Das Passionsspiel zu Oberammergau
Alle Rechte vorbehalten.
Das Passionsspiel zu Oberammergau.
Dem höchsten Gipfel des Deutschen Reiches, der weit ins Land hinaus grüßenden Zugspitze, liegt eine ausgedehnte waldreiche Berglandschaft vorgelagert, aus welcher ein klargrüner Alpenfluß, die Amper oder Ammer, in zahllosen Windungen durch unbeschreiblich einsame Waldthäler hinausfließt in die weite Spiegelfläche des Ammersees. Während andere Alpenströme neben sich Raum lassen für verkehrsreiche Straßen und belebte Ortschaften, ist das Ammerthal auf meilenlange Strecken eigentlich nur menschenleere Waldschlucht. Erst in seinem oberen Theile öffnen sich weite grünende Wiesenflächen, in welchen die Ortschaften Unter-, und Oberammergau und Graswang liegen, überragt von mattenreichen waldgekrönten Bergen. Der Zugang zu diesem Thalboden führt aber nicht durch das untere Thal des Flusses, sondern aus dem benachbarten breiten Loisachthale her über ein bewaldetes Joch.
Von den Ortschaften dieses Thalbodens hat sich das Dorf Oberammergau einen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt steigenden Ruf erworben als Heimstätte des großartigsten Volksschauspiels.
Oberammergau liegt dort im Ammerthale, wo dessen Landschaft aus den Hochalpen in die Vorberge übergeht. So sieht man nach Süden zu, thaleinwärts, schon recht ansehnliche felsige Berge; nach Norden aber wird die Gegend zur harmlosen Hügellandschaft. Die Lage ist immerhin schon so gebirgig, daß der rauhe und lange Winter nur spärlichen Landbau gestattet. So waren die Ammergauer genöthigt, sich nach einem Nebenerwerb umzusehen, der ihnen das Wenige, was von der rauhen Bergnatur geboten ward, ergänzen sollte. Sie fanden einen solchen Nebenerwerb in der Holzschnitzerei, welche sie seit etwa hundert Jahren zu achtbarer Höhe brachten. Fast in jedem Hause sieht man Schnitzerwerkstätten. Die erste Anregung zur Ammergauer Holzindustrie sollen übrigens schon im zwölften Jahrhundert die Mönche eines benachbarten Stiftes gegeben haben. Eine besondere Ausbildung hat auch in der That das Schnitzen größerer Holzfiguren für kirchliche und weltliche Zwecke gefunden; daneben werden Kinderspielsachen, Möbel und Nippzeug gefertigt. Ehedem gingen die Schnitzer selbst mit ihrer Ware hausirend im Lande umher; jetzt lassen sie sich den Absatz von einigen größeren Verlegern besorgen.
Der künstlerische Zug, den die Bevölkerung des Ortes dadurch erhielt, äußert sich indessen in der Bauweise des Dorfes nur wenig. Schön geschnitzte Holzarchitektur findet man nicht; dafür sind die Häuserfronten mitunter ganz artig bemalt, wie z. B. das Haus des Bürgermeisters, das unsere Abbildung zeigt.
Einen weit glänzenderen Ausdruck hat dieser künstlerische Zug in dem Passionsspiele gefunden, welches während der letzten Jahrzehnte wirklich zu einer Weltberühmtheit geworden ist.
Das Ammergauer Passionsspiel ist eine ganz einzig in ihrer Art dastehende Erscheinung der Kulturgeschichte, eine gleichzeitige Betätigung religiöser und künstlerischer Triebe aus des Volkes breitester Schicht heraus. Die Entwickelungsgeschichte dieses Spiels hängt zusammen mit den schon im frühen Mittelalter in den christlichen Ländern üblichen geistlichen Schauspielen, welche Mysterien genannt wurden, da sie die Geheimnisse der christlichen Religion versinnlichen sollten. Solche geistliche Spiele wurden namentlich an hohen Kirchenfesten aufgeführt; sie waren von Geistlichen gedichtet und geleitet; ihr erhabenster und zugleich beliebtester Inhalt war das Leiden Christi. So weit später die Reformation die Geister in gährende Aufregung brachte, kamen, besonders in den Städten, diese geistlichen Schauspiele außer Brauch und erhielten sich nur in der Einsamkeit der Alpenthäler. Hier aber wurden sie zu einer Art Laiengottesdienst, bei welchem in einer der kindlichen Weltanschauung des Alpenvolks trefflich entsprechenden Mischung religiöse Erbauung, künstlerische Anregung und sittsame Unterhaltung sich vereinigten. Während die Greuel des Dreißigjährigen Krieges unser
[398]deutsches Vaterland verwüsteten, ward im Waldthale der oberen Ammer der Anfang dieser Spiele gemacht. Es war im Jahre 1633; eine todbringende Seuche hauste im Thale, und die Mönche des benachbarten Klosters Ettal, die geistlichen Seelenwächter der Ammergauer, veranlaßten diese zu einem Gelübde, alle zehn Jahre die Leidensgeschichte Christi darzustellen. Die Klosterherren sorgten auch für die Dichtung, für die Musik und den Theaterbau, und die erste Aufführung fand 1634 statt.
Die Dichtung soll dazumal, dem verwilderten Zeitgeschmack entsprechend, manche roh burleske Züge enthalten haben; aber sie läuterte sich im Laufe der Zeit, und das fromme Spiel ward von den Thalbewohnern, treu ihrem Gelübde, alle zehn Jahre wiederholt.
Am Anfang unseres Jahrhunderts wehte ein kühler Luftzug durch das bayerische Staatswesen, der manche alte Einrichtung hinwegfegte. Auch das Ammergauer Passionsspiel wäre ihm beinahe zum Opfer gefallen; denn als die Ammergauer im Jahre 1810 um die obrigkeitliche Erlaubniß zur Aufführung ihres Passionsspieles baten, wurde ihnen dieselbe versagt. Da machten sich einige wackere Ammergauer Männer auf, um als Vertreter ihres Dorfes nach München zu wandern und da beim hohen geistlichen Rathe sich die Erlaubniß zu holen. Hier scheinen sie noch übler behandelt worden zu sein als von ihrer heimischen Polizeibehörde; man drohte ihnen sogar mit polizeilicher Ausweisung aus München. Und die Kloster Klosterherren von Ettal waren auch nicht mehr da, um sich ihrer Ammergauer anzunehmen; denn das Kloster war schon seit Jahren aufgehoben.
In dieser Nothlage wandten sich die Ammergauer an den König Max Joseph selbst. Der leutselige Herrscher hatte einen klareren Blick für die Lebenslagen seines Volks als mancher seiner bureaukratischen Gewalthaber; er zeigte sich den Ammergauern geneigt, und sie erhielten wirklich die Erlaubniß zu ihrem Passionsspiele; dieselbe ward ihnen, nachdem sie schon abgezogen waren, noch nachgeschickt.
Daß indessen die bisherigen Aufführungen manches Anstößige enthielten, war den braven Ammergauern von niederen und höheren Behörden genugsam gesagt worden; und es galt nunmehr, eine zeitgemäße Umgestaltung des Textes vorzunehmen.
Das war eine schwere Aufgabe; denn wie sollten die schlichten Bauern und Holzschnitzer auf einmal dramatische Dichter und Regisseure werden? Aber einer der vormaligen Ettaler Mönche, ein Doktor Ottmar Weiß, half ihnen über die Schwierigkeit weg. Er verwandelte die schwülstigen gereimten Verse des Textes in eine klarere Prosa und beseitigte allerhand schwere Allegorien, insbesondere aber die Teufel, welche vordem eine wichtige Rolle in dem Spiele innegehabt hatten. – Der so entstandene Text gewann einfachere, menschlichere Gestalt. Er geht von dem Grundgedanken aus, die Ereignisse der alttestamentlichen Geschichte als prophetische Vorbilder des Erlösungswerkes Christi in die eigentliche Passion zu verflechten und so den Zuhörern vor Augen zu führen, wie alles, was vor Christus geschehen sei, nur ihn vorbereiten sollte. Die alttestamentlichen Ereignisse aber wurden als lebende Bilder in die dramatisch gegebene und gespielte Leidensgeschichte des Erlösers verflochten. Und damit eine erklärende Verbindung zwischen diesen lebenden Bildern und dem Drama gegeben werden könnte, wurde ein begleitender und erklärender Chor geschaffen. Eine Musik zu dem ganzen Spiele schrieb der Ammergauer Dorfschullehrer Dedler.
So ward die Umgestaltung vollendet und im Jahre 1811 das Spiel zum ersten Male in seiner neuen Form aufgeführt. Seit dem Jahre 1820 fanden die Vorstellungen in jedem Jahrzehnt in ununterbrochener Reihenfolge statt. Bis zu der Vorstellung des Jahres 1830 war der Kirchhof zugleich Platz für das Theater gewesen, im genannten Jahr aber wurde das Theater auf einer Wiese neben dem Dorfe errichtet, wo es auch jedenfalls eine bessere Stätte hat.
Heute noch wird aber das Spiel nicht bloß als eine Sache der Ehre und des gemeindlichen Nutzens aufgefaßt, sondern als die Erfüllung eines frommen Gelübdes der Vorfahren. Nur Gemeindeglieder von Oberammergau dürfen mitspielen; die Begeisterung und das Talent für das Spiel pflanzen sich in den Familien fort. Wie mächtig dieses Spiel in die ganze Lebenshaltung der Dorfbevölkerung eingreift, ist wohl schon daraus zu erkennen, daß von den etwa 1300 Einwohnern ungefähr die Hälfte an dem Spiele betheiligt ist, theils als Schauspieler, theils als Statisten, Kassirer, Aufseher, Theaterzimmerleute, Dekorationsmaler und dergleichen. [399] Es konnte nicht fehlen, daß der rastlos vorwärts eilende Zeitgeist während der letzten Jahrzehnte an dem Ammergauer Passionsspiele manches änderte. Die Hauptsache: der fromme Eifer der Ammergauer und der erhebende Grundcharakter des Spieles, blieb glücklicherweise erhalten. Was im Jahre 1860 der um seine Gemeinde treu besorgte Pfarrer Daisenberger durch seine poetische Umdichtung am Texte veränderte, hat jenem Grundcharakter nicht geschadet. Auch die Musik ist bisher die alte geblieben. Die Vorstellungen im Jahre 1870 wurden durch den Krieg jäh unterbrochen; damals geschah es, daß selbst der Darsteller des Christus zur Fahne mußte. Was in den letzten Jahrzehnten gründlichst umgestaltet wurde, das sind jene Einrichtungen, die sich auf den Verkehr nach Ammergau, auf Unterkommen und Bewirthung beziehen. Jetzt führt ja der eiserne Schienenweg unter der Ettaler Straße vorüber; eine Reihe von Gasthöfen in Ammergau und den benachbarten Orten sind für den immer mächtiger anschwellenden Zufluß der Passionsgäste eingerichtet; die Bewohner von Oberammergau selbst haben alles gethan, was in ihren Kräften stand, um die zuströmenden Menschenmassen beherbergen zu können. Der Weltcomfort hat sich in dem stillen Waldthale ausgebreitet; und für den, dessen Zeit drängt, ist es heute möglich, am frühesten Morgen von München ausfahrend, das ganze Spiel anzusehen und abends wiederum in München zu sein.
Aber nun treten wir die Fahrt selber an.
Es ist ein sonniger Morgen im Frühling; ein mächtiger Sonderzug trägt uns aus der Halle des Münchener Bahnhofes in die Hochebene hinaus. Flimmernd hangen im Süden, von leichten Morgenwolken überflogen, die Schneefelder der Alpen. Station um Station wird durchfahren; dann taucht der entzückende Spiegel des Starnberger Sees vor uns auf. Heute lassen wir ihn links liegen mit seinen Villen und seinen gleich Schmetterlingen auf der lichten Fläche umhergaukelnden Segelbooten. Wir durcheilen auf den rastlosen Rädern die Moränenlandschaft südwestlich vom See, sehen in weiter Ferne traumhaft den Ammersee schimmern und immer mächtiger die Alpenkette vor uns aufsteigen. Dann erschließt sich zur Rechten in bezaubernder Schönheit der Staffelsee, von der Wetterstein-Kette überragt, und der Zug donnert hinunter in den weiten düsteren Kessel des Murnauer Moors. In der nächsten Viertelstunde schon sind wir rings vom Banne des Hochgebirgs umfangen; klargrün schießt uns ein Alpenstrom, die Loisach, entgegen. Bald wird das weitere Thal zur engen Schlucht, und wo diese wieder zu einem grünen Kessel sich öffnet, liegt Oberau, die Station für Ammergau. Mit ihrem ganzen Riesentrotze schauen die Wände des Wettersteingebirges herein, überall Schnee an den Flanken tragend.
In Oberau ist ein internationales Treiben. Eine ganze Wagenburg harrt hinter dem Bahnhofe. Und nun, wenn der Zug seine Massen entladen hat, rasselt es von dannen wie eine wilde Jagd, mit Geschrei und Peitschenknall. Während die Wagen eine schöne, erst seit ein paar Jahren in die felsige Berglehne gebaute Kunststraße hinaufrollen, wandern Scharen von Fußgängern die alte, jetzt nicht mehr befahrene Straße über den Ettaler Berg hinauf, die ehedem der berüchtigste Marterweg für Roß und Wagen war. Wo dieser Straßenzug seinen höchsten Punkt erreicht, liegt in grüner Thalweitung das alte Stift von Ettal. Das Kupferdach des mächtigen Kuppelbaues, der einst begonnen ward, um ein Seitenstück der Gralskirche zu werden, giebt dem ganzen Bau einen metallenen Charakter. Westwärts fährt der Blick in die herrliche Bergeinsamkeit des obersten Ammerthales, wo hinter schöngeformten schroffen Felsbergen menschenleere Jochsteige nach Tirol hinüberführen und wo eines der Prachtschlösser König Ludwigs des Zweiten, der Linderhof, liegt. Unsere Straße aber führt uns nach Norden, unter weißgrauen Felswänden hin, dann in einen weiten grünen Thalkessel. Und ehe wir’s vermuthen, stehen wir zwischen den ersten Häusern von Oberammergau. Das allererste derselben ist die zierliche Villa, welche sich Frau Wilhelmine von Hillern, die bekannte Schriftstellerin, hier auf einem niedrigen Felshügel erbaut hat.
Wir beeilen uns zunächst, uns ein bescheidenes Unterkommen für eine Nacht zu suchen. Da wir früh an der Zeit sind und die Ammergauer reichlich für Wohnungen gesorgt haben, ist das nicht schwer; bedenklicher mag die Frage für solche werden, die erst am späten Abend vor einem Spieltage eintreffen. Gespielt wird immer an Sonntagen und, soweit es wegen überstarken Besuchs nöthig ist, auch an Montagen, außerdem noch an einigen anderen Wochentagen.
In den Nachmittagsstunden vor den Spieltagen entwickelt sich in der Hauptstraße ein äußerst lebhaftes Treiben (s. unser Bild S. 401). Die Passionsgäste aus allen Kulturländern der Welt schlendern hier durcheinander; zwischen eleganten Amerikanerinnen und Russinnen drängen sich die schlichten Pilger durch, die in ihrer bäuerlichen Tracht aus der Umgebung gekommen und auf dem Stroh der Massenquartiere untergebracht sind. Und Wagen auf Wagen rollt heran, um seine Menschenlast abzuladen; Rossegestampf und Peitschenknall, das Rufen der Kutscher und die Fragen der Gäste; Posthornklänge auf der Gasse, Posaunenstöße eines Orchestermitglieds aus einem Hause; Glockenläuten und Rädergerassel: all das bildet ein etwas verworrenes, aber keineswegs ungemütliches Konzert in der staubdurchzitterten heißen Luft. Von der schwindelnden Höhe des steilen „Kofels“, der mit seiner jäh aufgebauten nackten Felspyramide die westliche Thalmauer bildet, schaut ein schimmerndes Kreuz auf das bunte Treiben herab.
Am Morgen eines Spieltages wird es früh lebhaft in Oberammergau. Glockengeläut und Böllerschüsse geben der Feststimmung Ausdruck; von Süden und Norden kommen noch Fuhrwerke und Fußwanderer, die in grauender Morgenfrühe [400] aufgebrochen sind. Wir wandern nach dem Theater, das am nördlichen Ende des Dorfes steht. Die Gartenlaube hat es bereits früher, Seite 665 des vorigen Jahrgangs, beschrieben. Es ist ein umfangreicher Bretterbau mit festgefügtem Balkengerüst und umfaßt fünftausend amphitheatralisch ansteigende Sitzplätze.
Die rückwärtigen höheren Sitzreihen enthalten die theueren bedeckten Plätze; näher der Bühne zu und niedriger liegen die unbedeckten Plätze; sie sind wohlfeiler und werden meist von dem Landvolk eingenommen. Für Fürstlichkeiten ist eine besondere Loge mit Vorzimmer und allen möglichen Bequemlichkeiten versehen hergerichtet worden. Zehn große Ausgänge führen unmittelbar ins Freie, um den Zuschauerraum bei einem etwaigen Unglücksfall in kürzester Zeit entleeren zu können, während ein Krankenhaus und eine Feuerwehrstation in der Nähe des Passionsspielhauses selbst den ängstlichsten Gemüthern Beruhigung gewähren dürften. Das ganze Theater ist eben erst neu gebaut worden, unter der Leitung des Obermaschinenmeisters Lautenschläger vom Münchener Hoftheater. Durch diesen Neubau wurde der Raum vergrößert, die Dekorationen wurden stilgerecht, das bühnentechnische Zubehör brauchbarer. Auch die Beleuchtung des Spielraumes, die bei den früheren Aufführungen recht mangelhaft war, ist wesentlich verbessert worden. Man erhellt die Panoramadekoration durch regulirbares Tageslicht und unterstüzt die Wirkung durch künstliche Beleuchtung der theilweise durchsichtigen Dekorationsstücke.
Ebenso geht die Verwandlung der Bilder rascher vor sich und die ganze Maschinerie, namentlich das Flugwerk für die Himmelfahrt Christi, hat hat mannigfache Verbesserungen erfahren. Das Orchester ist tief gelegt wie beim Bayreuther Wagnertheater. Hinter der Bühne liegen die Garderobe- und Requisitenräume, in welche unserem Künstler ebenfalls ein Blick verstattet worden ist (s. Bild S. 398).
Die Bühne ist eine weitläufige Einrichtung, an das altgriechische Theater erinnernd. Sie besteht aus einem zweiundvierzig Meter breiten Proscenium, welches sowohl für den Chor, als auch für die Schauspieler berechnet ist. Hinter diesem Proscenium, in der Mitte desselben, befindet sich ein kleinerer gedeckter Theaterbau, in welchem die lebenden Bilder und ein Theil der eigentlichen Handlung ihre Stätte haben. Zur Rechten und zur Linken desselben sieht man in die Straßen von Jerusalem; an diese schließen sich wiederum rechts und links zwei schmale Gebäude, die Paläste des Annas und des Pilatus, jedes mit einer Freitreppe nach dem Proscenium herab. Diese Paläste fügen sich wieder an Bogengänge an, welche dem Chor zum Ein- und Austritte dienen.
Durch eine solche Gesammteinrichtung ist eine große Mannigfaltigkeit und reiche Gliederung des Bühnenraumes gegeben. Einzelne Theile der Handlung spielen auf der Mittelbühne, andere rückwärts in den Straßen; wieder andere auf dem Proscenium, und einzelne endlich, wie die Verhandlungen vor Annas und vor Pilatus, auf den Freitreppen der erwähnten Paläste (s. Bild S. 405). Die Mittelbühne besitzt Dekorationen und Coulissen; über das Ganze aber sieht der Zuschauer von den höheren Plätzen aus die grünen Matten und Wälder der Oberammergauer Berge hereinschauen.
Diese Gestaltung der Bühne entspricht in vorzüglicher Weise dem ganzen geistigen Aufbau des Passionsspieles. Dasselbe beruht auf dem Grundgedanken, die eigentliche Leidensgeschichte Christi, vom Einzuge in Jerusalem bis zur Auferstehung, mit alttestamentlichen Ereignissen derart in Verbindung zu bringen, daß jedem Hauptmoment der Leidensgeschichte als Einleitung ein oder zwei lebende Bilder aus dem Alten Testamente vorangehen, um zu zeigen, wie jene Hauptmomente in früheren Ereignissen ihre Vorbilder haben. Die Aufgabe des Chores ist es, diesen Zusammenhang zu erklären, auf jeden einzelnen Theil der dramatischen Handlung vorzubereiten. Dabei erfüllt aber dieser Chor noch eine andere Aufgabe. Er ist es, welcher dem ganzen Passionsspiele jenen eigenthümlichen Zug eines Laiengottesdienstes verleiht, durch welchen es zwar an dramatischem Leben verliert, aber weit mehr an Würde und Weihe dafür gewinnt.
Lassen wir nun das Spiel seinen Anfang nehmen.
In dem von fünftausend Menschen gefüllten Zuschauerraume wird es still; die einfache und würdige Ouverture, von Ammergauer Musikern pünktlich ausgeführt, beginnt. Wie sie zu Ende ist, tritt aus den Säulengängen an den Seiten der Bühne der Chor, etwa fünfundzwanzig Männer und Mädchen in antikem Priestergewande. „Schutzgeister“ nennt das Volk herkömmlicherweise die Gestalten dieses Chores; sie tragen weiße Tuniken, darüber faltenreiche goldverbrämte Mäntel von verschiedenen Farben, Diademe auf den Häuptern. Ihre Bewegungen sind ernst und gemessen.
Nach einem vom Chor gesungenen Prolog erhebt sich der Vorhang der Mittelbühne; als lebende Bilder erscheinen zuerst die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradiese; dann ein leeres Kreuz mit anbetenden Frauen und Kindern. Auch der Chor sinkt anbetend nieder; nachdem das lebende Bild verschwunden ist, mischt sich in den Gesang des Chores, von rückwärts erschallend, das Hosianna, das dem in Jerusalem einziehenden Christus zugerufen wird. Der Chor leitet jede der siebzehn „Vorstellungen“, aus welchen das ganze Passionsdrama besteht, ein; er steht in geschlossenem Bogen vor der Mittelbühne, während deren Vorhang geschlossen ist, und löst sich zurücktretend in zwei Hälften auf, wenn der Vorhang aufgezogen wird.
Und nun quillt aus den Straßen Jerusalems der scheinbar endlose Zug, welcher den Heiland geleitet, jubelnd und Palmzweige schwingend. Wir sehen Christus selbst, von der Eselin hereingetragen, eine würdevolle und edle Erscheinung; wir sehen ihn, wie er die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel vertreibt und die Tische der Wechsler umstürzt.
Nun folgen, streng an die Darstellung der Evangelien sich haltend, die Ereignisse in mächtiger Steigerung: die Anschläge [401] des Hohen Rathes gegen Christus; der Abschied zu Bethania; der letzte Gang nach Jerusalem; das Abendmahl und die Stiftung des Mahles des Neuen Bundes. Der Verräther Judas verläßt das Abschiedsmahl; gleich daraus sehen wir ihn in das Synedrium eintreten und seinen Meister für dreißig Silberlinge an die Pharisäer verkaufen.
Ergreifend ist die folgende Vorstellung: Christus auf dem Oelberge in seiner bitteren Todesangst, der Judaskuß und die Gefangennahme.
Hiermit schließt die erste Abteilung. Vier Stunden, von acht Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags hat sie gewährt; eine Ruhepause von anderthalb Stunden bietet Gelegenheit, die Lebenskraft durch Speise und Trank zu erfrischen.
So weltlich auch das Treiben während dieser Pause sein mag: man kommt sofort wieder in die rechte Stimmung, wenn man nach derselben das Theater wieder betritt und nun in fast athemloser Spannung den Ereignissen der Leidensgeschichte weiter folgt.
Wir sehen den Messias nun vor Annas und Kaiphas geführt, von letzterem des Todes schuldig erklärt, von Petrus verleugnet, von den Dienern verspottet und mißhandelt; dann Judas, dem hohen Rate seinen Verrätherlohn hinwerfend und in wilder Verzweiflung in den Tod gehend.
Dann wird Christus vor Pilatus, vor Herodes geführt, zu Pilatus zurückgesendet, gegeißelt und mit Dornen gekrönt.
Der Gang zum Kreuze und die Begegnung mit Maria erschüttern die Herzen der Tausende; stärker noch die Kreuzigung selbst, die letzten Worte des Gekreuzigten und sein erhabenes Ende.
Noch folgt die wunderschön in lautloser Stille gegebene Kreuzabnahme, endlich die Ruhe Christi im Grabe und die Auferstehung. Mit einem Hallelujagesange schließt das Passionsspiel.
Es ist eine der merkwürdigsten und ergreifendsten Leistungen, welche durch das Zusammenwirken aller edlen Künste, durch die schlichte Frömmigkeit eines einfachen Bergdorfes, durch die treue und ausdauernde Hingebung begeisterter Menschen hier der Welt dargeboten wird.
Daß den Ammergauern ihr Passionsspiel einen Weltruf verschafft hat, daß jedes Passionsjahr ihnen mit den Tausenden von Besuchern einen mächtig anschwellenden Strom irdischen Reichthums zuführt: es ist ihnen gewiß nicht gleichgültig; aber dieser irdische Erfolg steht ihnen doch erst in zweiter Reihe. Als erstes gilt ihnen – und das kann man jeder Einzelheit des Ganzen entnehmen – die Erfüllung des Gelübdes ihrer Väter, das Bewußtsein, einer Idee zu dienen, welche ihnen heilig ist und welche von Geschlecht zu Geschlecht fortlebt, allen theuer und selbst für die ruhelosen Weltkinder des Jahrhunderts rührend und groß.