Das Porträt des Fürsten Bismarck (Die Gartenlaube 1895/12)
[199] Das Porträt des Fürsten Bismarck, welches unsere heutige Kunstbeilage den Lesern darbietet, ist die Nachbildung eines der neuesten Gemälde von Franz von Lenbach. Seit die „Gartenlaube“ den „eisernen Kanzler“ zum erstenmal abgebildet hat – es war im Jahre 1870 auf jenem Bild von Camphausen, das die erste Begegnung des Kanzlers mit dem gefangenen Franzosenkaiser auf der Straße von Sedan nach Donchery darstellt – hat das Alter und das Schicksal in Bismarcks Erscheinung gar manche Veränderung hervorgebracht. Aber noch leuchtet unter der buschigen Braue das Auge, in dessen Ausdruck sich so energisch der tiefblickende und weitschauende Geist ausprägt, der an der Gründung des Deutschen Reichs und seiner Ausgestaltung zu Macht und Ansehen einen so gewaltigen und maßgebenden Anteil gehabt hat. Von allen Malern, welche die Erscheinung des Fürsten Bismarck unmittelbar nach dem Leben in Bildnissen festgehalten haben, ist Lenbach derjenige, der den Charakter des willensgewaltigen Staatsmanns am lebenswahrsten zur Darstellung gebracht hat. Es ist ihm auch wie keinem anderen vergönnt gewesen, das Wesen des Fürsten im persönlichen Umgang eingehend zu studieren, was der Lebenswahrheit seiner vielen Bismarckporträts natürlich zum Vorteil gereichen mußte. Vor allem aber ist es doch die Lenbach innewohnende geniale Begabung für die Darstellung bedeutender Charakterköpfe, sein künstlerischer Trieb, historische Persönlichkeiten in ihrem innersten Wesen und ihrer bleibenden Bedeutung zu erfassen und im Bilde wiederzugeben, welche ihn wieder und wieder antreibt, in der Darstellung des von ihm mit Begeisterung Verehrten seinem Talente das Höchste abzuringen, und die seinen Bismarckporträts wiederum einen Wert von historischer Bedeutung verliehen hat.