Das Klootschießen, ein ostfriesisches Wintervergnügen

Textdaten
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Autor: W. Lülling
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Titel: Das Klootschießen, ein ostfriesisches Wintervergnügen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 66–68
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Klootschießen, ein ostfriesisches Wintervergnügen.

Die in anderen Gegenden unseres Vaterlandes oft so stille Winterzeit bringt für Ostfriesland und die angrenzenden Küstenländer, namentlich die Jever- und Butjadingerlande, Tage des regsten Lebens und Treibens. Besonders stark entfaltet sich dasselbe, wenn die Erde hart gefroren und der Schnee fern geblieben ist. Nimmt man dann eins der vielen Provinzial- und und Localblätter zur Hand, so begegnet Einem fast unter jeder Localnachricht das Wort „Klootschießen“.

Verirrt sich nun ein solches Zeitungsblatt einmal zu den Bewohnern des inneren Landes, so wird ob der Bedeutung des [67] Wortes wohl regelmäßig der Kopf geschüttelt. Weder Meyer noch Brockhaus kennen dieses Wort in ihrem Lecicon, und nur ein Ostfriese, ein echter Ostfriese kann hierüber Auskunft geben; denn nur er weiß das Wintervergnügen seiner Brüder mit dem nöthigen Feuer zu schildern, und höher wird ihm das Herz schlagen, wenn er der heimathlichen Gebräuche gedenkt. Er war selber, wenn nicht als Mann, so doch als Jüngling oder Knabe dabei, wie diese Kämpfe ausgefochten wurden, und war er auch nicht selber beim Wettkampf betheiligt, so hat er wenigstens sein „Hurrah“ bei jedem Siegeswurf kräftig mit erschallen lassen.

Wenn überall der Boden hart gefroren ist und die ganze Marschebene sozusagen eine felsenharte Tafel bildet, dann ist der Zeitpunkt des Klootschießens gekommen. Mit Spannung sieht man in jedem Dorfe, in jeder Stadt diesem Augenblick entgegen, und tritt endlich der kahle Frost ein, so jubelt jeder Mund; denn nicht allein die jüngere Generation, sondern auch die älteren Leute nehmen Theil an dieser Lust.

Wie im Wirthshause, so ist in der Familienstube „Klootscheeten“ die einzige Unterhaltung; Erinnerungen aus längst vergangener Zeit steigen wieder auf und werden zum Besten gegeben. Da freut sich mit der alten die jüngere Welt über Vaters oder Bruders Kunst- und Glückswürfe und empfindet noch das Hochgefühl des Sieges nach. Wetten und Herausforderungen werden besprochen. Nicht allein, daß sich in einem Orte gegenseitig die Kräfte im „Klootschießen“ messen, nein, Dorf gegen Dorf, Gemeinde gegen Gemeinde, selbst ganze Amtsbezirke ziehen gegen einander zu friedlichem Streit.

Was ist denn aber das „Klootschießen“? Die kurze Antwort lautet: ein Werfen mit faustgroßen Kugeln von hartem Holze, durch welche kreuzweise Löcher gebohrt, die wieder mit Blei gefüllt sind, sodaß die Kugeln etwa ein bis eineinviertel Pfund wiegen.[1] Sehen wir uns nun einen derartigen Wettkampf zwischen zwei Dörfern an! Selbstverständlich geht ihm die übliche Herausforderung voraus. In einer Dorfschenke finden wir an geeignetem Tage sechs stämmige Burschen, Abgesandte eines benachbarten Ortes, die sich rund um den Herd, das offene zu ebener Erde brennende Feuer, gesetzt haben, sich häufig räuspern und noch häufiger in die Flammen spucken, als sei ihnen das Feuer im Wege und versuchten sie es zu löschen; der am Feuer stehenden zinnernen Deckelkanne mit dem beliebten „Heet utt söt“, einem mit Zucker und Kanel oder Syrup und Ingwer gekochten leichten Biere, wird dabei kräftig zugesprochen.

Hin und wieder fällt ein Wort, welches auf ungeduldiges Warten schließen läßt. Endlich kommen neue Gäste – die jungen Burschen aus dem Orte selbst. Mit Windeseile ist ihnen die Botschaft zugetragen worden, daß Abgesandte da sind, „üm tom Klootscheeten uptoföddern“. Nach kurzem Gruß setzen sie sich zu ihrer Kanne „Heet un söt“.

Seitwärts blickend mustern sich die Jünglinge gegenseitig, bis endlich einer der auswärtigen aufsteht, mit gravitätischem Ernst in die tiefe Hosentasche fährt und die Kugel mit den Worten: „Wie hangt de Kloot up,“ das heißt: „wir fordern Euch zum Klootschießen heraus“, vor den Anderen auf den Tisch legt.

Bis dahin war so ziemlich Alles in größter Gemüthsruhe verlaufen; jetzt aber kommt Leben in die Gesellschaft; es erfolgt ein kurzes, leises Geflüster; dann ergreift einer der Dorfjünglinge die Kugel, und die Worte: „Wie nehmt de Kloot up,“ das heißt: „wir nehmen die Herausforderung an“, lösen den Bann der Zungen. Im Hause und außerhalb desselben, wo die liebe Dorfjugend schon mit kaum bezwingbarer Sehnsucht das Resultat erwartete, wird’s lebendig und „Juchhes und Hurrahs“ verkünden den zu Hause Harrenden, daß morgen geworfen wird.

Die Bedingungen, wie schwer die Kugeln sein sollen und um welchen Preis geworfen werden soll, sind bald vereinbart. Schwere Kugeln, einundeinviertelpfündige, werden ausgemacht, und der Preis beträgt jederseits zehn Reichsthaler. Heftiger Kampf aber entbrennt um die Zahl der Werfenden; denn das eine Dorf kann nur zwei geübte „Klootscheeters“ stellen, während das andere drei aufzuweisen hat. Heftig wird disputirt und den Worten durch wuchtige Faustschläge auf den Tisch Nachdruck gegeben. Einige Kannen Warmbier besiegeln endlich den Vertrag auf drei Personen, die von Dorf zu Dorf, die „Kloote“ hin- und zurückwerfend, den Kampf entscheiden sollen.

Der festgesetzte Tag bricht an! Früh sind schon Jung und Alt auf den Beinen, um ja rechtzeitig auf dem Kampfplatze zu erscheinen.

Der Ort, von dem aus der Wettstreit beginnen soll, wird mittelst Spaten und Hacke geebnet und eine lange Strohmatte daraufgelegt. Durch untergelegte Säcke wird dieselbe an dem einen Ende angemessen erhöht, um den Kämpfenden beim Werfen eine feste Stütze zu geben und ein Ausgleiten zu verhindern.

Eine große Menschenmasse, zu der die liebe Jugend ein Hauptcontingent stellt, ist versammelt, und manche Wette, das Resultat des Kampfes betreffend, wird noch gemacht.

Da trilt allgemeines Stillschweigen ein! Die Kämpfenden sind in Positur getreten, und die Schlacht, von der die Ehre des ganzen Dorfes abhängig ist, beginnt. Der erste Klootschießer holt jetzt weit aus, nimmt einen kräftigen Anlauf und wirft dann mit aller Leibeskraft, nachdem er den Arm auf’s Schnellste im Kreise geschwungen hat, die Kugel von sich. Mit ungeheurer Kraft saust diese eine gewaltige Strecke durch die Luft, trifft dann den harten Boden, schnellt kräftig wieder auf und hüpft eine Weile vorwärts, um rollend noch eine tüchtige Strecke vorwärts zurückzulegen.

Vom „Bahnwieser“ (Pfadzeiger) wird die beim Werfen einzuschlagende Richtung durch einen emporgehaltenen Stock angegeben und gleichzeitig eine ausgemachte Stelle für das Niederfallen der Kugel angedeutet. Schlägt die Kugel an der angezeigten Stelle auf, so rollt sie noch eine gute Strecke weiter fort, fehlt sie aber diese Stelle, so bleibt sie manchmal liegen, und viel Mühe kostet es, den Fehlwurf später wieder auszugleichen. Dort, wo die Kugel zur Ruhe kommt, legt der „Stockleger“ seinen Klutenstock nieder und bewacht die Kugel, damit sie nicht verschoben werde.

Hierher! Hålwêr! (hole wieder) schreit der Bahnzeiger der andern Partei, und der zweite Werfer tritt vor. Nach verschiedenen blinden Anläufen macht er endlich den wahren Anlauf, beschreibt mit dem kugelbeschwerten Arm eine Kreislinie, und in einer Entfernung von fünfzig bis sechszig Schritt fällt die Kugel auf eine glattgefrorene Fläche nieder und hüpft und rollt noch ein großes Stück vorwärts. Ein nicht enden wollender Jubel seiner Partei bricht los; denn um einige Schritte liegt die Kugel der anderen vor. Der zweite Mann beider Parteien thut nun seine Schuldigkeit, indem er die Kugel seines Vordermannes, dort wo dieselbe liegen geblieben, aufnimmt; er wirft sie nun weiter, nachdem Matte und Säcke am neuen Wurfplatze wieder ausgebreitet und der Bahnzeiger sich aufgestellt hat. Ihm folgt der Dritte. Während dessen stärken sich diejenigen, die bereits theilweise ihrer Pflicht nachgekommen sind, mit einer kraftigen Mettwurst und einem herzhaften „Doorekaat“ (Schnaps aus der J. ten Doorekaat’schen Fabrik in Norden).

So geht es ohne große Unterbrechung fort bis zum nächsten Dorfe. Jetzt wird, nach eingenommener Stärkung, wieder zurückgeworfen. Die Werfer nehmen nun den Kloot der Gegenpartei auf und werfen von dem Punkte aus, wo derselbe lag, wodurch der Vorsprung der Partei, welche mit dem Werfen begonnen hat, für die andere Partei wieder ausgeglichen wird.

Die Kraft, mit welcher die Klootschießer werfen, ist so wuchtig, daß sie häufig durch den Schwung zu Boden stürzen und Mancher sich dadurch schon erheblichen Schaden zugefügt hat. Daher sind auch stets Leute bestimmt, die den Klootschießer vor gefährlichem Niederstürzen zu bewahren und aufzufangen suchen. Häufig haben die Werfenden ihre Füße nur mit Strümpfen bekleidet, um leichten Schritt zu haben, und legen, um in ihren Bewegungen nicht behindert zu sein, die Oberkleider ab. Sofort nach dem Wurfe werden dem Schweißtriefenden vor Erkältung schützende Pelzmäntel oder warme Decken umgehangen; man stülpt ihm eine Pelzkappe auf und versorgt ihn auch mit weiten Schuhen. Jeder herrliche Wurf wird mit lautem Jubel und Hurrah begrüßt, ja, der Werfer wird mit den freudigsten Umarmungen und Händedrücken belohnt. Unaufhörlich werden die Kämpfer durch ihre Partei angefeuert, gebeten und geliebkost, doch die Ehre zu retten. Jeder matte und verfehlte Wurf aber wird mit Unwille und Schelten von der eigenen, mit Hohn und Gelächter von der anderen Partei begleitet. Wer zuerst und mit den

[68] wenigsten Würfen am Ausgangspunkte wieder angelangt ist, und wär’s nur um den Raum einer Spanne, der ist Sieger.

Wie schon gesagt, ist es vor Allem um die Ehre des Sieges zu thun; denn der Siegerpreis ist meistensts bis zur Beendigung des Kampfes schon darauf gegangen. – Gewöhnlich sind die Kämpfer die Söhne der Bauern oder diese selbst, und erst wenn diese keine tüchtigen Werfer aus ihrem Kreise stellen können, kommen auch Andere an die Reihe. Abends krönt dann ein großes Siegesgelage in irgend einem Gasthofe die Freude des Spieles. Der Sieger ist der Held des Tages und Abgott Aller. Spät nach Mitternacht kehrt die Gesellschaft heim, und Alle meinen einstimmig: „Es ist doch ein herrliches Vergnügen, das Klootschießen, und so bald wie möglich soll’s wiederholt werden.“ W. Lülling.     


  1. Das Wort Kloot ist gleichbedeutend mit dem hochdeutschen „Kloß“. Erdklöße heißen plattdeutsch auch „Kluten“, und damit zusammenhängend werden Mehlklöße an der Elbe „Kluten“, an der Weser „Klûtjen“, in Ostfriesland „Klüiken“ genannt.