‚Wie schön das ist!‘ sagt sie leise, und wir Alten denken dasselbe, meinen aber ihren eigenen Anblick. Da höre ich ein leises Geräusch und sehe zur Seite einen jungen hochgewachsenen Menschen stehen und auf das Mädchen starren. Er faßt sich, da ich mich nun erhebe, mit einem Ruck zusammen und tritt auf mich zu. Er hat mir Grüße von seinem Vater zu bringen, der mein Corpsbruder gewesen ist und den Jungen, der hier promovieren will, an mich gewiesen hat. Na, gut; ich lade den Jungen ein – Kurt von Trenk heißt er, und sein Vater ist mein Leibfuchs gewesen, ein Sausewind, aber ein honetter Kerl – neben uns niederzusitzen und mit uns Kaffee zu trinken. Er thut’s nur zu gern, wie ich merke, und mir geht ein infames Gefühl durch den Leib, obschon ich doch kein altes Weib bin, das an Ahnungen leidet. Aber er starrt die Marianne zu toll an – unverschämt, denke ich und wundere mich, daß sie nicht vom Kaffeetisch, an dem sie neben der Mutter Platz genommen hat, aufsteht oder daß sie nicht mit ihrem ernsten großen Blick den seinigen in die Flucht schlägt. Sie thut aber nichts dergleichen, sondern sitzt still da, und das Blut kommt und geht in ihren Wangen, während sie die Augen in die Kaffeetasse senkt und ab und zu blitzschnell hebt und einen scheuen Blick nach dem jungen Menschen hinüberschießt. Und das muß ich ja zugeben: er war des Anschauens wohl werth, und ich habe nie ein gleich schönes Paar junger Menschen nebeneinander gesehen, wie sie in ihrer zarten blonden Schönheit und ihn, brünett, mit einem kühn geschnittenen Rassegesicht und dem Wuchs einer jungen Tanne. Dazu blitzen und funkeln seine Augen von Geist und Lebenslust, und er läßt vor uns – eigentlich natürlich vor Marianne – seinen Geist und Witz wie ein Feuerwerk prasseln und sprühen.

Sie spricht nicht viel, aber ihr Gesicht erhellt sich immer mehr, und endlich ist es, wie ich’s nie gesehen: ganz in Licht und Glanz getaucht wie der Maitag um uns, nur tausendmal schöner. Als dann der Junge nach einer Stunde sich nothgedrungen empfiehlt und mit einer Verbeugung gegen mich und Betty fragt, ob er wiederkommen dürfe, denke ich in meinem Innern: ‚Hol’ Dich der Kuckuck!‘ laut aber brumme ich als wohlerzogener Mensch und Freund seines Vaters: ‚Wird mir sehr angenehm sein.‘ Die Betty sagt gar nichts; sie hat ganz weiße Lippen, und die Hand, die sie auf den Tisch gestützt hat, zittert. Marianne sagt auch nichts und zittert auch, aber Wangen und Lippen glühen ihr wie Purpur, und der Maientrieb schimmert in ihren Augen. Als er dann fort ist, erblaßt sie und schließt gleichsam ihren Kelch zu, als wolle sie seine Blicke darin verwahren. So geht sie die Woche bis zu seinem Wiederkommen in glückseligem Traum herum. Uns Alten aber ist’s beiden gleich zu Muth, ich weiß es, ohne daß wir ein Wort darüber tauschen: wir haben Angst. Nur daß der Betty außer der Angst um diese Wendung in Mariannens Geschick noch die andere ungeheure das Herz zusammenkrampft: ihr Kind, ihr Alles vielleicht auf immer zu verlieren. Aber ihr bindet etwas die Hände: wenn sie Marianne ansieht, wie sie aus einer weißen, vom Licht abgewendeten Blume zur rothen Rose wird, die in seligem Entzücken der Sonne den Kelch darbietet, dann muß sie denken, daß die Mutter kein Recht habe, ihr eigenes Glück dem des Kindes in den Weg zu werfen. Und je höher in der Folge ihre Angst steigt, um so mehr schilt sie sich selbstsüchtig und verharrt in stummer Zurückhaltung. Ich lege denn aber nicht unthätig die Hände in den Schoß, sondern schreibe nach Jena, wo der Kurt Trenk studiert hat, an einen mir befreundeten Professor um des Burschen Leumundszeugniß. Nun, das kommt auch, macht mich aber nicht viel klüger; denn es paßt auf die meisten jungen und reichen Menschen: Liebesgeschichten, flottes Leben, großer Hochmuth, Verschwendung, auch hier und da hervorbrechende Rohheit und Skrupellosigkeit – kurz, was man so heut’ ‚einen schneidigen Kerl‘ nennt. Daneben ein meinem guten alten Professor unerklärlicher Zauber auf die Weiber. Na, ich verstehe den Zauber schon, wenn ich in das schöne Gesicht des Jungen, in seine geistsprühenden Augen und auf die Gestalt sehe, der aus jeder Bewegung und jedem Muskel Kraft und Jugendlust herausspringen, und noch besser, wenn ich den rücksichtslos herrischen Zug um den festen Mund und die grausamen spitzen weißen Zähne betrachte. Denn so wenig ich für die Bestienmoral bin: daß ein Stückchen Bestie im Menschen einen bestrickenden schreckhaften Zauber gerade auf feine und einfache Naturen übt, das habe ich denn doch schon lange vom Leben gelernt.

Doch hatte ich einmal einen freudigen Schreck, weil ich zu sehen glaubte, daß dieser Zauber für die Marianne zerriß und sie ihren Anbeter in seiner wahren Gestalt erschaute.

[420] Es ist vier Wochen nach jenem ersten Besuch, dem der junge Trenk natürlich schon ein Stück sechs ober mehr hat nachfolgen lassen, und ich stehe zufällig am frühen Morgen neben Marianne am offenen Fenster und schaue auf die jetzt ziemlich stille Straße, als sich Pferdegetrappel von fern hören läßt. Die Marianne wird roth und beugt sich ein wenig zum Fenster hinaus, so daß mir die Ahnung kommt, sie wisse, wer so früh an unserem Hause vorbei reite. Kurt von Trenk hat sich nämlich längst ein Reitpferd und Hunde angeschafft – wogegen bei seinem Reichthum ja auch nichts einzuwenden ist – und beglückt uns oft mit seinem Anblick zu Pferde. Und schön sieht er so aus, das ist nicht zu leugnen. Heut’ aber – natürlich ist er der Reiter – als er das Pferd vor dem Fenster parieren will, um der Marianne einen Strauß köstlicher Rosen hereinzureichen, gebärdet sich das Thier so unruhig, daß ihm die Rosen aus der Hand fallen, gerade als Marianne sie fassen will, Das Pferd tritt darauf. Da wird Kurt Trenk ganz bleich, öffnet die Lippen, daß die zusammengebissenen spitzen weißen Zähne hervorblitzen – er sieht aus wie der leibhaftige Teufel – und stößt dem Pferde die Sporen in die Weichen, daß Blut in dicken Tropfen hervortritt, während er zugleich das Thier mit dem Knopf der Reitpeitsche wie besessen bearbeitet. Ich stoße einen Fluch aus vor Entrüstung; da thut die Marianne neben mir einen tiefen Seufzer und fällt um. Gerade als ich sie wieder zum Leben gebracht habe, läutet es, mit dem kurzen herrischen Laut, den wir Drei schon gar zu gut kennen. Da richtet sich die Marianne auf, schlingt ihre Hände um meinen Hals und birgt ihr Gesicht wie ein verängstigtes Kind an dem meinigen. ‚Laß ihn nicht herein, Onkel‘, flüstert sie. ‚Ich will ihn nicht sehen – nie mehr!‘

Na, ich freue mich von Herzen und will das Eisen schmieden, so lange es warm ist. So gehe ich denn, als es kurz hintereinander zum zweiten und dritten Male klingelt, zur Thür – die Betty ist mit dem Dienstmädchen auf einem Marktgang – öffne sie und sage barsch: ‚Marianne ist für Sie nicht zu sprechen, Herr von Trenk, Ihre Brutalität hat sie krank gemacht.‘

Er sieht mich an, verblüfft, erschrocken. ‚Für mich nicht zu sprechen? Krank – Marianne?‘ stammelt er.

Dann schiebt er mich mit einem Ruck zur Seite und stürmt ins Haus. Ich ihm natürlich nach. Aber er hat schon Mariannens Zimmer gefunden und wirft sich vor ihrem Bett auf die Knie und ruft: ‚Marianne – mein Lieb! Mein Lieb!‘ und nimmt ihr Gesicht, das sich ihm erblassend entgegenhält, in beide Hände und bedeckt es mit Küssen. Und ich alter Narr stehe dabei und sehe, wie ihre Wange sich unter seinen Küssen röthet und wie in die Augen wieder die scheue Glückseligkeit kommt, und ich weiß, daß die Partie für uns verloren und Marianne die Beute dieses [422] Mannes geworden ist. Und ich kann nur noch wünschen, daß er’s gnädig mit ihr mache und sie nicht mit seiner Rohheit zermalme, noch mit seiner Liebe ersticke; denn ihr Leben ist zart, und er hält es bedingungslos in seiner Hand. Ich weiß auch, daß wenn ich sie ihm entreißen wollte, ich ihr Leben mit zerrisse; denn Mariannens Herz klammert sich unlösbar fest, wenn es erst an einem andern hängt.

Das weiß auch Betty, und sie giebt ohne Einwand ihre Einwilligung zur Verlobung. Was hätte sie auch dawider reden können? Die ganze Stadt ist voll von dem unglaublichen Glück das Marianne macht; denn Kurt Trenk ist sehr reich, sehr vornehm, sehr schön, sehr begabt – und was das bißchen Rohheit und Liederlichkeit angeht, so nimmt man ja die bei einem so reich begabten jungen Manne nicht schwer, auch soll ja die Ehe den Löwen die Krallen beschneiden – wie wenigstens die sagen, welche die Löwen nicht genau kennen. Aber selbst wenn die Betty anders darüber gedacht hätte, was hätte es ihr geholfen? So biß sie die Zähne zusammen und lächelte mit bleichen Lippen, wenn Marianne den Goldkopf in ihrem Schoß barg und flüsterte: ,Ich bin so glücklich, Mutter! So glücklich!‘ Sie raffte ihre Sparpfennige zusammen und rüstete die Aussteuer, denn schon im November sollte Hochzeit sein; Kurt Trenk brannte darauf, sein Glück zu genießen, die Promotion warf er wie unnützen Ballast über Bord. Was sollte ihm auch groß der Doktortitel? Er wollte mit Mariannen reisen, in Paris und Berlin wohnen, das Leben und die Jugend in vollen Zügen genießen. Unsere besorgten Vorstellungen, daß Mariannens zarte Gesundheit solche Vergnügungshetze nicht lange ertragen werde, brach er mit mehr oder weniger Höflichkeit kurz ab, und je länger desto öfter machte er namentlich gegen Betty eher von der Kürze als von der Höflichkeit Gebrauch. Augenscheinlich war sie ihm im Wege und er hatte eine Abneigung gegen sie, die zum Theil der Eifersucht auf Mariannens unverändert große Liebe zur Mutter entspringen mochte, die aber wohl mehr ein instinktiver Widerwille war gegen Bettys Unschönheit, ihr männliches Wesen. und ihr gerades und unbeugsames Urtheil. Auch fürchtete er wohl ihre unbequeme Einmischung in sein und Mariannens Leben und war nicht gesonnen, die Betty überhaupt um sich zu dulden. Das kam denn auch ganz unverhüllt zu Tage, als Marianne einmal in aller Selbstverständlichkeit von der Einrichtung der Zimmer sprach, welche die Mutter in ihrem künftigen Heim bewohnen solle, und dabei bedauerte, daß sie mich nicht auch mitnehmen könne. Da, ehe wir noch irgend etwas erwidern konnten, sagte Kurt Trenk sehr ruhig: ‚Du bedenkst wohl nicht, Liebchen, daß Deine Mutter sich von ihrem alten Freunde und ihren alten Lebensgewohnheiten nicht wird losreißen wollen.‘

‚Ach,‘ sagt Marianne lächelnd und nimmt der Mutter Hände in die ihrigen und reibt sie, weil sie eiskalt sind, ‚Du weißt nicht, Kurt, daß wir die Inséparables, die Unzertrennlichen, sind und eins ohne das andere gar nicht leben könnten.‘

Da zeigt Kurt Trenk wieder seine grausamen Zähne und erwidert kurz und hart: ‚Das Weib ist vom Manne unzertrennlich, nicht von der Mutter, Marianne.‘

Marianne wird blaß, ihre Blicke fliegen wie geängstigte Vögel von einem zum andern.

‚Aber warum können wir nicht alle Drei – –?‘ beginnt sie und bricht ab, denn Kurt lacht auf und faßt sie, ein wenig derb, unter das Kinn. ‚Du bist ein Kind, Schätzchen,‘ ruft er und küßt sie, und Betty sagt: ‚Dein Bräutigam hat recht, Marianne,‘ steht auf und geht hinaus. Ich folge ihr, denn ich sehe, daß sie sich kaum auf den Füßen hält. Sie geht aber straff und ohne sich umzublicken durch die nächsten Zimmer bis in ihre Schlafstube. Da wirft sie sich in einen Sessel und läßt zum ersten Male in ihrem Leben die Maske der Selbstbeherrschung von Gesicht und Wesen fallen, schlägt die Hände vors Gesicht und wimmert: ,Ich hab’ mein Kind verloren, mein Kind! Einundzwanzig Jahre hab’ ich ihm jeden Athemzug behütet – und jetzt wird’s mir fortgenommen! Ich hab’ mein Kind verloren!‘ So geht das eine Weile fort, und ich lasse sie gewähren, denn womit kann man Verzweiflung trösten? Ich habe, wann immer ich ihr begegnet bin, ihr die einzige Wohlthat gewährt, sie rasen zu lassen, bis sie sich ersättigt hatte. Und Betty hätte nicht sie selbst sein müssen, wenn sie nicht die Haltung und das Schamgefühl vor sich und mir bald wiedergewonnen hätte. Sie ließ die Hände sinken und sah mich an. ‚Das wäre denn nun vorbei, und ich habe mich in das zu finden, was man den Lauf der Natur nennt,‘ sagt sie ruhig. Aber dann preßt sie wieder die Hände zusammen und flüstert: ‚Wenn’s nur das wäre, Doktor! Mein Kind zu verlieren, darein würde ich mich ja finden, wenn auch mein Herz darüber spränge. Aber ist’s denn wirklich der Lauf der Natur, ist’s das Rechte, dies zarte Kind, das ich gehütet und gepflegt habe von seinem ersten Athemzug an, das nichts kennt als Liebe – dies Kind wehrlos diesem Manne zu überliefern, der roh und rücksichtslos ist in seiner Liebe wie in seiner Lieblosigkeit?‘

‚Sie liebt ihn aber,‘ sage ich; denn Besseres habe ich nicht zu erwidern. Und es ist auch das Rechte gewesen; die Betty blickt mich an und senkt dann den Kopf.

‚Ja,‘ erwidert sie, ‚sie liebt ihn. Also muß sie ihm folgen. Ich will’s ihr nicht zu schwer machen. Denn auch sie wird unter der Trennung von mir leiden.‘

Ob sie litt, die Marianne, als sie nun gewahr ward, woran sie bis jetzt gar nicht gedacht hatte: daß sie zu wählen habe zwischen der Mutter und dem Geliebten, ganz und für immer zu wählen! Aus ihrer Unbefangenheit aufgestört, merkte sie sehr wohl, daß ihrem Verlobten ihre Mutter zuwider sei, und sein immer unverhohlener auftretender Widerwille gegen den liebsten Menschen, den sie bis dahin auf Erden gehabt hatte, dessen unendlichen Werth sie ganz genau kannte, verletzte ihre Liebe und ihren Stolz. Und daraus entsprang bald etwas anderes: ein leises Mißtrauen in das Urtheil oder das Herz dessen, der nicht fähig war, den Werth der Mutter zu erkennen, und der sie selbst nicht genug liebte, um ihretwillen auch die Mutter zu lieben. Sie merkte nun auf. Und da fand sie denn auch, was ihr jener Zufall flüchtig enthüllt, was die Liebe aber wieder mit ihren rosigen Schleiern bedeckt hatte: daß ihr Geliebter roh und gewaltthätig war.

Und nun erschrak sie und schmiegte sich gleichsam an die Mutter, in Angst vor der Zukunft, ja in einer gewissen Abneigung gegen Kurt.

Und einmal kommt es beinahe zum Bruch.

Sie hat einen Streit mit ihm gehabt wegen eines rücksichtslosen Scherzes, den er über die Mutter gemacht hat. Sie hat ihn mit der eisigen Würde, die sie dann annehmen kann, zurechtgewiesen und ist trotz seiner Versöhnungsversuche wieder einmal die kleine Prinzessin in der Isolierschicht geblieben, die mit fortweisendem Finger ihr ‚Dableiben!‘ spricht. Er aber – er ist eben der Kurt Trenk – als sie sich weder für Scherz noch Bitten zugänglich zeigt, nimmt er sie in seine Arme und preßt sie an sich und ruft: ‚Liebste, Liebste, ich hab’ Dich ja unmenschlich lieb! Und Du mich auch! Alles andere ist Unsinn! Komm, sei gut! Unmenschlich gern hab’ ich Dich!‘

Und er hält sie fest, daß sie sich nicht rühren kann, und küßt und küßt sie, bis er fühlt, wie ihre Lippen kalt und ihre Glieder schlaff werden und sie nun in tiefer Ohnmacht in seinen Armen liegt.

So zwang er sie – gegen ihren Willen, gegen ihre Vernunft, ihren Stolz, ihre Kindesliebe, ihre Angst und ihren Widerwillen vor einem Theil seines Wesens – zwang und bannte sie an sich, und sie konnte sich nicht rühren, konnte keine Willenskraft und keinen Entschluß finden und wurde darüber zum Erbarmen blaß und elend. So elend, daß es dem Kurt endlich unangenehm auffiel und er eines Abends sagte: ‚Ich werde Dir alten Rothwein schicken, Marianne. Du mußt täglich eine Flasche davon trinken, sonst wird mein Schätzchen alt und häßlich, ehe ich’s noch habe.‘

Er schickte denn auch wirklich den Rothwein und die Marianne nahm ihn, blaß bis in die Lippen vor Kränkung, und stellte ihn in ein Schränkchen, das im Schlafzimmer am Kopfende von ihrem und der Mutter Bett stand; ein altmodisches niedriges Schränkchen, dessen Thür durch einen nach oben vorschnappenden Eisenriegel geschlossen wurde.

Acht Tage darauf sitzen wir alle Vier zusammen im Eßzimmer beim Abendbrot. Es ist indes Mitte Oktober geworden, die Hochzeit soll in vier Wochen stattfinden und Marianne am nächsten Morgen mit Kurt auf vierzehn Tage nach Schlesien zu seinen Eltern fahren. Es ist die erste Trennung von der Mutter; beide Frauen empfinden sie als einen Vorgeschmack der kommenden endgültigen. So sitzen wir alle ziemlich wortkarg da, die beiden Frauen tauchen die Blicke ineinander, Kurt runzelt die Stirn [423] und beißt sich auf die Lippen, und mir altem Kerl ist auch übel zu Muth. Da sehe ich, wie Betty mit der Hand nach dem Herzen fährt und kreideweiß wird, Ich springe auf, nehme sie in die Arme und führe sie halb, halb trage ich sie aufs Sofa; denn ich merke, daß ihr alter Herzkrampf im Anzug ist, der sich immer bei großen Aufregungen einzustellen pflegt. Kurt und Marianne sind auch aufgesprungen, und Kurt, dem die Scene sehr unangenehm ist, sagt: ‚Bring der Mutter doch ein Glas von Deinem Rothwein, Schatz; der wird sie schon wieder herstellen.‘

Ehe ich noch einwenden kann, daß Wein für diesen Fall kein Heilmittel sei, ist Marianne ins Schlafzimmer gelaufen. Aber sie kommt und kommt nicht zurück. Zuerst merken wir über unsern Bemühungen um Betty nicht, wie die Zeit verstreicht; dann aber, als Betty anfängt, sich zu erholen, sagt zuerst sie mit schwacher Stimme: ‚Wo ist Marianne?‘

Kurt will nun zur Thür, sie zu holen; ich aber, der ich Mariannens mädchenhafte Scheu kenne, ihren Bräutigam im Schlafzimmer zu sehen, schiebe ihn mit einem: ‚Erlauben Sie, junger Herr,‘ fort und gehe selbst, nach Mariannen zu sehen.

Wie ich die Thür zum Schlafzimmer öffne, ist es drinnen stockdunkel. Aber ein leiser Laut, wie Stöhnen und zugleich wie Warnung, kommt von dem vermaledeiten alten Schränkchen her. Ich reiße mein Feuerzeug aus der Tasche und stecke Licht an. Die Marianne liegt vor dem Schrank auf dem Gesicht in einer Blutlache. Ich zünde mit zitternden Händen die Kerze an, die auf dem Schränkchen steht, und beuge mich zu ihr; um sie aufzuheben.

‚Kind,‘ stammle ich, ‚Kind, was hast Du?‘

‚Das Auge, Onkel,‘ sagt sie, ‚das Auge!‘

Ich setze mich auf die Erde und hebe vorsichtig ihren Kopf auf meine Knie, Ich stoße einen Schreckenslaut aus – aus dem linken Augapfel quillt Blut.

‚Still, Onkel,‘ flüstert sie, ‚daß die Mutter nicht erschrickt.‘

Und dann mit einem süßen Lächeln: ‚Hab’ ich mich nicht tapfer gehalten, Onkel? Es that sehr weh, aber ich hab’ nicht geschrieen.‘

Die Thränen stürzen mir altem Kerl aus den Augen. Das Herz dreht sich mir um vor Jammer, und zugleich möcht’ ich niederknieen und dem Mädchen den Saum des Kleides küssen. ,Kind!‘ sag’ ich aber nur, ,Kind!‘ Und erst nach einer Weile: ‚Du hast die furchtbare Qual abgehalten und nicht einen Laut von Dir gegeben, um die Mutter nicht zu erschrecken?‘

‚Sie hätte ja den Tod davon haben können, Onkel,‘ erwidert sie einfach.

Ich lasse Marianne nun sanft zur Erde gleiten und hole die andern; denn wir müssen die Kranke, ohne sie viel zu bewegen, zu Bett bringen und vorläufig das Auge, das zusehens schwillt, mit kalten Umschlägen versehen. Den Umfang des Unglücks kann ich augenblicklich noch gar nicht überschauen.

Nun, den Jammer können Sie sich denken, den meine vorsichtig angebrachte Mittheilung erregte. Das heißt, nur der Kurt schrie auf und riß sich verzweifelt die Haare; die Mutter wurde bloß kreideweiß, stand auf und ging straff aufgerichtet uns voran ins Unglückszimmer. So war sie immer, die Betty, und von ihr hat’s die Marianne: in Gefahr und Unglück keinen Laut gegeben, Kopf kühl, das Herz fest gehalten, die Hände geschickt und stark. Nachher, wenn die Gefahr vorbei ist, klappen solche Menschen zusammen.

Wir bringen nun Marianne vorsichtig zu Bett und Betty legt ihr Umschläge aufs Auge, während Kurt zu unserm berühmtesten Augenarzt stürzt, Professor Schleiden kommt denn auch bald, läßt sich die Veranlassung des Unglücks erzählen – Marianne hat sich in der Dunkelheit des Schlafzimmers rasch niedergebückt, um den Rotwein aus dem Schrank zu nehmen; die Thür desselben hat aufgestanden, der Riegel war in die Höhe geschnappt und Marianne hat beim eiligen Bücken das Auge mit voller Wucht daraufgestoßen. Professor Schleiden besieht und betastet sorgfältig den Riegel, untersucht lange das Auge und sagt schließlich in seinem heitersten Tone zu Marianne: ‚Wenn Sie sehr artig sind und völlig regungslos liegen bleiben, mein liebes Fräulein, dann wird sich die Sache schon machen. Morgen komme ich wieder. Aber unbedingte Regungslosigkeit! Namentlich den Kopf dürfen Sie auch nicht um ein Haarbreit aus seiner jetzigen Lage bringen. Nun, wie gesagt, es wird schon werden – Sie tapferes kleines Fräulein!‘

Als Schleiden hinausgeht, folgen wir beiden Männer ihm. Im Hausflur bleiben wir alle stehen. Schleiden winkt mir mit den Augen. Aber Kurt Trenk bricht das Schweigen. Seine Stimme schwingt, als er herauspreßt: ‚Ist das Auge fort, Herr Professor? – Wird sie lebenslang entstellt bleiben?‘

Schleiden steht still und sieht ihn an. ‚Ach, Sie sind der Verlobte des Fräuleins,‘ sagt er langsam, ‚Ob das Ange gerettet werden kann, weiß ich noch nicht; doch hoffe ich es. Jedenfalls haben wir uns auf lange hin in Geduld zu fassen, Der Fall ist schwer, aber bei sorgsamster Pflege und völliger Ruhe des Körpers und Gemüths nicht hoffnungslos – vorausgesetzt, daß an dem Riegel keine Schmutztheilchen gehaftet haben, die eine Eiterung herbeiführen könnten.‘

Er giebt mir dann als seinem Kollegen noch besonderen Bericht, der aber im wesentlichen mit dem an Kurt übereinstimmt, schüttelt uns die Hände und geht. Kurt steht noch immer da, wühlt sich in den Haaren und ruft: ‚Mein Glück! Meine schöne schöne Marianne! Diese wundervollen Augen! – In vier Wochen sollte sie mein sein!‘

Ich sage nichts und schiebe ihn zur Hausthür hinaus; der Haß gegen den Bengel würgt mich an der Kehle.

Drinnen finde ich Betty, wie sie still an Mariannens Bett sitzt und ihr Umschläge aufs Auge legt. Sie leidet nicht, daß ich bei ihnen bleibe – sie wolle allein wachen. Im Nothfall schlafe ja das Dienstmädchen in der Nebenkammer, und zu Häupten von ihrem eigenen Bett hänge der Glockenzug, dessen Leitung unmittelbar in mein Zimmer führe. Ich füge mich endlich, denn ich erkenne das tiefe Bedürfniß der Frauen miteinander allein zu sein. Auch sind sie beide ja so vernünftig, und für ganz unwahrscheinliche Zwischenfälle sind Mädchen und Glocke da. Ich wünsche den Frauen also eine gute Nacht und lege zum Abschied noch meine Hand leicht auf die Mariannens. ‚Du wirst sehr verständig und gehorsam sein, nicht wahr, Kind?‘ sage ich. ‚Bist ja ein gescheites Mädchen, Du mußt unter allen Umständen still liegen bleiben, hörst Du, unter allen Umständen! Eine einzige hastige Bewegung kann Dich viel kosten –‘

‚Ich weiß, Onkel,‘ sagt sie leise, ‚das Auge – und den Bräutigam.‘

Mir fährt ein Schreck durch den Leib über soviel klares Erkennen, aber ich bezwinge mich und brumme nur: ‚Na also!‘

Ich lege mich in meinen Kleidern aufs Bett und horche lange auf jeden Laut, schleiche auch ab und zu an die Thür zu Mariannens Zimmer und lege das Ohr an die Ritze. Aber es ist drinnen alles still, nur einmal höre ich Mariannens Stimme, wie sie mit unbeschreiblicher Innigkeit: ‚Meine liebe Mutter!‘ flüstert.

Endlich muß ich doch eingeschlafen sein, denn ich fahre bei grauendem Morgen in jähem Schreck auf und kann mich zuerst nicht darauf besinnen, was vorgefallen ist, Dann aber fährt mir die Erinnerung in den Kopf und mit ihr die Erkenntniß, daß es die Glocke gewesen ist, die mich geweckt hat, Ich springe nun vom Bett und stürze nach dem Krankenzimmer.

Und ich denke, der Schlag soll mich rühren. Am Boden liegt die Betty, in tiefer Ohnmacht, und vor ihr – vor ihr kniet Marianne und beugt sich über sie und versucht mit aller Anstrengung, die Mutter aufzurichten.

‚Marianne!‘ schrei’ ich, ‚Marianne! Was hast Du gethan?‘ und fasse sie und trage sie in ihr Bett zurück.

‚Sieh’ nach der Mutter, Onkel,‘ sagt sie, ‚sonst stirbt sie mir – und dann hab’ ich keinen Menschen mehr auf der Welt.‘

Nun, die Betty bringe ich schon wieder zum Leben. Es ist wieder der Herzkrampf gewesen, der sie als Rückschlag der ungeheuren Aufregung nochmals jählings überfallen hat. Aber die Marianne, die Marianne! Die Tücher auf ihrem Auge sind blutig.

‚Bring’ die Mutter fort!‘ flüstert sie mir zu, und ich führe Betty in mein Zimmer und befehle ihr mit aller Autorität des Arztes und alten Freundes, zu schlafen, Sie fällt auch wirklich in tiefen Schlaf, Sie hat noch keine Ahnung, womit das Kind ihr heute ihre Mutterliebe bezahlt hat.

Dann sitze ich wieder an Mariannens Bett und kühle ihr Auge und sage: ‚Kind, Kind, was hast Du gethan?‘

‚Die Mutter gerettet, Onkel,‘ sagt sie einfach. ‚Sollte ich [424] denn ruhig liegen bleiben, als sie neben mir wie tot niederfiel? Hätte sie nicht tot bleiben können?’

,Das wohl,’ sag’ ich, ‚aber Du, Kind, Du!’ ‚Ich?’ giebt sie zurück. ‚Kommt denn mein Auge in Betracht, wenn es Mamas Leben gilt? Ich behalte ja noch ein Auge.’ Dann aber, als ich – ich kann’s nicht zurückdrängen – ein kurzes Schluchzen ausstoßen muß, hebt sie ein wenig ihre Hand auf der Bettdecke, als wolle sie nach der meinem greifen. und als ich meine Hand aufs die ihrige lege, drückt sie sie schwach und flüstert: ,Onkel, ich hab' mich besser gemacht, als ich bin. Ich habe – Onkel, ich habe gezaudert! Ich dachte– ich wehrte mich. aber es schoß mir durch den Kopf, tausend Gedanken auf einmal – ich bin eitel, Onkel, ich habe mich meiner Schönheit gefreut, und dann – die Zukunft, das lange lange Leben, so dunkel, so leer – ohne Kurt. Denn ich weiß, daß ich ihn verloren habe. Er wird mir natürlich treu bleiben wollen –’ sie stockte; dann wich alles Blut aus ihren Wangen und sie sagte noch leiser, mit wehem Ton: Mein, Onkel, ich weiß auch das: er wird sich nur zum Schein weigern, mich aufzugeben. Er hat ja nur meine Schönheit geliebt. Ich habe das immer gewußt, habe auch immer gefühlt, daß ich mit ihm unglücklich werden würde – und hab’ doch nicht von ihm lassen können. Auch jetzt noch Die Stimme versagte ihr. Aber nach einer Weile fuhr sie tapfer fort: ,So ist’s denn gut, daß der liebe Gott mir die Entscheidung aus der Hand genommen hat. Denn da der mich nun an den ganz offenbaren, ganz klaren Scheideweg gestellt hat: die Mutter oder Kurt – da hab’ ich doch gar nicht anders könne, ich hab’ die Mutter wählen müssen. Und es ist gut so. Ich werd’s überwinden. Und dann wird mein Leben wieder klar sein. Wir werden immer zusammenbleiben, Mutter und ich – und das ist das wahre Glück auch für mich.’

Sie schwieg. Und ich - nun ich schäme mich dessen nicht, ich weinte wie ein Kind. Dabei hatt’ ich aber doch ein Gefühl, als müßt’ ich Gott danken – schon dafür, daß er solch ein Geschöpf in die Welt gegeben hatte wie die Marianne.

Wäre es möglich gewesen, so würde sich meine Bewunderung für das Mädchen noch gesteigert haben auf dem langen langen Leidensweg, den sie nun zurückzulegen hatte. Denn, liebe Freundin, im Augenblick, wo es alles oder nichts heißt, sich zu einer heroischen That aufschwingen, das ist noch nicht das Schwerste, das erfordert nur ein edel geartetes Gemüth. Aber diese Aufopferung monate-, jahrelang fortsetzen, im unscheinbare Kampf mit tausend kleinen Hindernisse und Leiden, und dabei lächeln, das erfordert mehr, tausendmal Schwereres: unerschütterliche Selbstzucht.

Wochenlang mußte Marianne noch unbeweglich liegen; nachdem das linke Auge unrettbar verloren war, mußte wenigstens das rechte geschützt werben, das in Gefahr war, von der Entzündung, die sich nun einstellte, mitergriffen zu werden. Diese Gefahr wurde dank Mariannes Willenskraft abgewendet. Aber diese körperliche Selbstbeherrschung war doch die geringere der gegenüber, mit welcher sie die Mutter leise, ganz allmählich auf den Verlust des Auges vorbereitete. Doch trotz aller Vorbereitungen traf der Schlag die Betty mit ungeheurer Wucht. Sie konnte und konnte sich nicht darein finden und fügen; sie, die nie geklagt hatte, jammerte Tag und Nacht; sie vergaß, welche Angst sie um das Frauenlos Mariannes gelitten hatte, und es erschien ihr schlimmer als der Tod, daß das Geschick ihrem Kinde Schönheit, Liebe und Zukunft auf immer zerstörte. Da mußte denn die Marianne tapfer lächeln, mußte immer wieder trösten und schelten und versichern, daß das körperliche Leiden gar kein seelisches in ihr habe aufkommen lassen und daß sie nun, da sie so mühelos ihre Liebe überwunden habe, einsehe, es sei gar keine Liebe gewesen, sondern nur eine Art von Bezauberung. Jetzt sei der Bann gelöst, sie fühle sich frei und glücklich und freue sich, daß niemand und nichts sie je von der Mutter trennen werde. Denn es sei nicht ihre eigentliche Bestimmung, zu heirathen; die Liebe jenes Mannes sei zu rauh und gewaltsam für ihre verzärtelte kleine Person und zu heiß für ihr stilles Gemüth gewesen; sie sei ein Mutterkind und eine geborene alte Jungfer.

Und nach und nach glaubte sie selbst, was sie sagte, und Betty glaubte es auch. Da fanden sie beide zuletzt das reinste und friedlichste Glück.“

Der Doktor schwieg. Ich aber unterbrach das Schweigen mit der zaghaften Frage nach Kurt.

Der Doktor lachte geringschätzig auf. „Der?“ sagte er. „Nun, natürlich gebärdete er sich zuerst wie ein Rasender, wollte auch seine Braut um keinen Preis aufgeben, sprach von Mannesehre, von Treue und ähnlichen schönen Dingen. Als ich ihm dann einmal von weitem das Mädchen mit der schwarzen Binde um Auge und Gesicht zeigte, sah ich, daß er blaß wurde und es ihn schüttelte. Er ließ dann nichts mehr von sich hören – direkt, meine ich. Denn das Gerücht von den Gelagen und Abenteuern, in denen er seinen Liebesgram und vielleicht auch seine Selbstverachtung betäubte, drang auch bis zu unsern Ohren. Als Marianne davon vernahm, schmiegte sie sich nur um so enger an die Mutter an, und ich glaube, Betty dankte Gott in ihrem Herzen, daß er ihr Kind vor diesem Manne bewahrt hatte, und gab sich endlich zufrieden über die Art, in der es geschehen war. Zwei Jahre später ist Kurt Trenk mit dem Pferde gestürzt und elend ums Leben gekommen.

In demselben Jahre holten die beiden Frauen das kleine Mädchen zu sich, das Sie neben ihnen gesehen haben. Die Marianne hatte ihr früheres Dienstmädchen, die Liese, in ihrer letzten Krankheit gepflegt und nahm deren Kind zu sich, wobei sie freilich zuerst den Widerstand ihrer Mutter durch Bitten und festen Willen zu besiegen hatte. Die arme Betty war eifersüchtig und fürchtete eine Theilung von Mariannes Liebe. Nun aber hat sie sich längst in die Großmutterrolle eingelebt, und das Kind bringt frische Luft und Zukunftshoffnung in das Leben der einsamen Frauen.“

Wieder schwieg der Sanitätsrath. Ich aber murmelte leise: „Arme Marianne!“

„Arm?“ erwiderte der Doktor fast heftig. „Hat sie nicht ihre Mutter und das Kind? Und ist sie nicht in reinem Frieden mit sich selbst? Giebt es ein besseres Glück?“

„Vielleicht nicht,“ mußte ich zugeben.