Aus Verdis Heimath und Heim
Aus Verdis Heimath und Heim.
Das Goethesche „Sonnenland“ jenseit der Alpen ist nicht überall das ideale Land, wo Lorbeer und Myrthen unter dem sanften Hauche des Meerwinds sich grüßenb neigen oder Citronen und Orangen dem Wanderer in den durstigen Mund wachsen. Der deutsche Reisende, der mitten im Winter, schmutzigem Boden und trübem Nebelhimmel der Heimath entfliehend, schon beim Namen Mailand an sonnigen italienischen Maienzauber denken möchte, erlebt zunächst eine arge Enttäuschung, wenn er von Lodi ab über Piacenza nach Parma hin in das Flachland am Po einfährt: herber und starrer Boden, kultiviert nur im Laufe der Jahrhunderte unter stetem Ringen mit den wild gegen die Menschen-Herrenhand sich auflehnenden Naturkräfte, die das hier seit Römerzeiten angesiedelte Geschlecht eben auch herb und zähe, tüchtig und bieder, zu einem zuverlässigen Menschenschlag herangezogen haben, aus dem schließlich sogar kräftige Geister erstehen konnten.
Diesem trefflichen Ackerbauerngeschlechte, das hier an den Nebenflüssen des Po sitzt, ist Giuseppe Verdi entsprossen.
Wer von Piacenza nach Bologna fährt, kommt dicht an seiner Heimath und an seinem Heim vorüber – das wissen aber die Wenigsten.
Gelangweilt von der starrmürrischen Landschaft, hören sie von dem eiligen Zug aus, oder lesen sie die Namen unberühmter Stationen, nach Piacenza Pontenure, Cadeo, Fiorenzuola, Alseno – sehen sie eine Menge Flüsse und Flüßchen das Land durchirren, die alle dem altehrwürdigen Vater Po zuhasten, und dann werden wohl von italienischen Mitreisenden bedeutungsvoll die Namen Busseto und Roncole und Sant’ Agata ausgesprochen und es wird links hinausgedeutet, wo hinter dichten entblätterten Baumreihen eine weiße Villa erscheint, dazu ertönt in begeisterten Tönen der Name Giuseppe Verdi.
Wohl, das starre Land da ringsum, das die Via Aemilia und der Po durchschneiden, ist die Heimath des „Schwans von Busseto“, auf diesem Boden ist seine Familie erwachsen, die in ihrem letzten Gliede allen italienischen Landen zu so klingendem Ruhm verhelfen sollte. Eine Stunde etwa von seinem Vororte Busseto entfernt liegt das Dörflein Roncole, eine armselige Häusergruppe, von etwa 1200 ackerbautreibenden Menschen besiedelt und weithin verstreut über das Feld-, Wiesen- und Baumland.
Ein armselig Nest war auch die Lokanda, selten besucht von wandermüdem Volk der Landstraße, wo am Anfang dieses Jahrhunderts ein junges Ehepaar, Carlo Verdi und Luise Utini, sein Wesen trieb, der Vater Zucker, Kaffee, Schnaps, Essig, Heringe, Nägel und Zwirn soldoweise an die Bauern verkaufend, die junge Mutter spinnend.
Hier wurde am 9. Oktober 1813, während in Deutschland der große Befreiungskampf tobte, das Knäblein geboren, das zwei Tage darauf als „Joseph Fortunin Francis Verdi“ (die Landschaft gehörte damals noch zu den „Départements au delà des Alpes“) in das Civilstandsregister der Gemeinde Busseto eingetragen wurde.
Mit gerecktem Halse, weithinblickend über die in saubere Rechtecke eingetheilten Felder, hebt sich der Thurm der kleinen Kirche von Roncole über die niedern Häuser empor, und in der weißgetünchten Kirche steht als ehrwürdige Reliquie die altersschwache, nunmehr recht brustkranke Orgel, welcher der elfjährige Dorfknabe einst als Organist vorstand. Zeugen dieser Zeit sind noch einige hieroglyphenhafte Namensinschriften, von der unbeschäftigten Hand des Jungen mit dem Taschenmesser in die verwitternden Balken eingeschnitten.
Wundergeschichten aus seiner Jugend, aus denen man auf einen unwiderstehlichen Trieb für Musik schließen könnte, tischt der ehrliche Meister nicht auf, seine Biographen aber weben schon den Epheu der Legende um sein Haupt und erzählen, daß er wie der Knabe Mozart Musik im Rauschen der Wasser und Wälder gehört und den Maienvögeln die ersten süßen Melodien abgelernt habe. Gewiß ist nur, und das erzählte er so manches Mal schon in der heitersten Weise, daß man, wie überall damals im ganzen Lande, sich auch in dem kleinen weltfernen Roncole über die italienische Trübsal durch die alte Trösterin Musik hinwegtäuschen ließ und daß diese Tröstungen der sehr alte Schullehrer Baistrocchi, der die kleine Orgel bearbeitete, und ein wandernder Violinist übernommen hatten, ein zerlumpter, bettelarmer, zaundürrer Landstreicher, der vor der Thür der Verdischen Lokanda seine spanischen Tänze und alten Weisen aufspielte und damit einen großen Eindruck auf das Gemüth des Dorfjungen machte.
Eine rührende Geschichte ist es, wie dreißig Jahr später, als der Maestro, bereits vom ersten Sonnenschein seines Ruhmes bestrahlt, seine Villa Sant’ Agata gegründet hatte, derselbe land- und geigenstreichende Mann, immer dürrer geworden und immer noch in Lumpen, immer noch seinen uralten Weisen treu, vor das Gitterthor der Villa zu spielen kam. Verdi erkannte ihn, und an diesem Tage begingen zwei Menschen ein großes Fest: einer in Erinnerungen, der andere an reichbesetzter Tafel schwelgend. Mit Rührung gedenkt heute noch der Achtzigjährige jenes längst Verschollenen, der nicht bloß sein junges Ohr für weltliche Melodien anregte, sondern auch dem guten Vater rieth, seinen Sohn zur Musik anzuhalten.
Diese wurde zunächst in Roncole selbst auf einem überaus armseligen Klimperkasten in Angriff genommen, den der Vater unter einem großherzigen Ansturm auf seine kleine Sparkasse von einem benachbarten Priester erworben hatte. Das Instrument war ein aus irgend einem Urväter-Hausrath stammendes Spinett, der ebenso urväterliche Baistrocchi führte den jungen Giuseppe in die Geheimnisse der Skalen und Fingerübungen ein, und es war eine unendliche Freude für den Knaben, als er, für sich allein, den ersten C-dur-Akkord gefunden hatte. Leider vermochten die zarten Hämmerchen und Federspulen den harten Griffen des Knaben nicht lange Widerstand zu leisten, und wer weiß, ob nicht das ganze Musikvorhaben hier würde gescheitert sein, wenn nicht ein guter Handwerker aus Busseto helfend in die Mechanik eingegriffen hätte.
Das alte Möbel steht heute als Gedenkstück in der Villa Sant’ Agata, wo wir es im zweiten Stockwerk finden zur Seite einem andern, gleichermaßen in Ehren gehaltenen Wiener Pianoforte, das wir später kennenlernen werden. Wir wallfahrten indessen zur Villa, den Alten selbst zu sehen.
Wie Sonntagsfeier, wie der Duft eines hohen Festtages liegt es auf dem Lande; ein stiller Friedensglanz, der Wiederschein eines goldenen Sonnenuntergangs verklärt das Antlitz des schlanken stattlichen Greises, der, die Hände auf dem Rücken, das silbergeschmückte Haupt leicht zu den Blumen geneigt, zwischen dem frischgrünen Strauchwerk umherwandelt, nicht beunruhigt, nicht bethört und berauscht von dem tollen, rufenden Beifall, den ihm eben jüngst eine Welt zugeschrieen, nicht benebelt und nervös gemacht durch die dicken Weihrauchwolken, in die ihn die überspannten Opferer gehüllt. Lächelnd denkt er der bewegten Tage, froh, sie überstanden zu haben, und dazu achtzig Jahre alt!
Wer hätte das geahnt? Ein alter knorriger Stamm, der zu den abgestorbenen gezählt wurde, wird über Nacht von einem gewaltigen Frühling gepackt und ein ganzer Blüthenhimmel überwölbt seine Krone: der alte Verdi schenkt der blasierten Welt seinen lebensfrohen jugendfrischen „Falstaff“ und steht dabei, als ob sich das und noch einiges andere dazu von selbst verstünde. Er gehört zu jenen wenigen Gottbegnadeten, die das Alter in der Jugend abmachen, um dann im Sommer zu leben und im Frühling auszuklingen. –
Es ist ein einladendes Haus, diese Villa Sant’ Agata, ein Haus, dem man schon von außen die Behäbigkeit, die bequeme Gastlichkeit, die liebenswürdige anspruchslose Lebeweise des Besitzers ansieht. Der moderne, protzenhafte, goldprunkende Geist des Scheinenwollens ist in diese Räume nicht eingedrungen – ein oft wiederholtes Wort des Alten ist: „Ich will nicht auffallen, aber auch nicht abfallen“ – und wenn die Eleganz nicht fehlt, so muß man sie doch im höheren Grade sauber, zierlich, schmuck, heimelig nennen.
Der Maestro, der das einfache Haus um das Jahr 1849 ankaufte, hat es nach seinen Gedanken umgebaut; so haftet seine Seele an allem. Ursprünglich bestand es aus fünf, sechs Zimmern, dann, als seine Töne sich in klingendes Gold verwandelten, wurde von Jahr zu Jahr angebaut
„Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus –“
und doch ist, trotz des nicht ganz zufriedenen Besitzers, der sein Werk als ein „adattamento“, eine „Anpassung“, bezeichnet, ein einheitliches Ganzes entstanden, bescheiden, wie Verdi immer bescheiden war und heute noch ist.
[403] So mancher mag sich wundern, wie einer in dem an herrlichen Landschaften so reichen Italien und bei völliger Unabhängigkeit in der Wahl seines Wohnortes gerade dieses Fleckchen Erde zum Bau seines Heims erlesen konnte: am linken Ufer der unbedeutenden Ongina, in dem hügellos zum Po abfallenden Ackerlande, ohne Aussicht, höchstens daß vom Süden her die starren Berge von Massa und Carrara herüberblauen. Hierauf giebt es nur eine Antwort: die Heimathsliebe war mächtig in seinem Herzen, und darum siedelte er sich an auf seiner „süßen Vaterlandserde“, zwei Miglien von Busseto und vier von Roncole, auf dessen Fluren der Knabe gespielt hatte. Und nur hier, in dieser fast klösterlichen Abgeschiedenheit, ist es dem so tausendfach von hohler Neugierde in Anspruch genommenen Manne möglich, sechs Monate alljährlich in ziemlicher Einsamkeit zu verbringen. Keine lästigen Nachbarn wohnen störend um die Villa her; ein paar Gruppen stiller Bauernhäuser scharen sich zerstreut um das demüthige Kirchlein. Aber auch keine chinesische Mauer sperrt die Villenbewohner von der Außenwelt ab, man hat ihr sogar eine Brücke über das Flüßchen gebaut und der Weg darüber führt zwischen zwei sanften Trauerweiden hindurch gerade auf das zweistöckige Haus los, das mit seinen drei Fenstern Front in jedem Stockwerk und drei Bodenfenstern dir freundlich entgegenschaut. Hinter dem Hause dehnen sich Park und Garten, die Weinpflanzungen, durchsetzt von langen Reihen alter Bäume. Dort liegen auch die Wohnungen der Feldarbeiter, die sauberen Kuh- und Pferdeställe. Die Pferde sind des Meisters besonderer Stolz; er züchtet eine eigene Rasse, die nach ihm den Namen führt. Aber auch die Blumen haben seine große Zuneigung. Oft schon um fünf Uhr wandert er an Sommermorgen im Blumengarten umher, plaudernd mit dem alten Gärtner, Blumen schneidend für den Tafelstrauß. Ein liebliches Bild: der schöne Greis, eine Rose in der Hand, deren Duft er behaglich einsaugt. Um sieben Uhr trinkt er seinen Milchkaffee, um halb elf Uhr ruft das Glöckchen zu einer kräftigeren „Colazione“. Um zwei Uhr nimmt er die Tagesnachrichten seines Faktors entgegen, schreibt und liest bis um fünf, wo zu Tische gerufen wird. Nach dem Mittagessen spaziert er durch seine Felder und Wiesen, unterhält sich mit seinen etwa anwesenden Freunden, redet hier und da einen der Arbeiter an. Nach Sonnenuntergang geht er heim und widmet den Rest des Tages bei hellerleuchteten Zimmern der Unterhaltung im Gespräch, beim Spieltisch, am Billard.
Das wäre ein Tag des „Otium cum dignitate“, der schönen Muße, wo es nichts Absonderliches zu thun giebt. Anders geht’s, wenn der „Geist“ über ihn kommt. Dann wird der oft jahrelang verstimmt stehende große Erardflügel gestimmt und tönt oft stundenlang unter den Händen des Meisters.
Verdis Schlafzimmer, im Erdgeschoß der Villa, ist groß und dient – die Möbel ziehen eine Art Scheidewand – auch als Studierzimmer, das mit mancherlei köstlichen Erinnerungen geschmückt ist. Das Liebste wohl ist das Oelbild, das seinen einstigen Beschützer, Gönner und Förderer, dann unvergeßlichen Freund Antonio Barezzi, den Gewürzkrämer von Busseto, darstellt.
Der Name der Familie Barezzi wird in der Geschichte der italienischen Musik unverlöschlich bleiben und immer mit Ehren genannt werden. Der Eintritt Verdis als Kaufmannslehrling in das Barezzische Haus war eine jener Thatsachen, die ein günstiger Zufall schafft. Hinter den Zucker- und Kaffeesäcken, den Rum- und Heringsfässern suchte ihn sein Schicksal auf. Der Geschäftsherr, der selbst Flötist in der Kapelle der Kathedrale von Busseto war, alle Blasinstrumente kannte und Klarinette, Horn und das Ophikleïd spielte, war Vorstand eines Vereins von Musikfreunden, der in seinem Hause sein Wesen trieb und durch Ferdinando Provesi (auch dessen Bild findet sich in Verdis Villa), den ehrsamen Organisten des Städtchens, geleitet ward.
Der kleine Peppo schwamm in einem Meer von Wonne, als Barezzi ihm sein Wiener Pianoforte aus der Fabrik Fritz zur Verfügung stellte.
Dieser „Fritz“ und jenes Spinett stehen, wie gesagt, im Obergeschoß der Villa Sant’ Agata, beide „a. D.“, aber ehrenvoll verabschiedet. Das Spinett trägt noch das „Armuthszeugniß“ aus Verdis Kindheitsperiode. Stefano Cavaletti, der Pianofortestimmer von Busseto, hatte es aus lauter Gnade und Barmherzigkeit frisch beledert, ihm auch ein Pedal angehängt und darüber ein schriftliches Zeugniß in Handwerkerstil und -Orthographie ausgestellt, das wir noch jetzt an dem klapperigen Deckel lesen. Ins Deutsche übersetzt, würde es etwa lauten:
„Von mir, Stefano Cavaletti, wurden diese Hämmerchen erneut und mit Belederung versehen, auch das Pedal habe ich dazu gemacht, das ich geschenkt habe: wie ich auch die genannten Hämmerchen umsonst gemacht habe, da ich die gute Anstelligkeit des jungen Giuseppe Verdi sehe, dieses Instrument zu lernen und zu spielen, daß mir dies genügt, um damit in allem zufriedengestellt zu sein. Anno domini 1821.“
Auf dem Fritz’schen Pianoforte spielte auch Barezzis holdes Töchterlein Margherita, hier fanden sich, beim Vierhändigsplelen, zuerst die Hände Giuseppes mit den ihrigen, und sie ward später seine Frau, freilich nur auf kurze glückliche Jahre, da sie bereits 1840 starb. Ihr Bild zeigt ein schönes, heiteres Gesicht mit dem Haarputz der dreißiger Jahre. Seine zweite, noch jetzt lebende Frau, eine muntere, feinfühlende und feingebildete Dame, Giuseppina Streppani, war als Sängerin einst hochgefeiert in den ersten Verdischen Opern, so namentlich als Abigaïl im „Nabuccodonosor“; sie versteht es vortrefflich, die Ehren des Hauses zu machen.
Außer den zahlreichen Erinnerungsbildnissen schmücken noch viele Oelgemälde varzüglicher moderner Meister, alte Stiche und Zeichnungen die Wände; dazu kommen schöne geschnitzte Möbel, eine reiche Bibliothek mit allen Klassikern, mit Prachtwerken, Manuskripten, künstlerischen Erinnerungen, alles wohlgeordnet und übersichtlich dem Blicke der Freunde und Besucher bloßgestellt, ohne Aufdringlichkeit, ohne die hinweisende eitle Hand eines ruhmsüchtigen Hausherrn. Der Besucher auf Sant’ Agata merkt es sehr rasch, Giuseppe Verdi will nicht angeräuchert sein, nicht beobachtet, kaum beachtet, und so fühlt sich jeder wohl dem Hausherrn gegenüber, der, um es dem Gaste behaglich zu machen, seine täglichen Gewohnheiten auch nicht einen Augenblick verläßt und dem man aus diesem Grunde leicht anfühlt, wenn man ihn wirklich „stören“ darf. Er mag manchem rauh und kurz angebunden erschienen sein, wie er denn in seinem ganzen Wesen etwas gutmüthig Knorrig-Knurriges, das seine bäuerliche Abstammung verräth, bewahrt hat. Aber jener feine Herzenstakt, der wieder dem höchstgeborenen Menschen gar oft fehlt, hat Verdi nie verlassen, besonders nicht der stille große Humor, dem die Güte und Menschenliebe zur Seite stehen. Er hat aus früheren Zeiten die Gewohnheit beibehalten, kurz angebunden zu sein, wie es ein Mensch ist, der keine Zeit hat Leuten gegenüber, die deren zuviel haben, wie Stellenjäger, Neugierige, Eitle, Schwärmer, unverstandene Genies männlichen wie weiblichen Geschlechts. Diese alle werden vom Wahlspruch des Hauses betroffen: „Tempus meum ager meus est“, „meine Zeit ist mein Acker“ – und gehen davon und schimpfen auf den groben Alten.
Wer ihm je näher trat, liebt ihn.
Es giebt ja oft genug Stunden und Tage, wo der Meister „Mensch“ sein darf und dann ein wirklich liebenswürdiger Mensch ist. Da sind die Stunden der Tafel, von denen unter anderen sein Freund Giuseppe Giacosa, Dichter vortrefflicher Dramen, erzählt. Verdi ist kein Gourmand oder Schlecker; sein Tisch ist wirklich freundschaftlich, d. h. freigebig und einsichtsvoll. Die Küche von Sant’ Agata könnte auf die Bühne kommen, so malerisch ist sie in ihrer behäbigen Größe. Aber der ganze Apparat dient wesentlich der Gastfreundschaft, denn der Wirth ist unschwer zufrieden zu stellen. Er sitzt gerne zu Tische, wie alle gesunden arbeitsamen Menschen, dabei aber liebt er es über alles, um sich her an seinen Gästen die witzige und aufrichtige Heiterkeit strahlen zu sehen, die eine gute Mahlzeit zu begleiten pflegt.
Bei solchen Gelegenheiten und dann beim Kaffee erweist sich Verdi als geistreicher, lebhafter, farbenreicher Erzähler, der wie Nestor sich gern in Erinnerungen ergeht und dabei großen Humor und tiefes Gemüth entwickelt. Ein Lächeln, das seine Mundwinkel in seinen Fältchen umspielt, auch wenn er nichts sagt, ist bezeichnend für ihn und steht dem glücklichen Greise gar wohl an: es deutet auf die überlegene Selbständigkeit und Unabhängigkeit seines Geistes. Pfaffendiener und Hofschranze ist Verdi nie gewesen, er diente der Wahrheit und der Kunst, und aus der Kraft dieser schöpfte er seine Würde.
Im Jahre 1868 schickte ihm Broglio, der Minister des öffentlichen Unterrichts, das Komthurkreuz der Italienischen Krone, hatte aber gleichzeitig an Rossini einen Brief gesandt, worin er diesen in den „siebenten Himmel“ erhob, während keines anderen neueren italienischen Meisters Erwähnung gethan ward. Verdi [404] schickte die Dekoration mit einem sehr trockenen Begleitschreiben an den Minister zurück, und dessen freut er sich noch heute.
Und noch heute lacht er über den absonderlichen Kauz aus Reggio, der die lustigste Kritik übte, indem er das Geld für sein Theaterbillett zurückforderte. Dieser Biedermauu, durch den Hymnus verlockt, der sich zum Preise von „Aïda“ erhoben hatte, war nach Parma gekommen, die neue Oper zu hören. Sie gefiel ihm gar nicht. Voll Zorn darüber schrieb er an den Meister, klagte sich bitter an, sein Geld so übel ausgegeben zu haben, und forderte es unter Rechnungsablage kurz zurück: Fr. 5,90 Eisenbahn, Fr. 8 Theaterbillett, Fr. 2 für ein abscheuliches Abendessen im Bahnhofsrestaurant, und das alles mit 2 multipliziert, weil er, um seiner Sache gewiß zu sein, zweimal gekommen sei. An der ganzen „Aïda“ sei, außer der prächtigen Ausstattung, kein guter Bissen. Der Maestro lachte herzlich und beauftragte seinen Verleger Ricordi, dem unzufriedene Reggianer die Summe von Fr. 27,80 zur Verfügung zu stellen. „Er verlangt mehr,“ schrieb er dazu, „aber wie komme ich dazu, sein Abendessen zu bezahlen? Wahrhaftig nicht, er konnte das recht gut zu Hause abmachen. Selbstverständlich muß er eine Quittung ausstellen und sich förmlich verpflichten, meine neuen Opern nie mehr anzuhören, denn ein andermal bezahle ich ihm die Reise nicht.“
Es ist durchaus nichts Aufregendes, nichts Pikantes in den kleinen Geschichtchen, die von Verdi berichtet werden, oder die er selbst erzählt, und doch liebt die Zeitgeschichte Anekdoten, sie lebt von ihnen, wenngleich die wahren Größen dadurch oft verkleinert werden, während die falschen die ersten Erfinder und Verbreiter der Geschichten über sich selbst sind. Oft wird Verdis Vertrauter, Arrigo Boito, um solche dem großen Publikum wichtige Dinge befragt. Vor einiger Zeit antwortete er einem der Frager in schöner Weise: „Das Leben unseres Meisters ist seit vielen Jahren so ruhig und so abgeschlossen in den Studien und in seinem Hause, daß keinerlei merkwürdige Dinge oder bizarre Anekdoten dabei gedeihen. Das Pikanteste an diesem Leben ist, daß es von ihm nichts Pikantes zu erzählen giebt. Diese Eigenthümlichkeit freilich kann der Biograph nicht brauchen, dennoch ist sie beachtenswerth, denn sie zeigt die große Einfachheit des Künstlers und Menschen. Mit diesen wenigen Zeilen habe ich Ihre Anfrage beantwortet; alles andere, was ich Ihnen gesagt hätte, würde der Wahrheit nicht entsprechen.“
Ueber seine ehrliche und gerade Gesinnungsweise stellt sich der Meister selbst ein Zeuguiß aus in einem Briefe an Leopold Mastrigli, der ihm sein Buch über berühmte Musiker zugeschickt hatte. Er schrieb ihm von Sant’ Agata: „Geehrter Herr! Entschuldigen Sie mich, bitte, wenn ich Ihnen für das Buch, das Sie so liebenswürdig waren zu senden, noch nicht gedankt habe. Gleichermaßen bitte ich, mich zu entschuldigen, wenn ich Ihrem mir geäußerten Wunsche, meine Ansicht über Ihr Buch zu äußern, nicht nachkomme. In Sachen der Musik und der Arbeiten über Musik glaube ich weder an mein Urtheil noch an das anderer. Erinnern Sie sich der Gutachten Webers, Schumanns, Mendelssohns über Rossini, Meyerbeer und andere und sagen Sie mir, ob man Vertrauen in das Urtheil eines Komponisten haben kann!“
Gemessene Höflichkeit ist das Gepräge der Briefe Verdis an Personen, mit denen er nicht näher steht. Der Ton in Briefen an Freunde ist ein ganz anderer, in diesen herrscht herzliche Innigkeit. So erzählt man Wunderdinge von dem Briefwechsel mit dem Grafen Opprandino Arrivabene, mit dem Verdi von erster Jugend an in schriftlichem Verkehr stand. Die Veröffentlichung der Briefe erlaubt das Testament des nunmehr verstorbenen Grafen erst nach zwanzig Jahren, doch weiß man, daß sich darunter eine ganz absonderliche Korrespondenz befindet, geführt durch mehrere Jahre zwischen zwei Wesen, die sich im Leben liebten und denen Verdi und der Graf als Sekretäre und Dolmetscher dienten: zwischen dem Hündchen Verdis und der niedlichen Hündin seines Freundes. Verdi schrieb von Zeit zu Zeit im Namen des Hundes an die kleine ferne Braut und erhielt Antwort. Die beiden Herren versuchten allen Ernstes die Gefühle ihrer Thiere zu errathen und gaben ihnen manchmal Ausdruck in einer phantastischen Hundesprache. Verdi ist ein großer Freund des Fabulierens und liest Romane (die „Verlobten“ Manzonis sind sein Lieblingsroman) mit höchstem Genuß.
Dabei beschäftigen ihn die Gegenstände seiner Opern, sobald er eine neue in Angriff nimmt, im äußersten Grade. Ehe er sich an die Komposition seines „Othello“ machte, studierte er den Shakespeare, las die Uebersetzungen in Prosa und Versen nebst den verschiedenen Auslegungen. Nun ging er an das Deklamieren der Boitoschen Verse, und er ist ein hervorragender Deklamator. Mit immer steigender Betonung spricht er sie, bis sie in einer Art von musikalischem Rhythmus erklingen und er sie im Geiste in der ihnen bestimmten Melodie hört. Dann geht er ans Niederschreiben, und jetzt steht die ganze Musik fertig vor ihm da. Notizen hat er sich vorher nur wenige gemacht; die zu „Falstaff“ umfassen nur zwei Seiten. Alle Verdischen Partituren, die jüngsten wie die ältesten, sind von einer ausnehmenden Sauberkeit und Uebersichtlichkeit, und alle zeigen sie die gleiche Handschrift, die Notenköpfe wie Perlen aneinandergereiht.
Es wird aus seiner lebhaftesten Schaffensperiode erzählt, daß er am 1. November 1852 über den „Trovatore“ zu „sinnen“ begann, und am 29. desselben Monats war die Partitur zur Auffuhrung fertig und er trug sie von Sant’ Agata nach Cremona zu seinem Verleger Ricordi. Dann geht er in der Weihnachtswoche nach Genua, wo aber das Schiff, das ihn nach Rom führen soll, des Festes wegen erst in drei Tagen abgeht. In diesen drei Tagen schreibt er den ersten Akt der „Traviata“. Es folgt die Trovatore-Aufführung in Rom, 19. Januar 1853; er reist zurück in seine Sant’ Agatinische Einsamkeit, vollendet in dreizehn Tagen die „Traviata“, und am 6. März schon kommt sie in Venedig zur Aufführung.
Schon die mechanische Arbeit bei solchem Schaffen ist staunenswerth, denn man erinnere sich, daß jede Partiturseite aus etwa dreißig Notenzeilen besteht, auf denen die Noten zu Hunderten und Aberhunderten sich drängen, verdichten, gruppieren, dazu die unzähligen Vortragsbezeichnungen, die Textworte etc.!
So ging es rastlos weiter. Wohl klagte er in den allerletzten Jahren; „Ach was, Musik, die Kunst der Leidenschaft, verlangt Sinnenjugend, Blutwärme, Lebensfülle, um auf die Geister zu wirken“ – aber dann schuf der Achtzigjährige ein Jugendwerk, mit jugendlicher Kraft hat er sich daran gemacht. Zu frühester Morgenstunde stand er auf, beweglich und heiter wie ein verliebter Jüngling, und diese Oper war wirklich eine alte Jugendliebe. Schon 1847 schwebte ihm „Falstaff“ vor, und der Gedanke an ihn hat ihn nicht mehr verlassen.
Er schrieb am 3. Dezember 1890 darüber an den Kritiker des „Popolo Romano“, den Marquis Gino Monaldi: „Liebster Herr Monaldi! Was soll ich sagen? Vierzig Jahre sind es, daß ich wünsche, eine komische Oper zu schreiben, und bereits fünfzig, daß ich die ‚Lustige Weiber von Windsor‘ sah, doch . . . die gewöhnlichen ‚Aber‘, die überall sind, stellten sich diesen Wünschen immer entgegen. Jetzt hat Boito diese Aber beseitigt und mir eine lyrische Komödie geschrieben, die ihresgleichen nicht hat. Ich amüsiere mich höchlich, die Musik dazu zu schreiben, planlos, ohne zu wissen, ob ich sie vollende. Wie gesagt: ich amüsiere mich. Falstaff ist ein Halunke, der sich alle möglichen schlechten Streiche erlaubt, doch immer unter ergötzlicher Form. Er ist ein Typus ... Die Oper ist durchaus komisch. – Amen.
Ihr G. V.“
Als Mann der strengen Zucht zeigt sich Verdi auch darin, wie er die Proben zu neuen Opern, so jüngst zu „Falstaff“, abhält. Er ist von militärischer Pünktlichkeit und verlangt das Gleiche von den Künstlern. Mit Schwatzen verliert er keine Minute; er kommt, grüßt freundlich, und die Probe geht los. Er kennt die seiner Sache dienenden Kräfte ganz genau und sucht den besten Nutzen daraus zu ziehen. Er giebt, da ihm im Vortrage eine klare deutliche Aussprache über alles geht, seinen Sängern die Worte, ja die Silbe an, die hervorgehoben werden müssen, und erlaubt keinerlei Willkürlichkeit in Bezug auf Phrase und Rhythmus, keine (in Italien noch immer so beliebte) Fermate, die er nicht vorgeschrieben hat. So läßt er oft ein Wort, einen Takt zwanzig-, dreißigmal wiederholen. Sind diese technischen Grundlagen fertig, so beginnt die Farbengebung, und dies ist der anziehendste Theil seines Einstudierungswerkes. Nun wird Verdi selbst Sänger und Schauspieler und macht die Schritte, Handbewegungen, Stellungen, das Mienenspiel selbst vor. Sein Auge leuchtet, läßt den Darsteller nicht mehr los und begeistert ihn. Dasselbe geschieht mit dem Orchester. Während der Proben zu „Falstaff“ war der Alte ganz wieder Jüngling geworden. Von neun Uhr früh bis halb elf sah er die Partitur und die Rollen durch, von halb ein bis [405] halb fünf Uhr war Theaterprobe, von fünf bis sechs Einzelprobe verschiedener Künstler im Saale des Hotel Milan, von halb neun bis halb zwölf nachts wiederum Probe in der Scala, dazu gesellschaftliche Anforderungen, und dabei war er von höchster Liebenswürdigkeit.
In früheren Zeiten zeigte er sich wohl etwas herber, da mußte er noch etwas auf der Hut sein gegen die Anmaßungen der Künstler. In Florenz lebt heute noch die Sängerin Barbieri-Nini, eine vorzügliche Darstellerin. Sie erzählt, Verdi habe während der Proben fast kein Wort gesprochen, ob er zufrieden war oder nicht. Nie erscholl aus seinem Munde ein Wort der Ermuthigung, nie ein Bravo der Zustimmung. So war er beim Personal nicht beliebt, man nannte ihn den „Bischero“ den „Geigenwirbel“. Ein bestimmtes Duett in „Macbeth“ wurde mehr als hundertundfünfzigmal geübt. Am Abend der Generalprobe – das Theater war übervoll – verlangte Verdi von den Darstellern, daß sie im Kostüm singen sollten. Das Orchester saß bereit, der Chor stand auf der Bühne. Da winkte der Maestro der Barbieri und dem Varesi, mit ihm im Theatersaal noch eine Probe abzuhalten, jenes vielgeprobte Duett nochmals zu proben.
„Aber Maestro,“ rief verzweifelt die Primadonna, „wir stecken schon im schottischen Kostüm. Wie ist das zu machen?“
„Hängen Sie sich einen Mantel um.“
Und Varese, der Plackereien müde, wagte es, geärgert die Stimme zu erheben: „Aber das haben wir nun hundertundfünfzigmal geprobt!“
„In einer halben Stunde werden Sie das nicht mehr sagen, dann sind’s hunderteinundfünfzig.“
Es mußte gehorcht werden, und der Sänger folgte dem voranschreitenden Maestro, die Hand am Degengriff, als wenn er ihn durchbohren wollte.
Aber – das Duett wirkte Wunder und mußte an einem Abende fünfmal wiederholt werden. Nach der ersten Vorstellung trat Verdi hastig in das Ankleidezimmer der tief ergriffenen Sängerin, bewegte die Hände, bewegte die Lippen, als ob er eine große Rede halten wollte, aber kein Wort kam aus seinem Munde. Die Barbieri lachte und weinte und war gleichermaßen sprachlos, und Verdi hatte die Augen voll Thränen. Er drückte der Sängerin heftig die Hand und stürzte dann hinaus.
Verdi war und ist ein Feind aller öffentlichen Huldigungen, ganz besonders der Reklame. Zur Zeit der ersten Aïda-Aufführung in Kairo schrieb ihm der berühmte Mailänder Musikkritiker Filippo Filippi, daß er dieser Aufführung beiwohnen werde. Verdi antwortete ihm: „Sie nach Kairo? Aber das ist ja eine der gewaltigsten Reklamen, die man für die ‚Aïda‘ ausdenken könnte. Ach, mir scheint’s, daß die Kunst, auf diese Weise behandelt, keine Kunst mehr ist, sondern ein Handwerk, ein Vergnügungsausflug, eine Jagdpartie, ein irgend etwas, hinter dem man dreinläuft, dem man nicht den verdienten Erfolg, sondern Aufstehen um jeden Preis verschaffen will. Mein Gefühl dabei ist Ekel, Verdruß und Kränkung. Immer muß ich mit Freude und Genugthuung der ersten Zeiten meiner Laufbahn gedenken, da ich, fast ohne einen Freund zu haben, ohne daß jemand von mir sprach, ohne Vorbereitungen, ohne Einfluß irgend welcher Art, mich dem Publikum mit meinen Opern vorstellte, bereit, füsiliert zu werden, und sehr glücklich, wenn es mir gelang, einen günstigen Eindruck zu machen. Jetzt hingegen, welcher Apparat für eine Oper! Journalisten, Künstler, Choristen, Direktoren, Professoren etc. – alle müssen ihr Steinchen zu dem Reklamebau herbeitragen und dergestalt eine Gesamtheit von Kleinlichkeiten schaffen, die dem Werth der Oper nichts hinzufügen, die ihn nothwendig vermindern würden, wenn welcher darin wäre!“
So hat er auch der Politik immer ferngestanden und nur ein einziges Mal sich fangen lassen. Cavour hatte einmal mit einem Freunde über die Wahlen der Provinz Parma gesprochen und sich scherzhaft geäußert: „Machen wir doch unsern Verdi zum Abgeordneten, in Italien brauchen wir so nothwendig ein bißchen Harmonie!“ Verdi nahm an und war Volksvertreter für eine Gesetzgebungsperiode. „Auf Politik,“ sagte er später, „verstehe ich mich nicht. Solange Cavour lebte, blickte ich in der Kammer auf ihn und erhob mich, zuzustimmen, wenn er zustimmte; ich that, wie er that, und war sicher, nicht fehlzugehen. Jetzt, mit den anderen Herren, die zweifellos auch sehr tüchtig sind, finde ich mich nicht mehr zurecht und habe Furcht, eine Dummheit zu machen.“
In der Kammer saß er neben seinem Freunde Sella, und während dieser mathematische Hieroglyphen malte, vergnügte sich Verdi, diese oder jene alberne Phrase der „Ehrbaren“ in Musik zu setzen. Verschiedene solcher verdianischen Autographen sind noch im Besitz früherer Abgeordneten.
Sechs Monate des Jahres lebt Verdi in der Abgeschiedenheit seines Sant’ Agatinischen Tusculums, die übrige Zeit meist in Genua. Hier bewohnte er in frühern Jahren den von Alessi erbauten Palast Sauli in Carignano, nicht fern vom Meere, dessen blaue Fluth er durch Cedern- und Magnolienbäume erblicken konnte. Später bezog er den am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen historischen Palast der Campofregoso, der dann in den Besitz der Doria übergegangen war. Andrea Doria hatte ihn erweitern lassen, Perin del Vaga, ein Schüler Rafaels, mit Malereien geschmückt. Diese Wohnung wie die Stadt Genua liebt Verdi gar sehr. Seine Lebensweise gleicht der auf der weltfernen Villa. Auch hier steht er frühzeitig auf, dann aber mischt er sich in das lebhafte Treiben [405] der großen Hafenstadt auf der Piazza Carlo Felice, dem Centrum Genuas. Hier kauft er, langsam schlendernd, seine Zeitungen und kehrt langsam nach Hause zurück. Manchmal aber spaziert er bis zur Promenade Acquasola, oft zum Hafen, meistens unerkannt, oder, wenn erkannt, unbelästigt, und das freut den alten Herrn, der nun einmal nicht bewundert sein mag.
Nachmittags erneuter Schlendergang, und da hat man ihn gesehen, wie er gleich andern genuesischen Hausherren seine Einkäufe bei den Wursthändlern macht: Salami- und Schinkenschnitte für den „Antipasto“, das übliche Voressen bei dem italienischen „Pranzo“. Man hat ihn sogar gesehen, wie er im Volksviertel Prè ein paar Salatstauden einkaufte, die er mit ernsthafter Miene in sein seidenes Taschentuch wickelte und heimtrug.
Das ist so ungefähr Verdi als Mensch, den Musiker haben andere gewürdigt. Sein größtes Werk aber kennen sie noch nicht, die wenigsten kennen es, denn es wird erst nach seinem Tode erscheinen.
Mitten unter der „Falstaff“-Arbeit der letzten Zeit und lange vorher schon hat es ihn unausgesetzt beschäftigt, denn es soll die Krönung seines Lebens werden, eine Hoffnung und ein Trost allen Künstlern, die auf dem unbeständigen Meere der Kunst Schiffbruch gelitten und, alt, enttäuscht, lebensmüde, Brot nöthig haben und ein Feuer, die morschen Knochen zu wärmen. Wir meinen das von Verdi „den Invaliden der italienischen Kunst“ gewidmete Hospiz. Diese großartig geplante Wohlthätigkeitsanstalt wird in Mailand errichtet auf einem Plan von 3000 Quadratmetern. Das Gebäude ist auf eine halbe Million veranschlagt, der Verwaltung wird ein Kapital von zwei Millionen zugewiesen. Die Zahl der Aufzunehmenden (beiderlei Geschlechts) ist auf 130 berechnet. Und noch anderes ist bedacht. So beschäftigt den sorgsamen Stifter gar lebhaft der Gedanke, wie er am schicklichsten seine alten Sänger und Musikanten unterbringe, ob zu je zwölf in einer großen Kammer, damit sie nächtlich nicht allein seien – doch, meint er, würden sie dann die „Spittelgedanken“ nicht los werden. Er möchte dann wenigstens zwei zusammenbetten, um der Besorgniß vorzubeugen, daß so ein armer Alter in der Nacht, von irgend einem Uebel gepackt, hilflos dahinsterbe.
So denkt er Tag und Nacht vor und möchte in seiner feinen Gesinnungsweise auch nach seinem Tode keinen kränken.
Um seine Lorbeeren kümmert er sich nicht, die sind aber längst zu einem sturmgesicherten Wäldchen emporgewachsen.