Das Mirakel des Heiligen Januarius in Neapel
Neapel ist dermalen der einzige Fleck auf der ganzen Erde, wo die unmittelbare Offenbarung des Herrn, wie sie uns die kirchlichen Bücher erzählen, noch fortdauert, der einzige Ort, wo das Christenthum noch besiegelt wird durch ein Zeichen von oben, die einzige Gelegenheit, wo der Unglaube und die Ketzerei durch ein argumentum ad oculos zurückgeworfen werden in die Tiefe ihres Nichts, und wo das römische Bekenntniß durch das wallende Blut eines seiner muthigsten Bekenner einen ewigen Triumph feiert [524] über alle entgegenstehenden Ansichten. In der That ein Platz und eine Gelegenheit, würdig sie aufzusuchen und neben den vielen Wundern, die Natur, Kunst und Vergangenheit uns hier bieten, dieses eine nicht zu vergessen, es zu schauen und sich in den Staub niederzuwerfen und sein Haupt in Demuth zu beugen vor dem Krummstab und seiner Unfehlbarkeit, oder aber – es zu belächeln und es einzureihen in die Kategorie jener Gebräuche, wie sie zum Gedeihen der geistlichen und weltlichen Herrscher zu allen Zeiten und unter allen Zonen gepflegt und geübt wurden.
In der Nähe der reizenden Stadt Neapel, an dem blauen Wasser der classischen Bucht von Bajä, liegt die malerische Stadt Puzzuoli. Hier war Sanct Januarius – der San Gennaro der Neapolitaner – in der Mitte des dritten Jahrhunderts geboren, hier wirkte er als Bischof der neuentstandenen christlichen Gemeinde, und hier war es, wo er unter Dracontius, dem römischen Proconsul für Campanien, im Jahre 305 den Martertod in der noch heute vortrefflich erhaltenen Arena erdulden sollte. Allein zahm wie die Lämmer, so erzählt uns die Legende, legten sich die Bestien, denen er zum Fraße bestimmt war, zu seinen Füßen nieder und küßten die gesalbten, heiligen Hände. Aber seine Richter waren wilder als die wilden Thiere. Ihnen genügten nicht die Zeichen des Himmels, womit er seinen Priester verherrlichte, und in der Verstocktheit ihres Herzens gaben sie den Befehl, mit dem Schwerte zu tödten, was der Blutgier der Bestien siegreich widerstanden hatte.
Januarius wurde zu Puzzuoli beerdigt. Bei seiner Hinrichtung hatte sich eine fromme Anhängerin seines Glaubens von dem auf die Erde niederrinnenden kostbaren Blute zu verschaffen gewußt. Sie füllte es in zwei kleine Phiolen, und als wenige Jahre darauf, nach dem Siege des Christenthums durch Constantin, der Leichnam des Märtyrers durch den damaligen Bischof von Neapel im Triumphe nach der Hauptstadt gebracht und dort beigesetzt wurde, präsentirte sich auch jene fromme Christin vor dem Bischof St. Severus und überreichte ihm die kostbare Reliquie, die sie bisher als theures Kleinod verborgen gehalten hatte. Aber siehe da! in der Hand des Bischofs wurde das bisher starre, geronnene Blut wieder flüssig. Es schäumte und gährte, als ob es eben erst dem heiligen Körper entquollen sei, und ein zweites Wunder war geschehen zu Ehren der Kirche und ihres muthigen Bekenners.
Von dieser Zeit an war der Leichnam des heiligen Januarius noch verschiedenen Wechselfällen unterworfen. Einige Fürsten hatten ihn, wie das sehr häufig zu geschehen pflegte, verschiedener Zwecke halber dahin und dorthin bringen lassen, bis er denn schließlich im Jahre 1497 für immer nach Neapel gebracht und dort unter dem Hochaltar des zu seiner Ehre erbauten Domes zum letzten Male beigesetzt wurde. Die beiden Fläschchen mit dem Blute waren dem Körper gefolgt. Es scheint, als ob sich im Verlauf vieler Jahrhunderte das Wunder nicht wiederholt, da Niemand seiner erwähnt bis zum elften Jahrhundert. Auch von dort an bis 300 Jahre später sind die Nachrichten darüber sehr unbestimmt. Erst mit der Zurückbringung der Reliquien nach Neapel beginnt die regelmäßige Ausstellung des Blutes und die daran sich knüpfende Flüssigwerdung und hat ununterbrochen bis auf unsere Tage fortgedauert.
Zweimal nur des Jahres ist es den Gläubigen vergönnt, das Mirakel zu sehen, einmal am ersten Sonnabend im Mai und dann am 19. September. Es wiederholt sich von da an jedesmal während acht Tagen. Besonders feierlich ist der erste Tag. Unter dem Geläute der Glocken, den Tönen der Musik und dem Jubeln der frohen Menge bewegt sich eine stattliche Procession von dem Dome aus mit dem Blute des Heiligen nach der Kirche der heiligen Clara. Das heilige Gefäß ruht auf einer kostbaren von vier Priestern getragenen Bahre, welcher unmittelbar der hohe Clerus folgt, der Erzbischof an der Spitze. Voraus schreiten, brennende Kerzen in der Hand, sämmtliche Ordensgeistliche Neapels und der Umgegend, Tausende an der Zahl, und zwischen ihnen, getragen von rüstigen Männern, 45 massiv-silberne Brustbilder der verschiedenen Kirchenpatrone der an Kirchen und Klöstern so reichen Stadt. In Santa Chiara angelangt, wartet ihrer Alles zum würdigen Empfange. Die weiten Hallen sind bunt mit Blumen, Teppichen und Lichtern geschmückt. Auf einer Estrade zur Seite des Hochaltars steht ein starkes Musik- und Sängerchor, der Altar selbst blitzt und funkelt in Hunderten von Kerzen, die ihre Strahlen in Gold und Silber wiederspielen, und vor seinen Stufen steht die Pfarrgeistlichkeit mit Wasser und Weihrauch und bringt jedem der herangetragenen Heiligen unter einem kurzen Gebete ihre Verehrung dar. Diese wenden sich nun nach einem Seitenschiffe und machen so einer dem andern Raum, bis am Ende die Madonna und gleich nach ihr das Blut des Märtyrers folgt. Alles das trüge eine gewisse Würde in sich, wenn unser Auge und Ohr nicht beleidigt würde durch den Anblick, der sich uns auf der linken Seite des Hochaltars darbietet. Dort nämlich sehen wir auf einer niedrigen Estrade eine Zahl von ungefähr 30 Weibern versammelt. Es sind alle ohne Ausnahme Weiber aus dem Volke, in den Jahren stehend, wo die bei der weiblichen Jugend Neapels ohnehin so seltene Schönheit und Grazie sich in ihr directes Gegentheil verwandelt hat, und durch die man lebhaft wieder an jene eklen Kampfscenen erinnert wird, die man unter ihres Gleichen tagtäglich an der Santa Lucia oder der Mirgillina erleben kann. Auch hierhin an den Altar haben sie die wohl nur dem eingeborenen Neapolitaner erträglichen Manieren, ihren Gefühlen Luft zu machen, mitgebracht, und so erhebt sich denn jedesmal, so oft eins der Heiligenbilder herannaht, ein Zetergeschrei von jener Estrade aus, das die Fenster klirren und die Ohren erbeben macht. Anfangs mag es unmöglich sein, den Sinn und Inhalt der im kreischendsten Discant ausgestoßenen Töne aufzufassen oder auch nur zu vermuthen. Nach und nach gewöhnt das Gehörorgan sich daran und entziffert aus dem widrigen Chaos die bekannten Schlußworte der katholischen Psalmen: Sancte N. N., ora pro nobis. Gloria patri et filio etc. etc. Bei jedem Heiligen scheint das Geschrei sich zu vermehren, die religiöse Gluth stärker und das Bedürfniß nach der Reliquie sehnsüchtiger zu werden, denn sie haben ein Recht darauf, diese Frauen: es sind die Nachkommen der Familie des heiligen Januarius.
Es erscheint das Bildniß der Madonna, ihre Wuth verdoppelt sich; es kommt die Bahre mit dem silbernen Schrein, und sie übersteigt alle Grenzen. Bald jedoch tritt eine wohlthätige Pause ein, während deren der Erzbischof mit der Geistlichkeit am Fuße des Altars mehrere Gebete absingt. Mittlerweile ist das in der Kirche massenhaft versammelte und durch die Soldaten zurückgehaltene Volk mit Energie bis in das Chor vorgedrungen. Die Honoratioren der Stadt und die Fremden, welche letztere besonders man mit großer Liberaliiät bis zur Communionbank hat passiren lassen, werden durch die sich anwälzende Menge bis über die Ballustrade dicht zum Altar hingedrängt und stehen Fuß an Fuß hinter den ministrirenden Geistlichen und dem betenden Erzbischofe. Dieser endlich ergreift das heilige Gefäß, steigt die Stufen hinauf [525] in die Mitte des Altars und erwartet dort den Augenblick des Mirakels. Während dessen ist die ganze Menschenmenge bis oben hin nachgefolgt. Hundert Köpfe beugen sich über die Phiolen und recken sich in die Höhe, um keinen Augenblick des Schauens zu verlieren. Die Weiber beginnen toller zu kreischen als je. Immer vielstimmiger, immer lauter, immer heftiger werden ihre Bitten an den Heiligen, das Wunder zu wirken. Heftige Drohungen und Schmähreden, die sie gegen sein an der linken Seite des Altars aufgestelltes von Gold und Edelsteinen gefertigtes Bild schleudern, wechseln ab mit allen möglichen Ausbrüchen ihres wunderbedürftigen Herzens. Stumm und schweigend erwartet die übrige Volksmenge den heiligen Augenblick, die Einen auf den Knieen liegend in inbrünstigem Gebete, die Andern sich weiterdrängend nach dem Innern des Chors. Die Priester murmeln Gebete. Immer schwüler wird die Atmosphäre, immer mächtiger die innere Aufregung, immer wilder das Geschrei der Weiber – da endlich ertönt das Zeichen mit der Glocke. Das Mirakel ist geschehen. Alles stürzt nieder in den Staub. Ein unwillkürlicher Seufzer entringt sich jeder Brust. Das Musikchor setzt mit den kräftigsten Tönen ein, die Sänger singen im gewaltigsten Fortissimo eine rauschende Gloria, die Glocken der Kathedrale hallen feierlich in die Runde, ihnen antworten die metallnen Zungen der ganzen Stadt in tausendstimmigem Chor, und von St. Elmo herab verkünden die dröhnenden Geschütze weit über Land und Meer, daß Neapel wieder Gnade gefunden hat vor Gott und vor seinem Schutzheiligen. Da drinnen aber in der Kirche drängt sich Alles mit erneutem Eifer um den Altar. Das heilige Blut macht die Runde, um den Kuß eines jeden Anwesenden zu empfangen und, auf Stirn und Herz gedrückt, Dir Glück und Segen wiederzugeben.
So sah und erlebte auch ich das große Wunder, und so sah und erlebte ich es zum zweiten, dritten und vierten Male. Auch meine Lippen berührten das heilige Gefäß, worin das Blut, das ich vorher ganz deutlich starr gesehen, unter den Bewegungen der Hand des tragenden Priesters sich ebenso deutlich hin und herbewegte, und auch meiner Stirn wurde die Gnade zu Theil, den unmittelbaren Segen des Heiligthums zu empfangen. Aber ich weiß nicht, wie mir geschah. Diesem Segen folgte der Zweifel und die Kritik.
Es war mir natürlich nicht unbekannt geblieben, daß man den ganzen Vorgang von der einen Seite ebenso erhob, wie von der andern verwarf. In ersterer Beziehung hatte mich die Vertheidigung, welche der gegenwärtige k. k. Reichshistoriograph Hurter (Geburt und Wiedergeburt, Schaffhausen bei Hurter) dem Mirakel angedeihen läßt, besonders interessirt. Obschon ich seine Beschreibung nicht zur Hand hatte, waren mir doch alle wichtigern Daten genau im Gedächtnisse zurückgeblieben. In Neapel selbst kam mir eine lange Abhandlung „Teorica dei miracoli ed discorso apologetico sul miracolo di S. Gennaro“ des gelehrten Nicola Fergola († 1824) zu Gesicht. Ich verglich das Erinnerliche Hurter’s und das vor mir Liegende Fergola’s mit dem, was ich selbst gesehen und selbst geprüft, und kam zu einem ganz andern Resultate als sie Beide.
Worin besteht das Wunderbare und Uebernatürliche in unserem Falle? Es besteht darin, daß Etwas geschieht, was für den ersten Augenblick überrascht, daß dies geschieht ohne unmittelbares Zuthun einer menschlichen Hand, und daß es geschieht unter dem beglaubigenden Einfluß einer mystischen, ehrwürdigen Tradition. Aber keines dieser drei Kriterien ist im Stande, Stich zu halten. Was uns da überraschen soll, ist nicht gewaltiger und außergewöhnlicher in seiner Erscheinung, als das erste beste Kunststück, das uns ein „Professor der natürlichen Magie“ auf irgend einem Jahrmarkte producirt, – was die menschliche Hand und ihre Fingerfertigkeit nicht leistet dabei, das thun hier nach unserer Ansicht die menschliche Körperwärme und deren langsames Durchdringen in das Innere des Gefäßes, und was die Tradition angeht, so wissen wir recht wohl, daß unser Wunder sich gerade aus jener Zeit datirt, wo der „fromme Betrug“ seine Blütheperiode erlebte. Sehen wir genauer zu, wieweit ich Recht habe, so zu blasphemiren.
Jedem nur einigermaßen mit der Chemie Vertrauten ist es wohl bekannt, daß verschiedene Stoffe sich zu einem bestimmten Wärmegrade ganz verschieden verhalten. Die einen erhärten sich zu einer starren Masse bei einer Temperatur von + 10 oder 20 Grad R., während die andern an – 30 nöthig haben, die einen sieden bei + 35 bis 40, während die andern an + 150 gebrauchen. Es wäre unnöthig, all die Stoffe, welche hier zur Erklärung unseres Falles dienen könnten, aufzuzählen und an jedem einzelnen nachzuweisen, daß er die Bedingungen zur Erfüllung jenes Mirakels in sich trägt. Es genügt, das an einem einzigen zu thun: Nehmen wir 10 Theile gewöhnlichen Hammelstalg, zerkleinern sie, bringen sie in ein wohlschließendes Gefäß, gießen 12 Theile Schwefeläther darüber und färben das Ganze mit irgend einem Stoffe blutroth, so erhalten wir dadurch eine Mischung, die in kurzer Zeit bei der mittleren Lufttemperatur Italiens (+ 12° R.) hart und starr wird, aber bei der Temperatur des menschlichen Körpers (+ 28° R.) und sogar noch darunter, sich vollständig verflüssigt. Diese Verflüssigung geht um so rascher vor sich, je mehr die Mischung hin und her bewegt wird, sie hört um so rascher auf, je mehr man das Gefäß in eine ruhige Lage bringt. Beinahe genau dieselben Bedingungen fand ich in der Kirche der heiligen Clara in Neapel. Die Temperatur der Straßen am Abend des 5. Mai betrug 13°, die des Schiffs der Kirche 16° und die der Stelle, wo das Gefäß mit dem Blute in der Hand des Erzbischofs sich befand, konnte in Folge des Zusammendrängens der vielen Menschen auf einen kleinsten Raum und der Hunderte der umher brennenden Lichter nicht weniger als 28° betragen. Natürlich konnte ich die Wärme dieses Raumes nicht mit meinem Taschenthermometer messen, da ich einestheils nicht nahe genug dabei stand, und ich es anderntheils auch nicht gewagt hätte, dort als Zweifler aufzutreten, – aber daß es so sein mußte, war mir nach Vergleich mit analogen Zuständen außer allem Zweifel, und dann fand ich in Fergola’s Buche selbst eine Tabelle, wonach am 19. September 1794 die Temperatur drei Fuß entfernt von dem heiligen Gefäße auf 80° Fahrenheit (ungefähr 22° R.) angegeben ist.
Bedenken wir nun, daß das sogen. Blut bis zum Beginn des Festes in dem Wandschranke einer Marmorkirche eingeschlossen war, daß es von dort in ruhigster Bewegung durch die kühle Frühlings- und Herbstluft der schattigen Straßen Neapels getragen wird, daß es nach und nach unter beständigem Schütteln und Umdrehen einer erhöhten Temperatur ausgesetzt wird, so verschwindet der ganze Nimbus des Außerordentlichen und Wunderbaren vor den Thatsachen der Chemie und Physik, die uns schon lange wissen ließen, daß, um solche Wunder zu verrichten, keine übernatürlichen Einflüsse mehr nöthig sind.
Man hat sich nun verschiedentlich auf die Fergolesischen Tabellen aus dem Jahre 1794 berufen, die uns mit Zahlen darthun sollen, daß der ganze Proceß der Verflüssigung mit dem Einfluß der Wärme durchaus nichts zu thun habe, sondern ganz unabhängig davon vor sich gehe. Diese Tabellen geben freilich an, daß bei ein und derselben Temperatur der Proceß sich bald rascher, bald langsamer entwickelt habe, ja daß sogar zuweilen trotz der geringeren Temperatur die Verflüssigung doch eher vor sich ging. Wir haben dagegen zu bemerken, daß 1) diese Beobachtungen sich aus dem Jahre 1794 datiren, wo bekanntlich die Methode sowohl, wie Instrumente für solche Zwecke unendlich viel zu wünschen übrig ließen, daß 2) Fergola uns durchaus nicht die wissenschaftliche Autorität anführt, welche jene Messungen gemacht und der wir darin unbedingt zu vertrauen hätten, und 3) daß alle anderen Umstände zu sehr übereinstimmen, um nicht gerade in diesem Punkte eine wissentliche oder unwissentliche Täuschung Seitens jenes Beobachters annehmen zu müssen. Wo soviel Menschen und soviel Lichter in solcher Weise zusammen kommen, wie um die heilige Phiole, dort entsteht eine Wärme von mindestens + 25°, und das genügt, um auch unsere Wundermasse zu verflüssigen. Schwankungen in der Zeit – angenommen, daß sie wirklich existiren – können dabei nicht in Betracht kommen. Auch sie würden wir wohl erklären können, wäre es uns einmal vergönnt, nach Herzenslust mit dem Object selbst zu experimentiren. Ein englischer Naturforscher, so erzählt Hurter, bat sich einen Tropfen des Blutes aus, um sich chemisch und mikroskopisch davon zu überzeugen, daß es wirklich Blut sei. Natürlich, meint Hurter, wies man ihn entrüstet zurück. Das ist freilich die einfachste Manier, um sich die wissenschaftliche Untersuchung vom Leibe zu halten.
Ich habe nur noch Weniges hinzuzufügen über die religiöse und politische Bedeutung des Mirakels. Die ganze Welt weiß, was sie von der bisherigen neapolitanischen Staats- und Kirchenwirthschaft zu halten hat. Das Wunder des heiligen Januarius ist mit ihr auf’s Engste verwachsen. Mir selbst kam es sehr bald etwas paradox vor, daß der liebe Gott gerade in diesem Lande, [526] in diesem Staat, unter dieser Regierung so freigebig mit seinen Gnaden sei. Ich begriff recht wohl, daß man von Wundern erzählt in einer Zeit, wo es galt, die Ungläubigen zu bekehren oder die Frommen im Glauben zu stärken. Aber beide Zwecke haben ja in Neapel keine Bedeutung. Für die Bekehrung braucht man nicht mehr zu sorgen, denn das ganze Land ist ja streng katholisch, und den andern ebengenannten Zweck zu erfüllen, das wären „Perlen vor die Säue“, denn selbst der echte und gebildete Katholik ist scandalisirt vor dem, was man hier als Christenthum und Frömmigkeit ausgibt. Ich habe hier viele gläubige Katholiken gesprochen, die sich mit Trauer im Herzen von diesem Kunststückchen abwandten. Ein todter Formenkram, dessen Beschützer und Bekenner ebenso roh sind, wie seine Expectorationen, – das ist es, was man in Neapel Katholicismus nennt. Aber nein, uns däucht der Zweck des Wunders, der alte, traditionelle Zweck dieses frommen Betrugs, ein anderer. Wenn irgend ein Volk es nöthig hat, im Zaume gehalten zu werden, so ist es das der reizenden Stadt Neapel. Das geht nicht mit der Gewalt der Waffen, drum muß es mit der Gewalt des Wunders gehen. An eine Regierung, die jedes Jahr zweimal dem Mirakel persönlich ihre Huldigung darzubringen geht, in deren Gegenwart das Blut nur stärker und mächtiger zu wallen scheint, der also der Finger Gottes jedes Jahr seine unmittelbare Approbation ertheilt, – an eine solche Regierung muß das Volk glauben, an ihr muß es halten, und was sie thut, das ist wohlgethan. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, was man sich aus dem Jahre 1799 erzählt. Der General der Republik, Championnet, hatte Neapel am 23. Januar nach dreitägigen Kampfe genommen und seine Dynastie verjagt. Es kam der Tag des Mirakels, aber siehe da, in diesem Jahre leuchtete die Gnade des Heiligen nicht über der von den gottlosen Sansculotten besetzt gehaltenen Stadt. Allenthalben gewaltige Aufregung und Gährung. Das Volk nahm eine den Franzosen feindliche Haltung an. Da schickte Championnet in die Kirche St. Chiara und ließ den dort anwesenden Priestern bedeuten, daß Kerker und Kanonen in Bereitschaft wären, wenn man so fortfahre. Da jedoch der neapolitanische Clerus solche Dinge immer besser zu verhängen, als zu erdulden verstand, so ging das Wunder noch selbigen Tages ruhig vor sich. So erzählt man sich in Neapel in gebildeten Kreisen. Ich habe keinen historischen Beleg dafür.
Es versteht sich nach dem oben Gesagten von selbst, daß die Bourbonen in Neapel außerordentlich viel auf Anerkennung der Richtigkeit des Wunders hielten. Noch im Jahre 1859 wurde ein junger Mann in die geheimen Gefängnisse der neapolitanischen Polizei geworfen, weil er denuucirt worden war, darüber Ungeziemendes geredet zu haben. Es würde uns das in Erstaunen setzen, wüßten wir nicht durch die Geschichte, daß die Despoten aller Zeiten sich solcher religiösen Mittel bedienten, um die Völker zu bändigen und an die süße Gewohnheit des blinden Gehorsams anzuketten. Wie weit der Clerus Neapels dabei seine Hand im Spiele hat, wissen wir nicht. Es scheint, als ob ein großer Theil an die volle Echtheit des Mirakels ebenso felsenfest glaube, wie unser gelehrter Landsmann Hurter in Wien, ja wir können sogar, wenn wir gutmüthig sein wollen, annehmen, daß sie Alle miteinander in einer unwissentlichen Täuschung befangen sind und daß nur der Eine und Erste, welcher in seiner alchemistischen Weisheit das Wunder construirte, von dem „frommen Betruge“ überzeugt war. Das lassen wir nun dahingestellt sein. Für uns genügt die Ueberzeugung von dem, was wir gesehen und beurtheilt haben, und auch der fromme Katholik mag sich trösten und über unsere Gottlosigkeit sich nicht entsetzen. Nach den Satzungen des Concils von Trient brauchen Wunder, die nicht ausdrücklich von der Kirche als solche declarirt worden sind, nur insoweit geglaubt zu werden, als es dem frommen Herzen jedes Einzelnen und seinen gesunden fünf Sinnen entsprechen sollte. Das Mirakel von Neapel gehört aber nicht zu den officiell und feierlich von Rom anerkannten.