Das Osterfest in St. Petersburg

Textdaten
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Autor: H. K.
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Titel: Das Osterfest in St. Petersburg
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 188–191
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Osterfest in St. Petersburg.

Man erzählt, daß einst ein russischer Feldherr seinen Soldaten die sonderbare Verheißung gab: „Wer heute fällt, erwacht auf ewig frei vom Militärdienst in seiner Hütte wieder“ – und daß er mit diesen Worten bei seinen Leuten Glauben fand. Das dürfte man heute nicht einmal dem russischen Bauer, geschweige denn dem gebildeten Russen bieten, denn auch für das Reich des weißen Czaren ist die Aera angebrochen, in welcher der kindlich-naive Glaube anderen Anschauungen den Platz räumen muß. Aber wie blasirt auch der Jungrusse unserer Tage sich geberden mag, das Kreuzchen, das ihm bei der Taufe umgehängt wird, trägt er bis zu seinem Tode auf der Brust und erfüllt bei wichtigen Anlässen alle die Pflichten, welche ihm die Lehre seiner Kirche auferlegt. Nirgends in der christlichen Welt ist auch das Volksleben so eng mit den religiösen Satzungen verbunden, wie in [189] Rußland, und eine kurze Schilderung der russischen Osterbräuche dürfte den besten Beweis für die Wahrheit unserer Behauptung liefern.

Osterfest auf den Marsfelde zu St. Petersburg.
Originalzeichnung von G. Broling.

Gehen doch diesem größten Feste der Christenheit die sieben Wochen der großen Fasten voraus, eine lange, ernste Vorbereitungszeit; doch halt: es sind sieben Wochen weniger einen Tag, denn der letzte Sonntag ist noch kein Fasttag; er heißt der „Vergebungssonntag“ und trägt mit Recht diesen Namen, da jeder griechische Christ sich an diesem Tage mit seinen Feinden auszusöhnen sucht; dabei kann natürlich nicht gefastet werden, und geschieht dies auch nicht; der edle Zweck des Tages wird vielmehr durch die letzten [190] Genüsse der Zeit des Fleisches verschönt. Daß ein solcher Tag bei der tiefen Religiosität der Russen wirklich rührende und erhebende Scenen hervorruft, läßt sich leicht denken, denn über die leibliche Wirkung der Fasten im nordischen Klima macht sich auch der frömmste Russe keine Illusionen, namentlich in Petersburg, welches den Frühling als die mörderischeste Jahreszeit von jeher kennt. Freilich kommt da dem gebrechlichen Greise der Gedanke: erlebst du noch das Osterfest? Aber auch das blühende junge Mädchen denkt mit Schrecken daran, welche Einbuße ihre Schönheit durch die sieben Wochen der Fasten vielleicht erleiden wird, Kurz, die allgemeine elegische Stimmung ist recht begreiflich. So geht denn der letzte wehmüthige Freudentag hin, und von Montag an giebt’s kein Theater, keinen Ball etc. mehr. Dafür aber ist die Fastenzeit die Concertsaison, und da Petersburg noch immer als Künstler-Eldorado weit und breit bekannt ist, so strömen die Koryphäen der Kunst gerade zur Fastenzeit nach dem eisigen Newastrande.

Trotz alledem hält aber der Echtrusse die Fasten mit ihren verschiedenen Abstufungen gewissenhaft ein. Nur in höheren Gesellschaftskreisen erscheinen die Hausärzte als Retter in der Fastennoth und gestatten ihren „Patienten“ aus höheren gesundheitlichen Rücksichten den Genuß des für sieben Wochen verpönten Fleisches. Die Herrenwelt dagegen flüchtet oft, um zu Hause kein Aergerniß zu geben, in die Restaurants, wo bei verschlossener Thür in Privatcabineten tapfer den fleischlichen Gerichten zugesprochen wird. Doch dies sind gesellschaftliche Geheimnisse, über die allzuviel zu plaudern nicht erlaubt ist.

Wie fastet aber der Russe? Während der sieben Wochen ist ihm der Genuß von Fleisch, Butter und allen animalischen Nahrungsmitteln, ausgenommen Fische, verboten. In Anbetracht dieser Umstände muß man die Kunst der russischen Köche bewundern, denn mancher Westeuropäer nimmt hier eine Fastenmahlzeit ein, ohne zu ahnen, daß weder in der Bouillon, noch in den Cotelettes Fleisch, respective Butter vorhanden war. Das ist namentlich in den aristokratischen Häusern der Fall. Allerdings kann ich nicht verschweigen, daß sich auch oft das Ganze auf den Kopf stellt, d. h. daß der rechtgläubige Hausherr es nicht ahnt, daß der brave Koch ganz ruhig Fleisch zu den Speisen verwendet; der Herr merkt es nicht, oder er will es oft nicht merken.

Die Hauptfasttage sind Mittwoch und Freitag, die strengsten Fasten werden aber in der Mitte der „Kreuzeswoche“ und während der „Marterwoche“ eingehalten. Die „Kreuzeswoche“ hat ihre Benennung daher, daß während derselben in den Kirchen stets das blumengeschmückte Kreuz ausliegt und sich unzählige fromme Beterschaaren zum Küssen desselben von früh bis spät versammeln; als Talisman wird eine Blume vom Kreuze mitgenommen.

Der Gläubige kämpft sich durch die ersten sechs Wochen mit Mühe durch, um in der siebenten schier zu erliegen. Auch Fisch ist jetzt nicht mehr gestattet: Pilze, Gurken, Kwas (schlimmer als Dünnbier) bilden von nun ab die vorgeschriebene Nahrung, und dazu kommt fast unaufhörlicher Gottesdienst. Der Russe muß sich also wirklich zur Osterfreude durchkämpfen, und es ist kein Wunder, wenn er sich derselben dann auch voll hingiebt: kindlich-naiv, wie sein Glaube ist, sind auch die Aeußerungen seiner Freude.

Am Charfreitag wird überhaupt bis zur Grablegung nichts genossen. Ich glaube indeß hier bemerken zu müssen, daß die griechische Kirche nicht, wie die katholische, eine Figur ausstellt, wohl aber einen Katafalk mit einem Sarge, auf dem der gekreuzigte Heiland (das Crucifix) sich befindet. Am Sonnabend vor zwölf Uhr Nachts wird derselbe in das Allerheiligste zurückgetragen; unterdessen sind rund um die Kirche herum Holzsteige gebaut, und Alles bereitet sich nun zum hohen Feste vor. Zu Hause werden Eier gefärbt, Kulebjaki (süßes Weißbrod in Cylinderform) gebacken, Pascha (Twarog, d. h. gekäste Milch mit Rosinen) eingekauft; Schinken, kalter Braten, Geflügel geben außerdem nebst Caviar, Sardinen etc. den nöthigen Schmuck des Ostertisches ab, dessen Hintergrund eine, je tiefer nach Rußland hinein, desto stattlichere Flaschenreihe bildet. Vom Ballcostüm bis zum einfachen „besten“ Kleide, vom Frack, Parade-Uniform bis zum „neuesten“ bunten Hemde liegen die Feierkleider bereit; die Hausknechte haben die Lampions vorbereitet, die Festungsartillerie hundertein Kanonen blind geladen, der Feuerwerker seine Raketen aufgestellt; auf den Plätzen der Stadt aber stehen schon die mächtigen Balagane (bretterne Meßbuden) bereit; nur in den Priesterwohnungen herrscht Schweigen der Ermattung, Schweigen der Erbauung.

Es wird Abend; die arme Bevölkerung wie die Bedienung der Reichen sammeln sich, mit Kulitsch, Pascha und gefärbten Eiern beladen, schon um neun Uhr vor den Kirchen; denn die mitgebrachten Gegenstände müssen vom Priester geweiht werden. Jeden Kulitsch schmückt eine mehr oder minder schöne Papierblume, und ein Wachslicht ist der dürre Nachbar derselben. An den vier Ecken der herrlichen Isaaks-Kathedrale stehen pfannentragende Engelgruppen; heute Abend sind diese Pfannen mit Brennwerk gefüllt, um in der ersten Stunde hoch aufzulodern. Verrauscht ist das Gewirr des Tages und lautlose Stille hüllt die Stadt ein. Da öffnen sich um zehn Uhr die Pforten der Tempel; eine geschmückte Menge drängt sich schnell in das Schiff der Kirchen, aber auch heute wahrt die Rangclasse ihre Rechte. So lange noch die Auferstehung nicht verkündet ist, werden in der Kirche, wie es bei griechischen Todtenfeiern Brauch, Evangelien gelesen. Heute darf Jeder an das kleine Betpult herantreten, auf welchem die Bibel liegt; und eifrig sucht einer den andern abzulösen, um zum Andenken an den gekreuzigten Christ ein Paar Bibelverse zu lesen.

Alle die Andächtigen stehen da, ein Wachslicht in der Hand; dieses brennt noch nicht, denn noch ist Christ nicht erstanden; seine Grabesstätte ist leer; das Christenauge sucht vergeblich seinen Heiland, aber das Herz hofft auf Trost, und leise, leise erhebt sich ein Gesang; fremd sind uns die Worte, die Melodie aber ist trostverheißend; mächtiger und mächtiger schwillt er an, und endlich zieht der Oberpriester, von der ganzen Geistlichkeit mit Kreuz und Kirchenfahnen begleitet, den Heiland suchend, aus. Jedes Beters Licht flackert auf, und ein tausendfaches Lichtmeer ist dieser Zug, der auf den vorbereiteten Bretterstiegen Christus suchend fünfmal die Kirche umzieht, um wieder in den Tempel zurückzukehren, zum Altar, wo allein der Heiland zu finden.

Voller und mächtiger schwellt der Gesang in dem Hymnus gipfelnd:

„Der Auferstehung Tag! Die Feier soll uns heil’gen.
Umarmen laßt als Brüder uns!
Verziehen sei jetzt denen, die uns hassen,
Zur Auferstehung laßt uns freudig singen;
Christ, unser Heilaud, ist ersntanden.
Durch seinen Tod besiegte er den Tod
Und schenket Auferstehen allen Sündern.“

Das ist der Triumphgesang des griechischen Osterfestes, und wer ihn je gehört, der vergißt ihn gewiß nie. In demselben Augenblick werden 101 Kanonenschuß von der Festung gelöst, aus der Isaaks-Kirche leuchten die Fackeln, auf allen Straßen glitzern die Lampions, von allen Kirchen tönen alle Glocken – der Priester tritt auf seinen Diacon zu, ihm den Osterkuß reichend, und Jung und Alt, Vornehm und Niedrig grüßt sich im Tempel mit dem brüderlichen Osterkuß.

Doch nur einen kleinen Theil duldet es noch in den heiligen Räumen; die Meisten eilen nach Hause zum Ostertisch, wo noch so mancher heimliche Freund des Osterkusses wartet, und er wird ihm zu Theil; denn heute darf Niemand dem Andern den Kuß verwehren; küßt doch auch der Kaiser den letzten seiner Unterthanen, wenn derselbe sich zu ihm herandrängen kann.

Die Geistlichkeit segnet noch in und außerhalb der Kirche Eier, Kulitsch und Pascha, für jede Weihe drei Kopeken und ein Ei als Opfergabe empfangend; in den großen Städten sammelt sich, wie gesagt, dann Alles um den heimathlichen Herd, in der Provinz aber zieht die Geistlichkeit sofort nach beendetem Gottesdienst zu den Machthabern, um den Wirth mit der Familie und dem ganzen Hause zu segnen; in der Provinz beginnen schon in der Nacht die Ostervisiten, und überall reicht man dem Gaste freudig Speise und Trank dar; der Arzt muß also Arbeit bekommen; denn die Osterzeit ist schlimmer als jede Epidemie.

So die Osternacht – der Ostermorgen aber will gleichfalls sein Recht haben.

Der berühmte Petersburger Paradeplatz, „Das Marsfeld“ oder, wie das Volk ihn nennt, „Die Kaiserwiese“, auf welcher zwar seit Jahrhunderten kein Grashalm wuchs, aber 50,000 Soldaten bequem manövriren können, prangt mit seinen zehn Volkstheatern, Menagerien, Caroussels, Bier- und Theebuden so verlockend, daß man der Osterfreude nur eben durch einen Besuch derselben Ausdruck geben kann. Leider ist die Osterzeit auch die Blüthezeit der Wuchergeschäfte; denn auch der Aermste giebt sein vorletztes Kleid hin, nur um alle die Herrlichkeiten, die sich ihm [191] hier zu geringerem Preise als sonst bieten, genießen zu können. Erheben sich doch stets dort die Eisberge, das echtrussische Nationalvergnügen, und ist es nicht zu herrlich, mit einer slavischen Grunja, Faina, Chawronja eng umschlungen auf schmalem Schlitten für billigen Preis durch die Lüfte, so eiskalt sie auch sind, im Sturm dahin zu fliegen? Und wieder ein anderes Bild! Dort die Theater: Berg, Ssemenow, Fedorow etc. Hier die Schlacht bei Plewna, dort der Balkanübergang, dort rettet der biedere Kosak eine türkische Jungfrau, dort slavische Tänze und Gesänge, hier wieder ein so gemüthliches Local, in dem man sich wärmen und stärken kann, und dazu die Eisverkäufer, die Tabuletkrämer, die Zuckerbäcker, die Sbitenschini (Siropwasserverkäufer) – wer könnte all den Lockungen widerstehen, und namentlich kann dies das „weite“ russische Herz? Darf es Einen daher wundern, wenn man hört, daß jedes hölzerne, für zwei Wochen hergerichtete Theater an Baukosten allein gegen 8000 Rubel verschlingt, Decorationen, Schauspieler, Costüme, Requisiten ungerechnet? Jedes Theater faßt 1000 bis 2000 Zuschauer, und jede Vorstellung wird mindestens stündlich wiederholt.

Das erinnert allerdings an das chinesische Theater in Maimatschin, wo zu Neujahr (im Februar bei dreißig Grad Kälte) die zehn bis dreißig Tage währenden Gratisvorstellungen auf offener Bühne in „freiem Frost“ inscenirt werden.

Auf dem Marsfelde bei Petersburg sind zum Besten der Volksmassen alle denkbaren Vorsichtsmaßregeln getroffen. Zehn bis zwanzig Ein- und Ausgänge hat jedes Theater, am Canal steht eine fortwährend heizende Dampfspritze, nebenan hält stets eine Abtheilung Feuerwehr Wache, und auch die Polizei ist stark vertreten, doch nicht, um das Volk in Ordnung zu halten; denn das ist zu Ostern nicht nöthig; die Polizei muß nur den Wagen- oder vielmehr Schlittenverkehr regeln; denn auch die vornehmsten Herrschaften besuchen aus Patriotismus die Balagane, und der einfache Mann bringt dort Jedem nur offene Arme mit der Freude- und Friedensbotschaft: „Christ ist erstanden“ und mit brüderlichem Kusse entgegen, und der Angeredete erwidert freudig: „Wahrhaftig, er ist’s!“

Auch für den Humor ist Sorge getragen auf der „Czarenwiese“. Ueberall erblickt man den „Wanka Durak“, den spaßhaften Greis, der Jedem in Knüttelversen etwas zu sagen weiß. Natürlich schleichen sich auf diesem Vergnügungsplatze auch Uebelstände ein, die die Polizei zum Einschreiten zwingen. So kündigte vor einigen Jahren ein kleiner Budenbesitzer für die Osterzeit ein „Panorama Petersburgs, Entrée 5 Kopeken“ an, er machte indeß nur am ersten Tage gute Geschäfte; massenhaft anströmendes Publicum wurde durch einen schmalen Gang, an dessen Tourniquet die 5 Kopeken erhoben wurden, einzeln zu einem kleinen, einen halben Schuh im Quadrat messenden Guckloch zugelassen, das ohne Glas nur eben die nächste Umgebung als natürliches Panorama zeigte. Obschon Niemand klagte, kam die Polizei doch am nächsten Tage in Gestalt eines nach dem Guckloch verlangenden Gorodowois (Stadtsergeanten) und forderte den speculativen Impressario auf, die „gemüthliche Bude“ zu schließen. Dies geschah denn auch, obgleich ein nicht kleiner Theil des später anlangenden Publicums es laut und lebhaft bedauerte, das schöne Panorama der herrlichen „nordischen Palmyra“ nicht mehr genießen zu können!

Der Sonntag nach Ostern ist in Rußland dem Andenken der Eltern geweiht und heißt: „der Eltern-Sonntag“. Die Pietät des russischen Glaubens erfordert es, daß an diesem Tage die jungen oder alten Kinder hinausziehen, um auf dem Grabe der Eltern ein buntes Osterei zu verkrümeln; der Brauch mag vielleicht noch aus uraltheidnischen Zeiten herstammen, aber einem Russen ist er heilig, und mit Recht hält er an ihm fest; denn in die eigene Freude der Gegenwart muß sich ein Ausdruck der Ehrfurcht und des Andenkens an das dahingeschiedene Geschlecht mischen. Das ist wahrlich ein würdiger Abschluß des russischen Osterfestes. H. K.