Textdaten
Autor: Friedrich Bodenstedt
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Titel: Das Mädchen von Liebenstein
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18,19, S. 273–276, 289–292
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[273]
Das Mädchen von Liebenstein.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Friedrich Bodenstedt.


1.

Vor einigen Jahren gebrauchte die Stahlbäder von Liebenstein in Thüringen ein junger russischer Fürst von sehr einnehmendem Aeußern, liebenswürdigem Charakter und feiner Bildung. Er führte ein sehr zurückgezogenes Leben und befolgte die Vorschriften des Arztes auf das Gewissenhafteste, stand früh auf, nahm regelmäßig seine Bäder, mied alle größeren Gesellschaften, brachte den größten Theil des Tages in Berg und Wald zu und legte sich frühe schlafen. Er war schon Mitte Mai nach Liebenstein gekommen, um den Frühling in seiner ganzen Herrlichkeit zu genießen, und wurde dabei vom Wetter außerordentlich begünstigt. Eines Tages, als er, in Gedanken an seine ferne Heimath verloren, langsam durch den Wald schleuderte, der über den Feodorenplatz und das Felsentheater zu der alten, den Waldberg krönenden Ruine führt, welche dem Bade seinen Namen gegeben hat, hörte er plötzlich hastige Schritte hinter sich, unterbrochen durch eine sehr wohltönende Stimme, welche rief: „Gnädiger Herr, gnädiger Herr!“

Sich umdrehend, sah er ein hochgewachsenes, maienfrisches Mädchen auf sich zu kommen, das in der linken Hand einen großen Strauß Maiblumen trug und in der rechten Hand ein Taschentuch, welches sie ihm entgegenhielt mit den Worten: „Haben Sie nicht dies Taschentuch verloren, gnädiger Herr?“

Mechanisch nahm er das Taschentuch wieder zu sich und vergaß selbst der Ueberbringerin für ihre Mühe zu danken, so ganz verloren war er in dem Anblick der jungfräulichen Gestalt vor ihm. Die Maiglöckchen in ihrer Linken sahen aus, als ob sie zu ihr gehörten, als ob sie ihr aus der Hand gewachsen wären, so frisch und fühlingsartig war ihre ganze Erscheinung. Sie trug nach thüringischer Sitte ein turbanartig um den Kopf geschlungenes buntes Tuch, welches ihr üppiges dunkles Haar fast ganz verhüllte, die reine hohe Stirn aber frei ließ. Der hohe Hals war ebenfalls mit einem bunten Tuche umwunden, dessen Enden sich vorne in dem viereckigen Mieder verloren. Der kurze Rock ließ die hohe Gestalt etwas weniger groß erscheinen, als sie wirklich war, und zeigte dafür ein Paar nicht gerade ganz kleine, aber schlanke, hochspannige, wohlgeformte Füße.

Dem Russen kam das junge Mädchen, trotz seiner bäuerlich einfachen Tracht, fast wie eine überirdische Erscheinung vor. Er hatte kaum den Muth, sie anzureden, und faßte sich erst ein Herz, als sie, ohne seinen Dank abzuwarten, mit der größten Unbefangenheit, leichten Schrittes, weiter ging.

„Sie müssen mich für recht unartig halten,“ sagte er, sie rasch einholend, „daß ich Ihnen noch nicht einmal für Ihre Mühe gedankt habe, aber …“

„Was ist da zu danken?“ unterbrach sie ihn lächelnd; „ein verlorenes Taschentuch aufheben, ist keine Mühe.“

„Darf ich fragen, für wen Sie die Maiblumen gepflückt haben?“ sagte er bescheiden.

„Nur für’s Haus,“ antwortete sie freundlich; „es ist morgen Sonntag, und da sorge ich immer dafür, daß Blumen im Zimmer sind.“

Sie hatten in diesem Augenblick den Saum des Waldes erreicht, und es war, als ob ein gewisses Zartgefühl den Russen abhielt, das junge Mädchen in’s Freie zu begleiten. Auch war er unter dem Zauber ihrer Erscheinung in einer Befangenheit, deren er sich vergeblich zu erwehren suchte. Doch konnte er den Gedanken nicht ertragen, sich auf längere Zeit von ihr trennen zu müssen.

„Ihre Eltern leben noch?“ fragte er sie in treuherzigem Tone.

„Ja freilich!“ antwortete sie.

„Und würden es Ihre Eltern nicht mißdeuten, wenn ich Ihnen morgen einen Besuch machte?“

„Ei gewiß nicht! Warum sollten sie das mißdeuten? Sie werden uns morgen zu jeder Zeit willkommen sein; nur dürfen Sie nicht während der Kirche kommen, sonst würden Sie Niemanden zu Hause treffen.“

„Wann ist die Kirche?“

„Morgens von halb zehn bis elf Uhr und Nachmittags von zwei bis drei Uhr.“

„Und wo ist Ihr Haus?“

„Wenn Sie mit mir gehen wollen, will ich es Ihnen gleich zeigen.“

Er begleitete sie bis zu ihrem nicht fern gelegenen Häuschen und nahm dort mit einem herzlichen Händedruck, den sie ebenso herzlich erwiderte, von ihr Abschied, mit der Bitte, ihn für morgen bei ihren Eltern anzumelden.




2.

So lange hatte dem jungen Fürsten die Zeit nie gedauert, wie an diesem Sonnabend-Nachmittage, der seinem Sonntagsbesuche vorherging. Er ließ bei Tisch fast Alles unberührt passiren und besuchte gleich nach Tische die Stelle im Walde, [274] wo ihm das schöne Mädchen von Liebenstein begegnet war. Wenigstens fünf Mal kam er im Laufe des Nachmittags nach dieser Stelle zurück, warf sich auf den Rasen nieder und ließ das Bild des Mädchens mit solchem Entzücken an seinem geistigen Auge vorüberziehen, als ob er früher nie etwas so Schönes und Anmuthiges gesehen hätte. Am Sonntag-Morgen ließ ihn seine Ungeduld nicht so lange warten, bis die Kirche vorüber war; er ging selbst in die Kirche und war, trotz der ihm völlig fremdartigen Formen des Gottesdienstes, so andächtig, wie er lange nicht gewesen. Er hatte sich wohlbedächtig einen Platz ausgesucht, wo er seine schöne Waldnymphe bequem sehen konnte, allein er wagte kaum die Augen zu ihr aufzuschlagen, um nicht die Aufmerksamkeit der Andern zu erregen. Auch nach der Kirche hielt er sich in angemessener Ferne von ihr, um ihr möglichst unbemerkt in ihr Haus zu folgen. Der Weg führte sie am Curhause vorüber und hier wurde er durch eine Begegnung aufgehalten, die ihm unter anderen Umständen höchst willkommen gewesen sein würde, in diesem Augenblicke aber sehr störend war. Eine wohlbekannte Stimme scholl ihm in’s Ohr, seinen Namen rufend, und unter den mächtigen Kastanienbäumen vor dem Curhause her sah er seinen Onkel Dimitry auf sich zu kommen, der ihm entgegen rief: „Gottlob, lieber Junge, daß ich Dich endlich finde! Schon über eine Stunde bin ich in diesem langweiligen Neste umhergelaufen, um Dich zu suchen; ich komme direct von Rußland an und bringe Grüße und Briefe für Dich mit; thue mir jetzt den Gefallen und lasse uns ein bischen zusammen frühstücken, die lange Fahrt hat mich hungrig gemacht; beim Essen können wir gemüthlich miteinander plaudern.“

Dabei küßte er ihn nach russischer Sitte auf Stirn, Mund und Wange, war aber nicht wenig erstaunt, daß seine Zärtlichkeit nur geduldet, nicht erwidert wurde und daß überhaupt die Überraschung, die er seinem Neffen durch seinen Besuch bereitete, diesen mehr verlegen als freudig zu stimmen schien.

Der junge Fürst, den wir fortan Alexander nennen wollen, konnte trotz inneren Widerstrebens nicht gut umhin, seinem Onkel in das Curhaus zu folgen und sich von ihm erzählen zu lassen, was er Neues aus der Heimath zu berichten hatte. Nach einiger Zeit sagte der scharfblickende Onkel zu ihm: „Lieber Junge, Dir geht etwas ganz Anderes durch den Kopf, als das, wovon wir sprechen; sage mir aufrichtig, was Du hast, ich will Dich in keiner Weise geniren.“

„Ich war, als ich Dir begegnete, lieber Onkel, eben im Begriff, einen gestern angemeldeten Besuch abzustatten,“ stammelte Alexander in sichtbarer Verwirrung.

„Nun, dazu wird ja nach dem Frühstück wohl noch Zeit sein,“ warf Dimitry ein, „zum Besuchemachen ist es ohnehin noch etwas früh.“

Es entging dem Onkel nicht, daß trotz seiner beschwichtigenden Worte der Neffe immer noch wie auf Kohlen saß und mit seinen Gedanken ganz wo anders weilte, als beim Frühstück. Dem welterfahrenen Manne wurde es nicht schwer, herauszubringen, daß bei dem beabsichtigten Besuche seines Neffen das Herz stark im Spiele war.

„Sind schon viele Badegäste in Liebenstein?“ fragte er scheinbar gleichgültig.

„Nein, noch sehr wenige.“

„Hübsche Damen darunter?“

„Nein, gar keine.“

„Hast Du Dich mit den hier ansässigen Familien bekannt gemacht?“

„Nein.“

„Nun, was zum Teufel setzt denn Dein Herz so in Flammen?“ fragte Dimitry, einigermaßen ungeduldig werdend, „denn daß Du verliebt bist, steht Dir auf dem Gesichte geschrieben. Hast Du vielleicht mit einem hübschen Bauernmädchen ein kleines Verhältniß angefangen?“

„Aber, lieber Onkel …“ entgegnete Alexander unmuthig.

„Nun, was wäre denn das für ein Unglück? Etwas muß der Mensch doch haben, um sich in einem so langweiligen Neste die Zeit zu vertreiben.“

„Ich begreife nicht, was Dir hier so langweilig erscheint,“ erwiderte Alexander in der Absicht, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben; „ich habe von Liebenstein immer als von einem der reizendsten Badeplätze Thüringens sprechen hören und habe Alles noch weit schöner gefunden, als ich erwartete. Diese reine, gesunde Luft, diese Baumgruppen, dieses frische, üppige Grün, diese waldreichen, anmuthig geschwungenen Berge und Höhen ringsumher, diese mannigfaltigen Abstufungen und Fernsichten –“

„Nun höre auf mit Deiner Naturschwärmerei,“ rief Dimitry, „ich habe die schönsten Gegenden der Welt besucht und mich darin gelangweilt, wenn ich nicht Menschen fand, die mir zusagten; und wo ich solche Menschen fand, da konnte ich alle Berge, Wälder, Hügel und Fernsichten entbehren. Ich brauche Aufregungen, Zerstreuung, Gesellschaft, Spiel – das giebt’s hier nicht und darum ist’s hier langweilig. Doch,“ fuhr er einlenkend fort, „Du wirst schon wissen, warum es Dir hier gefällt, und ich will Dich in Deinem Vergnügen durchaus nicht stören. Mein Aufenthalt hier sollte ohnedies nur von sehr kurzer Dauer sein und ich fühle gar keine Lust, ihn länger auszudehnen. Thue mir jetzt den Gefallen, Deinen Besuch zu machen; ich schreibe inzwischen einen Brief, dann kannst Du mich ein wenig umherführen und mit den Herrlichkeiten von Liebenstein bekannt machen, und beim Diner werden wir das Weitere besprechen. Es ist jetzt zwölf Uhr, ich denke, wir bestellen unser Diner gegen vier Uhr, da wird sich für Alles Zeit finden.“

Alexander war froh, endlich loszukommen, er machte sich sogleich auf den Weg, hatte aber Mühe, das Häuschen wieder zu finden, wo er seinen Besuch abstatten wollte, denn es standen mehrere kleine Häuser nebeneinander, die sich sammt den umgebenden Gärtchen auf’s Haar ähnlich sahen. Während er noch so umherspähte, ohne Jemandem auf der Straße zu begegnen, den er hätte fragen können, bemerkte er durch ein offenstehendes Fenster den nicht zu verkennenden Kopf des schönen Mädchens von Liebenstein, dessen Namen er bis dahin nicht einmal kannte. Ungesehen trat er durch das offene Gärtchen näher hinzu und sah, wie sie mit ihren Eltern bei Tische saß, eben im Begriff, das Tischgebet zu sprechen. Der Vater hatte sein Käppchen abgenommen, und alle Drei schauten mit gefalteten Händen andächtig vor sich hin, während die Suppe auf dem Tische dampfte.

Alexander, gerührt von dem erbaulichen Anblicke, wollte sich schon wieder zurückziehen, da es ihm unpassend schien, den guten Leuten gerade bei Tisch in’s Haus zu fallen, allein in diesem Augenblicke bemerkte ihn die Tochter des Hauses, ging auf das Fenster zu und bat ihn, hereinzutreten. Dieser Einladung vermochte er nicht zu widerstehen.

Die beiden Alten empfingen ihn mit einer ungezwungenen Höflichkeit, die ihn überaus wohlthuend berührte. Sie ließen sich beim Essen gar nicht stören, sondern baten ihn, bei ihnen Platz, zu nehmen.

„Marie, bring’ doch einen Stuhl herbei und einen Teller für den Herrn,“ sagte die Mutter, eine wohlerhaltene, noch sehr hübsche Frau von etwa vierzig Jahren, und trotz ihrer großen, auffallend klugen Augen von sehr gutmüthigem Ausdruck.

Marie hätte der Weisung der Mutter nicht bedurft, um Teller und Stuhl für den jungen Fürsten herbei zu tragen, der sich plötzlich als Gast an diesem Tische sah, ohne selbst recht zu wissen, wie er dazu gekommen war; nur Eines fühlte er deutlich, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, der Einladung nicht zu folgen. Obgleich er noch nie unter so bescheidenen Verhältnissen gespeist hatte, fühlte er sich doch gleich ganz wie zu Hause und aß die Suppe, sowie die großen thüringischen Knödel (oder „Hütes“ wie man sie im Volksmunde nennt), welche das Mittagsmahl bildeten, mit einer Behaglichkeit, als ob er nie bessere Sonntagsspeise gekostet hätte. Nach Tisch wurde wieder ein kurzes Gebet gesprochen, und Marie sagte zum Fürsten:

„Wenn es Ihnen recht ist, gnädiger Herr, so wollen wir ein Bischen in den Garten gehen; mein Vater pflegt nach Tisch im Armstuhl hinter dein Kachelofen ein kleines Schlummerstündchen zu halten und ich möchte ihn darin nicht stören.“

Dem guten Alexander war in Mariens Gegenwart Alles recht; er folgte ihr in den Garten und fand ein ganz besonderes Sonntagsvergnügen darin, mit ihr, die etwas Brod mitgenommen hatte, über den Zaun weg die Hühner zu füttern, wobei er lächelnd bald sich, bald Marie, bald die Hühner ansah, gleichsam als wollte er sich überzeugen, daß er nicht träume, sondern wache. Darauf mußte er Marie in den Stall folgen, wo sie ihm, nicht ohne Stolz, zwei wohlgenährte Kühe und vier Ziegen als Viehbesitzthum des väterlichen Hauses zeigte. Auch für diese Thiere hatte sie etwas zu schnuppern mitgebracht, sie streckten ihr gleich [275] beim Eintritt verlangend die Schnauzen entgegen; man sah es ihnen an, daß sie gewohnt waren, bei solchen Besuchen von ihr freundlich bedacht zu werden.

Vom Stalle aus ging es wieder in den Garten, Marie holte im Vorbeigehen einen blauen Strickstrumpf aus dem Hause und sagte: „Wir trinken gewöhnlich erst um vier Uhr Kaffee; die Mutter meint, ob es Ihnen nicht angenehmer wäre gleich jetzt eine Tasse zu trinken, wie die großen Herren nach Tische zu thun pflegen?“

„Ich hätte auch ebensogut bis vier Uhr warten können, liebe Marie, aber wenn er fertig ist, so trinke ich auch gleich gern eine Tasse.“

Die Beiden ließen sich im Garten auf einer Bank nieder, Marie setzte unverzüglich ihren Strickstrumpf in Bewegung, während der Fürst seinen Kaffee schlürfte, den ihm die Mutter, ohne weiter zu fragen, selbst gebracht hatte, indem sie dabei bemerkte:

„Ich dachte mir gleich, daß der gnädige Herr wohl lieber vor der Kirche, als nachher den Kaffee tränke.“

Alexander ließ sich mit Mariens Mutter in ein Gespräch ein und fand ihre Antworten und Bemerkungen überaus verständig.

Inzwischen hatte das Kirchenläuten schon wieder begonnen und ermahnte die Hausfrau ihren Mantel umzuthun (ohne welchen keine verheirathete Thüringerin vom Lande Sonntags ausgeht, und wenn die Hitze noch so drückend wäre), und den Hausvater zu wecken. Marie brachte ihren Strickstrumpf in Sicherheit, um das Gesangbuch dafür zu holen, und Alexander verließ zugleich mit dem frommen Kleeblatt das Haus, kam aber auf seinem Kirchgange nicht weiter, als bis zum Curhause, wo ihn sein Onkel wieder abfing, der unter den schattigen Kastanienbäumen mit gelangweiltem Gesicht auf und ab schlenderte und den Dampf seiner Cigarre mit einer Verdrossenheit von sich blies, als ob ein kurzer Aufenthalt in dein reizvollen Liebenstein zu den schwersten Prüfungen des Lebens gehörte.

„Wohin sollte der Weg jetzt wieder gehen?“, fragte er Alexander, der in seiner harmlosen Unterhaltung mit Marien den Onkel gar nicht bemerkt hatte und unangenehm überrascht war, als dieser ihm plötzlich in den Weg trat.

„In die Kirche,“ erwiderte Alexander.

„Du würdest mir einen großen Gefallen thun, jetzt ein wenig bei mir zu bleiben, um mir vor Tisch die vielgerühmten Herrlichkeiten Liebenstein’s zu zeigen, da ich gleich nach Tisch wieder abzureisen gedenke.“

Alexander verabschiedete sich von Marie und ihren Eltern und versprach, sie bald wieder zu besuchen. Die wackern Leute setzten ihren Weg zur Kirche fort; Dimitry, der schon vorher Marie scharf in’s Auge gefaßt hatte, warf jetzt auch ihren Eltern einen langen, prüfenden Blick nach und zog dann seinen Neffen am Arm mit sich fort.

„Du scheinst die frischen Walderdbeeren zu lieben,“ sagte er nach einer Weile, „und hast keinen üblen Geschmack. Wie lange kennst Du das Mädchen schon?“

„Seit gestern.“

„Seit gestern? und heute nach einem langen Besuche, auf dem Wege zur Kirche, in Gesellschaft der Eltern; das nenn’ ich rasch und schlau zu Werke gehen. Dein Vater würde es nicht glauben, wenn ich es ihm sagte, und ich selber hätte dem jungen, schüchternen Heiligen so etwas nicht zugetraut.“

In dem Tone, mit welchem dies gesagt wurde, lag etwas Verletzendes, Herausforderndes, und Alexander hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, hielt sie aber zurück bei dem Gedanken, daß sein ihm wenig sympathischer Onkel nur auf einige Stunden in Liebenstein verweilen werde, die er nicht in Unfrieden mit ihm verbringen wollte. Er schlug ihm vor, mit ihm einen Waldspaziergang nach der hohen Klinge zu machen, und Dimitry ging darauf ein, blos, wie er sich ausdrückte, um die Zeit todt zu schlagen. Beim Anblick der mannigfaltigen Naturschönheiten, auf welche der empfängliche Alexander ihn aufmerksam machte, hatte er nur ein gleichgültiges Achselzucken, und das einzige Ziel, welches er in der Unterhaltung verfolgte, war, seinen Neffen zu bewegen, spätestens in vierzehn Tagen nach Baden-Baden zu kommen, wo sich noch andere Verwandte und Freunde seines Hauses einfinden würden. „Baden-Baden,“ sagte er ein Mal über’s andere, „ist nach Paris der einzige Ort, wo man leben kann, ohne sich zu langweilen.“

Alexander, dessen Gedanken bei Marie waren, ließ seinen Onkel reden, ohne mehr als nöthig zu antworten, und war froh, als er ihn am Abend wieder los war, denn der Onkel hielt Wort und fuhr gleich nach dem Diner, an dem Alexander nur zum Schein theilnahm, wieder ab, um am Spieltische und bei den Bajaderen in Baden-Baden die Aufregungen zu suchen, welche er in den friedlichen Naturreizen von Liebenstein nicht finden konnte.

Schon am folgenden Tage machte Alexander „seiner Marie“ (wie er sie in Gedanken nannte) schon wieder einen Besuch, fand aber weder sie noch ihre Eltern zu Hause und erfuhr von einem kleinen Mädchen, welches vor der Thür des Nachbarhauses saß, daß sie auf dem Felde beschäftigt sei. Er besann sich eine Weile, was er thun sollte; der Gedanke, Marie den ganzen Tag nicht zu sehen, war ihm unerträglich; bei Tisch mochte er die guten Leute nicht wieder überfallen, und so entschloß er sich, sie auf dem Felde aufzusuchen, was ihm denn auch mit Hülfe des kleinen Mädchens, dem er gleich vorweg ein großes Geldstück zur Belohnung gab, glücklich gelang. Er fand sie beschäftigt, Bohnenstangen in das Feld zu stecken, und sie waren so eifrig bei der Arbeit, daß sie sich durch seine Ankunft durchaus nicht stören ließen. Er wurde freundlich bewillkommt, aber zu einer gemüthlichen Unterhaltung bot sich keine Gelegenheit. Es blieb ihm nichts übrig, als sich anzubieten auch bei der Arbeit zu helfen, was ohne weitere Umstände angenommen wurde. Marie gab ihm lachend die nöthigen Anweisungen, und der Alte sah mit Vergnügen, daß sich der junge Fürst unter der Leitung seiner Tochter sehr anstellig zeigte, obgleich er sich in seinen zierlichen Lackstiefeln und feinen Handschuhen als Ackerbauer drollig genug ausnahm und es keines großen Scharfblicks bedurfte, um zu merken, daß er solche Arbeit zum ersten Male im Leben verrichtete. Es lag ihm aber daran den wackern Leuten zu zeigen, daß es ihm nicht an Kraft und gutem Willen fehle, tüchtig zuzugreifen, und so ging das Stangeneinstecken rüstig von Statten.

Am andern Morgen fand er sich wieder bei der Arbeit ein; diesmal galt es Rüben zu stecken, was ihm ein bischen schwerer ankam, da er sich immer dabei bücken mußte; doch ließ er sich die Mühe nicht verdrießen und war glücklich, so oft ihm ein lohnender Blick aus Mariens braunen Augen dafür zu Theil wurde. Die Arbeit hatte schon am vergangenen Tage seinen Appetit so mächtig geweckt, daß er nicht begreifen konnte, wie die Leute bei so einfacher Kost bestehen konnten. Da er am Sonntag ihr Gast gewesen war, so hielt er es nicht für unpassend, sie auch einmal zu bewirthen, wozu sich gleich am folgenden Tage gute Gelegenheit bot, da ein Festtag war, der auf höhere Veranlassung durch den berühmten Salzunger Kirchenchor verherrlicht werden sollte. Alexander’s Einladung wurde von Mariens Eltern mit unbefangener Dankbarkeit angenommen, und es traf mit den Wünschen des jungen Fürsten zusammen, daß es ihnen lieber war, das Mahl in ihrer kleinen Häuslichkeit einzunehmen, als in dem Curhause. Alexander hatte sich schon so an die kleine Familie und an den traulichen Verkehr mit Marie gewöhnt, daß er den Gedanken gar nicht fassen konnte, sich von ihr trennen zu müssen, und daß er nie einem Tage mit solcher Freude entgegengesehen, wie dem folgenden, den er wenigstens zur Hälfte an der Seite Mariens gemüthlich zu verleben dachte.

Der Gesang, des Salzunger Kirchenchors fand unter der Leitung des trefflichen Cantor Müller am Festmorgen im Cursaale statt. Obgleich noch wenig Badegäste in Liebenstein waren, hatte sich doch aus der Nähe und Ferne ein zahlreiches Publicum eingefunden, und Maria mit ihrer Mutter waren auch unter den Zuhörern; der Alte war zu Hause geblieben. So schwer es dem jungen Fürsten ankam, seine Augen und Gedanken von Marie abzulenken, wurde er doch so ergriffen von den nur Compositionen älterer Meister enthaltenden weihevollen Klängen des wunderbar geschulten Chors, daß er seine Bewegung kaum bemeistern konnte. Als das Kyrie eleison von Palestrina erscholl, brachen ihm unwillkürlich die dicken Thränen reinster Andacht und Begeisterung aus den Augen. Es gemahnte ihn an den schönen heimathlichen Kirchengesang im Jungfrauen-Kloster zu Moskau, wohin ihn seine fromme Mutter so oft in seinen Kinderjahren geführt hatte, und wenn etwas dienen konnte, ihm Liebenstein noch heimischer und lieber zu machen, als es ihm schon war, so war es dieser erhebende Kirchengesang, der mit dem vierundzwanzigsten Psalm von Neidhardt schloß, welcher beginnt: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdboden und was darauf wohnt.“

Er fühlte das Bedürfniß, sich erst einsam eine Stunde im [276] Walde zu ergehen und seine sich überstürzenden Gedanken und Gefühle zu ordnen, bevor er Mariens Haus wieder betrat, wohin sein Diener beauftragt war, das eigens bestellte Mittagsmahl zu bringen. Er hatte bis dahin noch nicht recht darüber nachgedacht, was aus seinem Verhältniß zu Marie eigentlich werden sollte, und fühlte sich jetzt wie durch eine höhere Macht getrieben, darüber mit sich in’s Reine zu kommen. Als er den Weg nach Mariens Haus antrat, war sein Entschluß gefaßt, und mit aufgeräumtem Gemüthe setzte er sich an die kleine, aber wohlversorgte Tafel, um seine gastlichen Pflichten zu üben. Es freute ihn herzlich, zu erfahren, daß auch auf Marie und ihre Mutter der Kirchengesang einen tiefen nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. Marie war besonders von der alten Kirchenmelodie, harmonisirt von Prätorius, ergriffen worden: „Thu’ recht, nichts scheu, auf Gott vertrau, er wird Dein’ Sach’ wohl wenden, er hat’s in Händen“, während die Mutter mehr Wohlgefallen an den mehr künstlich von David Perez componirten Bibelversen (Matth. 25, V. 6): „Um Mitternacht ward ein Geschrei, siehe: der Bräutigam kommt, geht aus, ihm entgegen“, gefunden hatte.

Alexander glaubte darin eine gute Vorbedeutung für das, was er auf dem Herzen hatte, sehen zu dürfen; doch rückte er nicht gleich damit heraus, sondern erzählte erst lange von seiner Heimath, von den Gütern seiner Eltern, wo er seine Kinderjahre verlebt, von dem malerischen Moskau mit den goldenen Kuppeln und dem stattlichen Petersburg mit seinen schnurgeraden Straßen. Endlich aber drängte es ihn doch, seinem Herzen Luft zu machen, als der Alte wieder im Lehnsessel hinter dem Kachelofen sein Schlummerstündchen hielt, die Mutter in der Küche den Kaffee kochte und Alexander sich mit Maria allein im Garten befand. Sie saßen dicht beisammen auf einer Bank, von lang herabhängendem Goldregen beschattet, Hand in Hand. Es war das die größte Vertraulichkeit, die er sich bis dahin erlaubt hatte, jetzt aber konnte er sich nicht enthalten, den Arm um sie zu schlingen, sie an sich heranzuziehen, einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken und sie dann strahlenden Auges zu fragen: „Marie, willst Du mein Weib werden?“

Sie hatte sich Alles gefallen lassen, ohne zu widerstreben und ohne entgegen zu kommen, bei dieser Frage wand sie sich aber unwillkürlich von ihm los und war wie aus den Wolken gefallen.

„Gnädiger Herr,“ sagte sie, „das habe ich nicht um Sie verdient!“

In diesem Augenblick kam die Mutter mit dem Kaffee in den Garten. Alexander ließ sich durch sie nicht stören, er suchte die sich sträubende Marie wieder an sich heranzuziehen und sagte mit dem sanftesten Ausdruck:

„Du glaubst doch nicht, Marie, daß ich Dich habe verletzen wollen? Wie kann ich Dir einen größern Beweis meiner Liebe, meines Vertrauens und meiner Achtung geben, als indem ich Dich zu meiner Frau mache?“

„Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, gnädiger Herr, zu einer großen Dame taugt ein so einfaches Landmädchen, wie ich bin, nicht. Ich habe Ihre Freundlichkeit gegen mich nicht für Liebe genommen, sondern für freundliches Wohlwollen, und ich bin Ihnen herzlich entgegengekommen, weil Sie so lieb und gut sind und ich Sie gern habe; aber der Gedanke, Ihre Frau zu werden, wäre mir nicht im Traume gekommen. Die Kluft zwischen uns ist zu groß.“

„Da hat Marie Recht,“ fiel die Mutter ein, welche das Letzte gehört und das Vorhergehende schnell errathen hatte, „eine so ungleiche Ehe thut nimmer gut. Keine Ehe thut gut, zu welcher die Eltern nicht ihren Segen geben, und das würden Ihre Eltern nicht thun, wenn Sie Marie heirathen wollten.“

Sie sagte das mit einer Sicherheit, als ob sie dergleichen Fälle schon öfter zu behandeln gehabt hätte.

„Sehen Sie, gnädiger Herr,“ fuhr sie fort, „ich bin in meiner Jugend auch ein ganz hübsches Mädchen gewesen, wie ich ohne Ruhmredigkeit sagen darf, und habe mit den Männern allerlei Erfahrungen gemacht, ohne vom rechten Weg abgeleitet worden zu sein. Ich hätte auch leicht über meinen Stand hinaus heirathen können, und habe es nicht gethan, weil ich ein sicheres Glück, nach mir anerzogenen, klaren Begriffen, einem unsicheren Glücke, nach mir fremden Begriffen, vorzog. Vielleicht mag es auch dazu beigewirkt haben, daß ich in meiner Jugend bei hohen Herrschaften gedient, in deren Hause das Glück nicht wohnte, obgleich sie an allen den Gütern Ueberfluß hatten, in welche man das Glück zu setzen pflegt. Meine gute Mutter pflegte zu sagen: Es giebt kein besseres Glück auf Erden als Gesundheit, Gottvertrauen, häuslichen Frieden und das Bewußtsein nach Kräften zu arbeiten und seine Pflicht zu thun.“

Der junge Fürst war nicht wenig überrascht, eine so kühle Aufnahme seines Antrages zu finden, durch welche er geglaubt hatte, eine große Freude im Hause hervorzurufen; doch gab er sich nicht so leicht gefangen.

„Ich habe gedacht,“ sagte er, „daß Marie mich ein Bischen lieb hätte; ihre Freundlichkeit berechtigte mich, dies zu glauben; allein ich sehe nun, daß ich mich geirrt habe.“

Hiergegen protestirte Marie und ihre Mutter auf das Eindringlichste; indeß der junge Fürst fuhr kopfschüttelnd fort: „Wenn Marie mich lieb hätte, so würde die Freude, mir vor Gott und den Menschen angehören zu können, alle Bedenken leicht überwinden. Auch meinen Wünschen standen solche Bedenken entgegen –“

„Die noch nicht überwunden sind, gnädiger Herr,“ fiel ihm die Alte in’s Wort. „Wenn Sie auch Ihren Entschluß schnell genug gefaßt haben und (davon bin ich überzeugt) es vollkommen ehrlich mit Marie meinen: die Zustimmung Ihrer Eltern wird nicht so leicht zu gewinnen sein. Sie haben uns viel von Ihrer lieben Mutter erzählt, an der Ihr Herz besonders zu hängen scheint, von Ihrem Vater haben Sie fast gar nicht gesprochen, ich mochte nicht fragen warum; es wird wohl seine guten Gründe haben; aber wenn ich auch von Ihrem Vater absehe, würde es Ihre Mutter nicht unglücklich machen, wenn ihr einziger Sohn ihr eine Frau zuführte, welche nichts von dem hat, wonach man in Ihren Kreisen den Werth der Frauen zu schätzen pflegt?“

„Meine Mutter würde bald das unverdorbene Herz Mariens schätzen lernen und dann alles Uebrige als Nebensache betrachten. Auch habe ich gar nicht die Absicht, mit Marie in der großen Welt zu leben; ich werde ihr eine Thätigkeit anweisen, welche ganz ihren Gewohnheiten und Neigungen entspricht. Wir werden entweder auf einem meiner Güter im Innern Rußlands leben, oder ich werde, wenn es ihr oder Euch lieber ist, hier in der Nähe ein Gut kaufen, das sie mir helfen soll zu bewirtschaften, denn ich habe mich von jeher mehr zum Land- als zum Stadtleben hingezogen gefühlt und jetzt hier bei Euch, bei dem bescheidensten Tagewerk kennen gelernt, welcher Segen in geregelter Arbeit liegt. Darum, wenn Marie sich als meine Frau glücklich fühlen kann, so fehlt unserem Glücke nichts als Eure Einwilligung –“

„Und die Einwilligung Ihrer Eltern,“ fügte die Mutter hinzu. „Bis Sie uns diese bringen, lassen Sie uns nicht weiter von der Sache reden, damit nicht Hoffnungen genährt werden, die doch nicht erfüllt werden können.“

„Sie werden erfüllt!“ rief Alexander, „dafür laßt mich sorgen.“

„Sobald Sie die Einwilligung Ihrer Eltern haben, soll Ihnen die meinige nicht fehlen,“ sagte die Mutter in ebenso entschiedenem Tone.

(Schluß folgt.)
[289]
3.

Alexander betrachtete sich jetzt schon als wie zu der Familie gehörig, und um die Einwilligung seiner Eltern so schnell wie möglich zu erhalten, schrieb er gleich einen langen, rührenden Brief an seine Mutter, der er die trefflichen Eigenschaften Mariens und sein ungesucht entstandenes Verhältniß zu ihr in der erbaulichsten Weise schilderte. Zugleich bat er sie herzlich, seine Fürsprecherin bei seinem Vater zu sein, einem hochfahrenden, egoistischen Herrn, an welchen Alexander in dieser Angelegenheit nicht direct zu schreiben wagte und von dem er wohl nur deshalb so wenig sprach, weil er wenig Gutes von ihm zu sagen wußte. In dem alten Fürsten steckte noch ein beträchtliches Stück Bojarenthum; er war wenigstens um hundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen und konnte sich in die neue Zeit mit ihren nach Ausgleichung verjährten Unrechts strebenden demokratischen Tendenzen durchaus nicht finden. Daß die Kaiserin Katharina (welche, obwohl sie eine Deutsche war, von den eigentlichen Stockrussen weit höher gestellt wird als Peter der Große) weiland Hunderttausende freier Bauern im Handumdrehen zu Leibeigenen und willenlosen Sclaven feiler Günstlinge Ihrer üppigen Majestät machte, fand er ganz in der Ordnung; daß hingegen Kaiser Alexander den Bauern wieder zu einem menschenwürdigen Dasein verhelfen wollte, erschien dem alten Herrn als ein Frevel vor Gott und den Sclavenbesitzern. Alle gesetzliche Ordnung betrachtete er als eine gefährliche Bedrohung der geheiligten Rechte des Czaren- und Bojarenthums. Er hätte sich lieber vom Czaren die Ohren abschneiden lassen, um das Recht zu haben, auch seinen Untergebenen die Ohren abzuschneiden, als zu billigen, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien.

Mit seiner Gattin lebte er auf ziemlich kühlem Fuße. Nachdem sie ihm einen Stammhalter geboren hatte und kein zweiter Sohn mehr zu erwarten stand, war sein Interesse für sie völlig erloschen. Das Einzige, was ihm an seiner Gemahlin noch gefiel, war ihr frommer, gottergebener Sinn. „Religion muß sein!“ pflegte er mit einer Wichtigkeit zu sagen, als ob er einen neuen Lehrsatz entdeckt hätte, werth, daß eine Hekatombe dafür geopfert werde. Auch hielt er die Fasten mit großer Gewissenhaftigkeit (was bei den vortrefflichen Fischspeisen, die sein Koch zu bereiten wußte, nicht allzu schwer war), und ging nie an einer Kirche oder einem Heiligenbilde vorüber, ohne das Zeichen des Kreuzes zu machen. Uebrigens war er ein Trinker, an dem selbst Peter der Große seine Freude gehabt haben würde, und der Dorfpriester, der im Zechen auch seinen Mann stand, mußte ihm häufig bei seinen Gelagen als Gesellschafter, als geduldiger Anhörer seiner langen Geschichten aus der guten alten Zeit, als Zielscheibe seiner Witze und zuweilen selbst der Ausbrüche seines Zornes dienen. Es kam mehr als einmal vor, daß er dem langhaarigen Diener des Herrn, dessen Haupt und Bart nie weder Scheere noch Scheermesser berührt hatte, eine Flasche oder ein Glas nach dem Kopfe warf.

Hin und wieder, d. h. so oft er Geld brauchte, kam sein Bruder Dimitry, der sonst immer in Baden-Baden oder Paris lebte, auf Besuch und blieb so lange, bis er die Taschen wieder gefüllt hatte, wozu er jedesmal einen neuen Feldzugsplan entwerfen mußte. Er imponirte seinem älteren Bruder durch seine überlegene Weltbildung, die elegante Leichtigkeit seiner Umgangsformen und die dialektische Gewandtheit, mit welcher er nach langen, verwickelten Vordersätzen, die der Bruder nicht verstand, immer zu Schlüssen kam, welche diesem so recht aus dem Herzen gesprochen waren. Dimitry’s Anwesenheit im Schloß gab jedesmal Anlaß zu Festgelagen, zu welchen die gutsherrlichen Familien der Nachbarschaft eingeladen wurden, um die sich sonst der Fürst nicht viel kümmerte, da ihm die Damen entweder zu geziert oder zu frei, die alten Herren zu langweilig und die jungen zu aufgeklärt waren.

Es gereichte ihm aber zu besonderer Genugthung, zu sehen, wie überlegen sein Bruder mit Alt und Jung umsprang; wie er die Mütter durch die Töchter gewann und die Töchter durch die Mütter; wie er den Alten fabelhafte Geschichten erzählte, wobei er immer den Mund voll Kaiserinnen und Königinnen hatte; wie er die Jüngeren durch Witzworte und gelegentliche Anführung berühmter Autoren blendete, die natürlich sämmtlich seine intimen Freunde waren, und wie er sich im Grunde über Alle lustig machte.

Fürst Michail hatte eine besondere Liebhaberei für seinen Bruder Dimitry, obgleich oder weil er diesem schon große Summen geopfert hatte; wie es denn nicht selten vorkommt, daß reiche Leute diejenigen am meisten lieben, die am meisten dazu beitragen, ihr Geld unter die Leute zu bringen. Wenn die Gäste nach Hause gefahren waren, pflegte er mit ihm „noch ein Gläschen unter vier Augen“ zu trinken, wobei ihm Dimitry tapfer Stand hielt, um ihn bei guter Laune zu erhalten, denn aus dem Weintrinken an sich machte er sich, wie die meisten Spieler, wenig. Fürst Michail ließ dann gewöhnlich „einige Flaschen mit Spinngewebe“ bringen, was er nur that, wenn er glaubte einen feinen Kenner vor sich zu haben, oder wenn es sich darum handelte, einen Gast besonders zu ehren. Das Spinngewebe an den Flaschen galt ihm nämlich als ein untrügliches [290] Zeichen des Alters und folglich der Güte des Weines. Sein Lieferant hatte sich diese Marotte gemerkt und versorgte ihn immer mit einer hinlänglichen Anzahl von Flaschen mit Spinngewebe, die dann natürlich das Dreifache von dem kosteten, was er ohne Spinngewebe für denselben Wein zu zahlen hatte.

Dimitry machte sich seine eigenen Gedanken über diese Art von Feinschwelgerei, schwieg aber als Weltmann still dazu, wohl wissend, daß den Menschen im Allgemeinen und den großen Herren insonderheit nichts lieber ist, als angenehm betrogen zu werden. Trieb er doch selbst dies Geschäft mit großem Erfolg bei seinem Bruder. Bei seinem letzten Besuch hatte er ihm eine beträchtliche Summe abgelockt, um ihn als Actionär bei einem Unternehmen zu betheiligen, welches bezweckte, die Naphthaquellen einer Insel im caspischen Meer auszubeuten und einen unerhörten Gewinn dadurch zu erzielen, der sich auch wirklich insofern ergab, als das Unternehmen in Wasser zerfloß und das Geld in den Taschen der Unternehmer hängen blieb. Der neue Plan, den er jetzt vor seiner Rückkehr nach Deutschland auf’s Tapet brachte, bezweckte, die Güter des Fürsten durch Vermählung seines Sohnes mit der Tochter der in der Nachbarschaft ansässigen verwittweten Gräfin Reka zu vermehren. Die Gräfin war vor zwei Jahren mit ihrer damals vierzehnjährigen Tochter Olga nach Dresden gereist, um dort deren Erziehung zu vollenden. Dimitry war ein alter Freund der Gräfin, die sich seinen Vorschlägen gar nicht abgeneigt zeigte; es galt nur noch den Fürsten Michail dafür zu gewinnen, was dem schlauen Dimitry nicht schwer wurde. Er kannte die mißtrauische Natur seines Bruders, der jeden klar formulirten Vorschlag kopfschüttelnd abzuweisen pflegte, als ob er fürchtete, schmählich überlistet zu werden, dagegen über dunkel hingeworfene Andeutungen gern nachgrübelte und an den Vorstellungen, die sich solchergestalt schwerfällig und langsam in seinem Gehirn entwickelten, mit großer Zähigkeit festhielt.

Die Güter der Gräfin waren nicht groß, aber sehr einträglich, weil hart an den Ufern der Wolga gelegen, wo die Dampfschifffahrt den Verkehr erleichterte und der Fischfang reiche Ausbeute lieferte. Von dieser günstigen Lage und den daraus entspringenden Vortheilen der Reka’schen Güter hatte Dimitry schon ein paar Mal bei Tisch mit einem Nachbarn gesprochen, aber so, daß Fürst Michail es hören mußte.

„Es ist schade, daß nicht ein sachkundiger Mann die Güter bewirtschaftet,“ bemerkte der Nachbar, „das Einkommen könnte leicht dadurch verdoppelt werden.“

„Nun, die Gräfin behält immer noch genug –“ warf Dimitry ein; „sie hat von der Bauernemancipation weniger zu leiden als wir Anderen, denn ihre Fische können sich nicht um einen Spottpreis loskaufen wie unsere Leibeigenen, denen wir noch obendrein Land in den Kauf geben müssen.“

„Es ist und bleibt ein himmelschreiendes Unrecht mit dieser Emancipation,“ nahm jetzt Fürst Michail das Wort, dem die Fische der Gräfin Reka schon durch das weindunstige Gehirn schwammen, „früher mußte mir jeder Bauer, den ich auf Obrok ließ, wenigstens ebenso viel jährlich zahlen, wie ich jetzt sammt und sonders für seine Freilassung bekomme. Wie soll ein anständiger Gutsbesitzer dabei bestehen? Ich bitte, sagen Sie, meine Herren!“

„Was ist da viel zu sagen? Ein himmelschreiendes Unrecht ist’s und bleibt’s,“ echote der Nachbar, ernst die Stirn runzelnd, während Dimitry bedächtig zustimmend nickte.

Am folgenden Tage ließ Dimitry zum Diner lange auf sich warten.

„Woher kommst Du so spät? Wo bist Du den ganzen Tag gewesen?“ fragte ihn ein über das andere Mal sein ungeduldiger Bruder.

„Der General Beregoff hatte mich abgeholt, um mir die neuen Fischbehälter auf den Reka’schen Gütern zu zeigen; es ist wirklich der Mühe werth …“

„Was hat der General damit zu thun? Was geht das den General an?“ unterbrach ihn der alte Fürst unmuthig.

„Nun, er scheint ein lebhaftes Interesse daran zu nehmen; er betrachtet Alles wie mit den Augen eines zukünftigen Besitzers.“

„Zukünftigen Besitzers? Wie meinst Du das? Was willst. Du damit sagen?“.

„Hat er nicht einen heirathsfähigen Sohn?“

„Heirathsfähigen Sohn? Soll es da hinaus? Daran hab’ ich nie gedacht.“

„Der junge Beregoff dient in der Garde; er wird ungefähr im Alter Deines Alexander sein.“

„Nein, er ist jünger; er ist sicher ein paar Jahre jünger; ich weiß gewiß, er kam später als Alexander auf die Welt; ich war ja selbst bei der Taufe.“

„Er wird aber doch alt genug sein zu heirathen, oder wenigstens sich zu verloben, um den reichen Fang zu sichern.“

Fürst Michail schwieg eine Weile. „Jünger als Alexander und doch alt genug sich zu verheirathen, um den reichen Fang zu sichern“ – diese Worte summten ihm beunruhigend durch den Kopf; er brauchte Zeit, um die natürliche Schlußfolgerung daraus zu ziehen, und Dimitry ließ ihm Zeit. Endlich hub der Fürst wieder an, gleichsam um sich selbst zu beruhigen:

„Mit der Heirath ist’s dummes Zeug; Olga ist ja noch ein Kind.“

„War noch ein Kind vor zwei Jahren –“ bemerkte Dimitry trocken, „sie hat sich seit der Zeit merkwürdig entwickelt.“

„Hast Du sie gesehen?“

„Ganz zufällig, kurz vor meiner Abreise von Deutschland; ich mußte wegen meiner Pässe zu unserem Gesandten nach Dresden, wo sie wohnte.“

„Ist sie hübsch?“

„Allerliebst.“

Der Fürst ließ ein paar Flaschen mit Spinngewebe kommen, trank eine davon stillschweigend mit dem Bruder aus und sagte beim Anbruch der zweiten, wie zu sich selbst sprechend:

„Das wäre eine Partie für Alexander, wenn mit dem Jungen nur was anzufangen wäre; er ist ganz aus der Art geschlagen; hat nichts von mir. Ja,“ rief er jetzt laut, „wenn ich an seiner Stelle wäre! Aber er ist ganz aus der Art geschlagen!“

„Wer ist aus der Art geschlagen?“ fragte Dimitry, als ob er blos die letzten Worte gehört hätte.

„Nun, Alexander mein ich; sonst wäre das ganz eine Partie für ihn, wenn der Junge nur Haare auf den Zähnen hätte. Aber es ließe sich doch wohl machen, denn heirathen muß er ohnehin über kurz oder lang.“

„Heirathen muß er, das versteht sich von selbst,“ bemerkte Dimitry trocken.

„Nun, warum kann er denn nicht Olga heirathen? Ich sehe nicht ein, warum nicht.“

„Das sehe ich auch nicht ein.“

„Du siehst’s auch nicht ein? – Das glaub’ ich, jetzt, wo ich’s Dir gesagt habe! Warum bist Du denn nicht selbst auf den Gedanken gekommen? Es lag doch so nahe. …“

„So nahe, wie die Güter der Gräfin –“ fuhr Dimitry fort. „Aber man denkt an so etwas nicht gleich, wenn man selbst keine Kinder hat. Uebrigens, wenn ich Dir nützen kann in dieser Angelegenheit …“

„Ja, Du kannst mir nützen; allerdings kannst Du mir nützen, denn die Sache muß abgemacht werden, und bald, damit uns der General mit seinem Sohne nicht in’s Gehege kommt. Du bist ein alter Freund der Gräfin; Du bist der rechte Mann, um die Sache schnell in’s Reine zu bringen.“

Es wurde nun verabredet, daß Dimitry die Damen in Baden-Baden mit Alexander zusammenbringen solle, aber so, daß sich Alles wie zufällig mache; alles Weitere nach Gunst der Zeit und Umstände zu fügen, blieb ganz seiner bewährten Klugheit überlassen. Selbstverständlich durfte es bei der Durchführung dieses Planes an Geld nicht fehlen, und der Fürst zeigte sich in diesem Falle großartiger, als Dimitry erwartet hatte, dem überdies nach glücklichem Erfolge noch eine ansehnliche Belohnung in Aussicht gestellt war. Es lag ihm deshalb sehr daran, die Sache zu beschleunigen. Zwei Tage nach der oben angeführten Unterhaltung mit seinem Bruder war er schon auf dem Wege nach Deutschland. Die Gräfin folgte mit ihrer Tochter seiner Einladung nach Baden bald; Alexander aber ließ, aus uns schon bekannten Gründen, auf sich warten und beantwortete die dringenden Briefe des Onkels mit der Entschuldigung, daß er vor der Vollendung seiner Cur nicht abreisen dürfe. Er wollte, bevor er Liebenstein auch nur auf ein Kurzes verließ, erst die Antwort seiner Mutter auf seinen flehentlichen Brief abwarten, um Gewißheit über sein Schicksal zu haben. Mit Maria war er inzwischen nicht weiter gekommen, als wir schon gesehen [291] haben. Das Mädchen bezeigte ihm eine gleichmäßige Freundlichkeit, aber darüber hinaus ging sie nicht. Für seine Liebesbetheuerungen hatte sie kein rechtes Verständniß; offenbar theilte sie seine glühenden Gefühle nicht und war zu ehrlich, um Leidenschaft zu heucheln; sie duldete seine kleinen Zärtlichkeiten, ohne dieselben zu erwidern.

Nach gewöhnlichen Voraussetzungen hätte ihm dieses ungleichartige Verhältniß auf die Dauer unerträglich werden müssen, allein in Wirklichkeit fühlte er sich täglich mehr zu Marie hingezogen. Ein ähnliches Verhältniß zu einer höherstehenden Dame würde ihn wahrscheinlich zur Verzweiflung gebracht haben, hier aber lag in dem Widerstreben der naturwüchsigen Jungfräulichkeit iein eigenthümlicher Reiz für ihn. Er sagte sich: sie würde dich lieben, wenn du kein Fürst wärest, und er bedauerte, daß ihm das Schicksal nicht vergönnt habe, ihr zuerst im schlichten Gewande entgegenzutreten, wie jener Ritter des Liedes seiner ländlichen Geliebten, die er in Bauerntracht gewann, um sie dann, ihres Besitzes sicher, als große Dame in sein Schloß zu führen.

Als Alexander einmal wieder allein mit Marie am Staket des Gartens stand, über welches hinweg sie eben gemeinsam die Hühner gefüttert hatten, fragte er sie:

„Würdest Du mich gleich geheirathet haben, Marie, wenn ich Dir von vornherein als ein Mann Deines Standes, aber sonst ganz wie ich bin, entgegengetreten wäre?“

„Ei gewiß,“ antwortete sie, „wenn Ihre und meine Eltern ihren Segen dazu gegeben hätten.“

„Warum nennst Du mich nicht auch Du, wie ich Dich nenne?“

„Weil Sie ein vornehmer Herr sind und ich ein geringes Mädchen bin.“

„Dir gegenüber bin ich kein vornehmer Herr, ich stelle mich ganz auf gleichen Fuß mit Dir; warum erinnerst Du mich immer an das, was ich nicht sein will?“

„Weil Sie nicht aufhören können es zu sein, auch wenn Sie wollen.“

„Ich könnte Dir wirklich böse werden über Deine Hartnäckigkeit.“

„Wie könnten Sie mir böse werden, da ich Ihnen so gut bin!“ – sagte sie, ihm treuherzig die Hand reichend; und er war wieder selig.

Die schon lange erwartete Antwort von seinen Eltern aber blieb aus.

4.

Die Schilderung der Scene, welche der jähzornige Fürst Michail seiner Gemahlin machte, als sie ihm in einer – wie sie glaubte – guten Stunde die Wünsche Alexanders mittheilte, wollen wir unseren Lesern ersparen.

Dimitry erhielt von seinem Bruder einen in der wüthendsten Aufregung geschriebenen Brief, worin er ihm vorwarf, daß er ihn schändlich hinter’s Licht geführt und betrogen habe. „Entweder,“ schloß er, „Du reißest auf der Stelle mit Gewalt meinen entarteten Alexander von der nichtswürdigen Bauerndirne los und bringst die Verbindung mit Olga zu Stande, oder ich reiße mich auf ewig von Dir und ihm los.“

In Folge dieses Briefes hielt es Dimitry nicht für gerathen, die schon so lange verzögerte Vollendung der Cur Alexander’s abzuwarten; der Brief, den der verliebte junge Fürst an seine Mutter geschrieben hatte, war dem Onkel vom Vater zu besserer Einsicht in den Stand der Dinge beigelegt worden, und er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sein Neffe, dessen Benehmen ihm schon bei der ersten Begegnung in Liebenstein wunderlich genug vorgekommen war, völlig den Verstand verloren haben müsse, um an eine ernste Verbindung mit dem hübschen Bauernmädchen zu denken. Unverzüglich machte er sich auf den Weg nach Liebenstein, um den Weisungen seines Bruders pünktlich Folge zu leisten.

Er fand Alexander nicht zu Hause, dafür aber dessen alten treuen Diener Peter, der ihn schon als Kind auf den Armen getragen und seitdem immer begleitet hatte.

„Aber was zum Teufel, Peter,“ rief er, „ist mit Deinem jungen Herrn vorgegangen?“

„Der Himmel weiß es, wie es gekommen ist, daß er sich so über Hals und Kopf in das hübsche Mädchen verliebt hat. Aber es scheint, daß er nicht von ihr lassen kann; er hat mir sogar gesagt, er wolle sie heirathen. Den ganzen Tag steht er mit ihr auf dem Felde und hackt das Kartoffelland oder pflanzt Kohlrüben um.“

„Hackt Kartoffeln und pflanzt Kohlrüben um? Sag’ einmal ehrlich, Peter, glaubst Du nicht, daß er den Verstand verloren hat?“

„Nein, das glaub’ ich nicht, gnädiger Herr; er ist so verständig und gut, wie er immer war; nur hat er für nichts Anderes mehr Sinn als für das hübsche Mädchen.“

Dimitry war nicht so leicht von der Ansicht abzubringen, daß es mit dem Kopfe seines Neffen nicht ganz richtig stehe; er ließ sich zu seinem Arzte führen, erfuhr aber von diesem auch nicht mehr, als ihm Peter gesagt hatte. Am meisten fiel es ihm auf, zu hören, daß das Verhältniß des jungen Fürsten zu Marie allgemein als ein ganz unschuldiges gelte, daß diese sich des besten Rufes erfreue und sehr geachtete, brave Eltern habe.

Unglaublich wie ihm dieser Bericht klang, bestimmte derselbe doch seinen Entschluß, möglichst sanft gegen seinen Neffen vorzugehen. Er ließ sich von Peter auf das Feld führen, wo er wirklich Alexander in Gesellschaft Mariens und ihres Vaters (die Mutter war zu Hause geblieben) beschäftigt fand, die Erde um die Kartoffeln herum zu lockern. Der junge Fürst hackte mit einem Eifer darauf los, daß er lange seinen Onkel gar nicht bemerkte, da er daran gewöhnt war, von neugierigen Gaffern angestaunt zu werden, ohne sich um sie zu kümmern. Als er endlich Dimitry’s ansichtig wurde, begrüßte er ihn ziemlich einsilbig; er fühlte keine Freude über das Wiedersehen und heuchelte auch keine. Das lange Ausbleiben der so sehnlich erwarteten Briefe von Haus hatte ihn schon mit den schlimmsten Gedanken vertraut gemacht; als er nun durch Dimitry’s Bericht seine trüben Ahnungen erfüllt sah, war er tief gebeugt, aber nicht überrascht. Marie bemerkte, daß er kreideweiß wurde und seine Hacke fallen ließ; sie sprang auf ihn zu und fragte, ihm zärtlich in’s Auge blickend, was er habe.

„Folg’ mir zur Mutter in’s Haus,“ sagte er. „Ihr sollt Alles wissen. Dies hier ist mein Onkel, der mit Nachrichten von meinen Eltern kommt; er wird uns begleiten.“

Marie, innig bewegt, sprach ein paar Worte zu ihrem Vater, der sich danach bewogen fühlte, seine Arbeit einzustellen, um sich dem Heimzuge anzuschließen. Er nahm sämmtliche Hacken auf seine Schulter und ging mit Marie voraus. Alexander ließ sich willenlos von Dimitry am Arm führen, sprach aber auf dem ganzen Wege kein Wort, so viel der Onkel auch in ihn hineinredete. Marie sah sich öfter nach ihm um; die dicken Thränen standen ihr in den Augen.

Die Mutter war in der Küche beschäftigt, als der Zug zu Hause ankam. Sie legte ihre Arbeit bei Seite und trat in das reinliche Zimmer, auf dessen Tische eine Bibel lag und ein frischer Strauß Blumen stand. Dimitry begrüßte sie mit achtungsvoller Freundlichkeit, ganz erstaunt über ihre intelligenten Züge und ihr schönes, kluges Auge.

„Es thut mir von Herzen leid,“ sagte er, „daß ich als ein Bote in’s Haus komme, der keine guten Nachrichten bringt. Mein Neffe, dessen Liebe zu Eurer Tochter ich jetzt vollkommen begreife, hat seine Eltern um ihren Segen zu seiner Verbindung mit ihr angefleht; allein sein Vater, mein leiblicher Bruder, hatte schon früher anders über ihn verfügt und giebt seinen Segen zu dieser Verbindung nicht.“

„Das habe ich mir gleich gedacht und auch dem gnädigen Herrn gleich gesagt, denn es war nicht denkbar, daß ein reicher Fürst seinem einzigen Sohn erlauben werde, ein schlichtes Landmädchen zu heirathen, das in große Verhältnisse gar nicht paßt, weil es nicht dafür erzogen ist. Wenn ich trotzdem dem jungen Herrn erlaubt habe, täglich mit meiner Tochter zu verkehren und mein Haus als das seinige zu betrachten, so geschah das nur, weil ich wußte, daß ich mich auf meine Tochter verlassen konnte, und auf den jungen Herrn auch, denn ein so braver, guter Herr wie dieser ist mir noch nicht vorgekommen. Dem sieht man’s auf den ersten Blick an, daß an ihm kein falsches Haar ist; der kann keine anderen als ehrliche Absichten haben; dem kann jede Mutter ihr Kind ruhig anvertrauen. Dennoch habe ich mich oft gefragt, ob es nicht Sünde wäre, sich, wenn auch ganz schuldlos, dem Gerede der Leute auszusetzen, das nun einmal nicht zu umgehen ist, wenn ein Mann und ein Mädchen oft beisammen sind. Aber ich konnt’ es nicht über’s Herz bringen, die jungen Leute zu [292] trennen, da ich sah, daß der gnädige Herr sich gar so glücklich bei uns fühlte und lieber mit uns verkehrte, als mit seines Gleichen. Er hat ganze Stunden mit mir geplaudert, ohne daß Marie dabei war, und ich habe nicht bemerkt, daß er sich langweilte. Wenn er nicht von gar so hoher Abkunft wäre, so könnte ich mir keinen liebern Schwiegersohn wünschen, denn er liebt Marie wirklich, und sie ist ihm auch von Herzen gut; aber der Abstand ist zu groß; er versteht sie nicht und sie versteht ihn nicht.“

Der Alte nickte von Zeit zu Zeit zustimmend, als ob er sagen wollte: meine Frau spricht mir ganz aus dem Herzen; ich kann es nur nicht so klar von mir geben wie sie.

Alexander und Marie saßen wie regungslos in sich versunken; sie sprachen kein Wort.

Dimitry empfand bei den Worten der braven Frau, was er lange nicht mehr empfunden hatte: wirkliche Achtung vor den Menschen. Er hatte eigentlich gar nichts mehr zu sagen, denn alles Wesentliche war schon gesagt, und das, worauf er sich vorbereitet hatte, paßte nicht zu der Lage. Daß hier von Seiten der Eltern nichts geschehen war, was irgendwie mit eigennützigen Motiven zusammenhing, um Alexander an Marie zu fesseln, war ihm vollkommen klar, und die Worte, die er jetzt an die Mutter richtete, kamen ihm wirklich aus dem Herzen.

„Ihr seid die bravste Frau,“ sagte er, warm ihre Hand drückend, „die mir je vorgekommen; die traurige Pflicht, welche mir auferlegt ist, das junge Paar zu trennen, wird mir dadurch nur um so schwerer. Wenn ich nur die leiseste Hoffnung hätte, den harten Sinn meines Bruders zu erweichen, so würde ich Alles thun, um dies junge Paar glücklich zu machen, statt es zu trennen. Aber ich kenne meinen Bruder … da ist der Brief Deines Vaters,“ fuhr er, nach einigem Nachdenken sich zu Alexander wendend, fort, „lies und entscheide dann selbst!“

Den jungen Fürsten durchrieselte ein eisiges Schaudern beim Lesen des Briefes; er konnte ihn nicht zu Ende bringen; er hielt inne bei der Stelle, wo sein Vater den Fluch über ihn aussprach, falls er sich von der Bauerndirne nicht losreiße.

Das vierte Gebot wird von den Russen strenger gehalten als von andern Völkern; wenn Alexander sich auch nie zu seinem Vater so hingezogen fühlen konnte wie zu seiner Mutter, er war ihm doch immer ein treuer, gehorsamer Sohn gewesen. Dieser Brief aber brachte ihn ganz außer sich.

„Das hab’ ich nicht verdient“ – rief er, jäh aufspringend – „den Fluch meines Vaters hab’ ich nicht verdient um meiner Liebe willen! O Gott! o Gott! laß mich nicht wahnsinnig werden!“

Dann brach er förmlich zusammen, wie bewußtlos.

Während Marie theilnahmvoll um ihn beschäftigt war und seine Schläfen und Stirn mit Wasser kühlte, um ihn wieder zu sich zu bringen, fragte die Mutter ängstlich flüsternd Dimitry:

„Steht das wirklich im Briefe, was er da sagte? Flucht ihm sein Vater um meines Kindes willen?“

Dimitry nickte traurig, und die gute Frau brach in lautes Schluchzen aus.

Alexander kam nicht so bald wieder zu sich; sein Kopf glühte wie die Mittagssonne; er fing an zu phantasiren. Der herbeigerufene Arzt erklärte seinen Zustand für sehr bedenklich. Er wurde vorsichtig in seine Wohnung getragen; Marie und ihre Mutter wichen nicht von seinem Bett; sie wachten die ganze Nacht bei ihm. Der Arzt gab ihm nur noch wenige Tage zu leben, allein unter Marie’s Pflege lebte er noch einige Monate.

Dimitry hatte den traurigen Fall sofort seinem Bruder erst telegraphisch, dann ausführlicher brieflich gemeldet. Die zärtliche Mutter wartete den Brief nicht ab, um an das Lager ihres einzigen Sohnes zu eilen. Schon nach acht Tagen war sie bei ihm. Er kam wieder zu vollem Bewußtsein; der Fluch seines Vaters wurde von ihm genommen, nachdem derselbe seine vernichtende Wirkung schon geübt hatte. Die Fürstin, welche Marie wie ihre Tochter und deren Eltern wie liebe Verwandte behandelte, suchte Alexander durch die Hoffnung aufzurichten, daß er Marie doch noch heimführen könne; allein er schüttelte, so oft sie darauf zurückkam, traurig lächelnd den Kopf und sagte:

„Es ist zu spät, ich bin schon glücklich, daß Du bei mir bist, daß Du Marie liebst und daß Ihr Beide mich pflegt. Mit meinem Leben ist’s aus, aber die Hand der Liebe wird mir die Augen zudrücken.“

Die gute Fürstin begriff vollkommen, warum ihr Sohn sich bei dem Mädchen von Liebenstein so glücklich gefühlt hatte; sie hatte daheim in ihrem prachtvollen Schlosse so gute Tage nicht gesehen wie Alexander in Marie’s Hause.

Sie erfüllte auch den letzten Wunsch des Sterbenden, in Liebenstein begraben zu werden, und versprach ihm aus freien Stücken, jedes Jahr nach Liebenstein zu kommen, um an seinem Grabe zu beten und frische Blumen darauf zu pflanzen. –

Sie hielt Wort.

Als sie das erste Mal wieder kam, geschah es in Begleitung ihres Gemahls, den der Tod seines einzigen Kindes tiefer erschüttert hatte, als man bei dem rauhen Manne erwartet haben würde. Allein eine innere Stimme rief ihm zu: „Du bist der Mörder Deines Sohnes!“ Und dieser Vorwurf drückte ihn, bis er ihm das Herz zerdrückt hatte. Er vermachte in seinem Testamente große Summen den Findel- und Waisenhäusern in Moskau und Petersburg und gedachte reichlich der Armen.

Als die Fürstin zum zweiten Male wieder kam nach Liebenstein, kam sie als Wittwe. Sie brachte reiche Geschenke mit für Marie und ihre Eltern, die solche annahmen und – wie Alles, was sie schon früher von Alexander erhalten hatten – bei Seite legten und aufbewahrten wie geheiligte Dinge, die gar nicht zu ihnen gehörten. Marie war nie zu bewegen gewesen, von den Schmucksachen, welche Alexander ihr geschenkt hatte, etwas Anderes zu tragen als ein goldenes Kreuz mit dem Bilde des Heilandes; die goldene Kette ließ sie ablösen und trug das Kreuz an einer schwarzen Schnur am Halse.

Eines Tages ließ sich bei der Fürstin ein junger, sehr schmuck aussehender Mann melden, der sie sehr verlegen und bewegt um ihre Vermittelung bei Marie bat, die er leidenschaftlich liebe und der er auch früher, bevor sie den jungen Fürsten gekannt, nicht ganz gleichgültig gewesen sei. Allein damals habe er nicht gewagt um sie zu werben, weil ihm noch die Mittel zum Heirathen gefehlt hätten, und später habe ihn ihr Verhältniß zum Fürsten und ihre Trauer um seinen Tod von ihr ferngehalten. Inzwischen sei er aber durch Fleiß und Glück in sehr behagliche Verhältnisse gekommen und würde ganz glücklich sein, wenn es ihm gelänge ihre Hand zu erhalten, denn ein braveres Mädchen als die Marie lebe im ganzen Thüringer Lande nicht.

Die Fürstin versprach ihre Vermittelung. Marie’s Zustimmung war schwer zu gewinnen, aber ehe der Herbst in’s Land kam, wurde sie gewonnen, denn der junge Mann war ihr in der That nicht gleichgültig.

Als die Fürstin zum dritten Mal seit dem Tode ihres Sohnes nach Liebenstein kam, veranstaltete sie selbst die Hochzeitsfeier des hübschen Paares, das sie gar zu gern mit sich nach Rußland auf ihre Güter genommen hätte. Allein Marie wollte ihr theures Liebenstein mit dem geheiligten Grabe und ihre Eltern nicht verlassen.

Ich begegnete ihr vor einigen Tagen, als sie an der Seite ihres Mannes von dem Grabe des todten Freundes kam, das sie mit frischen Blumen geschmückt hatte. Sie trug auf dem Arme einen allerliebsten Jungen und sah selbst noch ganz mädchenhaft aus. Ich blieb vor ihr stehen, streichelte dem Jungen die Wangen und fragte: „Wie heißt der Kleine?“

Und sie küßte das Kind und sagte: „Alexander.“