Textdaten
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Autor: K.
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Titel: Das Kellnertrinkgeld
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 418–419
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Kellnertrinkgeld.

Es sind schon oft Betrachtungen darüber angestellt worden, daß der Kellner eine unglückliche Mittelstellung in unserem sozialen Gefüge einnehme. Täglich, oft ausschließlich bewegt er sich in einer Welt, von der er gesellschaftlich geschieden ist, zwischen Menschen, denen er auch bei regelmäßiger Berührung meist fremd bleibt; in der Kleidung und mit den äußeren Formen der feinen Gesellschaft, mit der Fähigkeit, die eigene und oft auch mehrere fremde Sprachen ziemlich richtig zu gebrauchen, gehört er doch dem Stande der Lohnarbeiter an oder schwebt vielmehr zwischen diesem und den oberen Klassen in der Mitte. Sein Beruf legt ihm in der Regel den Junggesellenstand auf und selbst der Ehemann wird dem Familienleben entzogen. Seine Tages- und Lebensordnung ist derjenigen anderer Menschen gerade entgegengesetzt; seine Arbeit häuft sich am meisten auf die Stunden und Tage, wo andere sich von des Tages und der Woche Last erholen, seine Erholung beginnt oft erst um Mitternacht, sein Sonntag, wenn er überhaupt einen bewilligt bekommt, fällt mitten in die Woche.

Daß alle diese Einflüsse das Los des Kellners zu einem keineswegs beneidenswerthen gestalten, ist begreiflich, und sie wirken um so schärfer, als es unter den heutigen Verhältnissen den wenigsten mehr möglich ist, mit der Zeit sich selbständig zu machen und zur Würde des Wirths emporzusteigen. Der eigentliche Krebsschaden aber, an dem die Stellung der Kellner unter ihren Mitmenschen leidet, ist das abscheuliche Trinkgelderwesen. Es wirft einen dunklen Schatten auf den ganzen Erwerbszweig, den zu lichten und endlich ganz zu beseitigen eine ernste Aufgabe nicht bloß der Kellner selbst, sondern auch des Publikums bleibt.

Daß anständige Leute, die nicht nur ebenso schwer arbeiten wie andere, sondern härter, im hellen 19. Jahrhundert dazu verurtheilt werden, ihr ganzes Einkommen in geschenkten Fünf- und Zehnpfennigstücken von Dutzenden fremder Leute täglich einzusammeln und bei jedem Metallstückchen ihr „Vergelt’s Gott“ zu sagen, weil angeblich der Wirth so besser seine Rechnung findet, ist ein Ueberrest so krasser Barbarei, daß wir an sein Dasein ohne den täglichen Augenschein nicht glauben würden. In der That lebt der Kellner in der Regel fast ausschließlich vom Trinkgeld. Die 10 oder 20 oder 30 Mark, die er als Monatsgehalt bekommt, werden schon durch die vielen Lohnabzüge, die er sich gefallen lassen muß, oft fast auf Null heruntergebracht; da sind die Abzüge für zerbrochenes Geschirr, für das der Kellner in der Regel aufzukommen hat; da sind die Abgaben, die er für Besoldung des Hilfspersonals zu zahlen, und die weiteren, die er in die Kasse des Wirths für Verabfolgung der Bonbücher zu entrichten hat, deren abzutrennende Blätter (Bons) dem Kellner bei Entnahme der Speisen am Büffett als Zahlung dienen. Was ihm an Gehalt dann wirklich ausbezahlt wird, kann auch nicht annähernd hinreichen, um nur die Ausgaben für Wäsche, Frack und Stiefelsohlen zu bestreiten. Ein Beispiel: ein Berliner Wirth beschäftigt 25 Kellner bei einem Monatsgehalt von je 15 Mark, also auf den Tag 50 Pfennig; von dieser Summe gehen ab: für den Serviettenleger täglich 15 Pfennig, für den Messerputzer täglich 10 Pfennig, für Menagenreinigung täglich 10 Pfennig und für jedes Bonbuch noch einmal 10 Pfennig. Ein anderer großer Berliner Gastwirth zahlt monatlich 10 Mark, hiervon ab: 4 Mark 20 Pfennig für den Hausdiener, 2 Mark 16 Pfennig für die Krankenkasse, 1 Mark 40 Pfennig für den Ersatzkellner, 10 Pfennig für jedes Bonbuch und neuerdings noch einen Beitrag für die Altersversicherung. Und wenn solche Fälle immerhin Ausnahmen sein mögen, so giebt es um so mehr andere, in denen überhaupt kein Lohn gezahlt wird, und jedenfalls kommt die Lohnzahlung seit Jahrzehnten immer mehr aus der Mode. „In Berlin,“ heißt es, „wird es nachgerade Sitte, daß der Kellner beim Antritt einer Stellung nach dem Lohn gar nicht mehr fragt.“ Ja es kommt hie und da das „Pariser System“ in Aufnahme, wonach der Kellner an den Wirth noch einen Pacht abgiebt, wie beispielsweise in Hannover der Inhaber eines Gasthofs und einer Wirthschaft sich von den Trinkgeldern jedes Kellners täglich je eine Mark herauszahlen läßt.

Wer einen Maßstab dafür besitzt, welche Rolle im täglichen Leben des Durchschnittsmenschen der Erwerb spielt, wird hiernach ermessen können, was die Ausdehnung des Trinkgelderwesens bedeutet. Die Trinkgelderstimmung ergreift den ganzen Menschen. Sie steigert den Erwerbstrieb bis zu krankhafter Höhe und schafft den Typus des Trinkgeldjägers. Sie gefährdet die Kameradschaftlichkeit zwischen Kellnern eines und desselben Geschäfts, die – trotz der abgegrenzten „Reviere“ – einander ins Gehege kommen; es ist unter den Kellnern sprichwörtlich: zwei Freunde sollen nicht in demselben Hause Stellung nehmen. Sie erzieht zum Lakaiensinn, reizt aber zugleich das Gefühl der sozialen Ungleichheit. Das Entwürdigende dieses Verhältnisses wird auch in den Kreisen des Wirthschaftspersonals selbst empfunden; der Koch, der schon als „Künstler“ auf den Kellner herabsieht, mißachtet diesen auch deshalb, weil er kein festes Gehalt bezieht; das Küchen- und Kellerpersonal, ja selbst der Hausknecht steht weit eher zum Wirth in einem Vertrauensverhältniß als der Kellner und wird zur Spionage gegen die Kellner mit Einschluß des Oberkellners ausgebeutet. Die Unregelmäßigkeit der Trinkgeldernte macht dem Kellner eine geordnete Wirthschaftsführung fast unmöglich; der mitunter mühelose und reichliche Erwerb verführt zur Verschwendung und namentlich zum Spiel, zumal bei denjenigen Kellnern, die das üble Beispiel täglich vor Auge haben. [419] Und wirkt schließlich das Trinkgeld nicht auch auf den Geber und auf unsere gesellschaftlichen Zustände entsittlichend, indem es den Gast an eine Schroffheit des Kommandierens und an eine rücksichtslose Ueberhebung gewöhnt, die auf keiner andern Berechtigung ruht als auf der des Geldbeutels?

Dem angespanntesten Scharfsinn wird es nicht gelingen, den Grund zu entdecken, warum die pünktliche Bedienung des Besuchers eines Speisehauses nothwendig das Trinkgeldsystem erfordert, die Bedienung der Käufer in einem beliebigen Laden aber nicht. In England und Nordamerika ist in der That im Gastwirthschaftsgewerbe das Trinkgeldwesen im weitesten Umfange unbekannt. Welche Bedeutung für die Volksgesittung müßte es haben, wenn die Beseitigung des Trinkgelds auch in Deutschland gelänge!

Die große Schwierigkeit liegt nur in dem Uebergang vom Alten ins Neue. Aber es regt sich glücklicherweise seit Jahrzehnten eine Bewegung zum Besseren, welche die Ueberwindung dieses Uebergangshindernisses versucht, und zwar will sie zunächst in den Gasthöfen die Trinkgelder abschaffen. Im Gasthof ist die Reform nämlich etwas leichter, weil der Gasthauskellner schon jetzt nicht so ausschließlich auf Trinkgelder angewiesen ist wie der Gastwirthschaftskellner. Die Kellner selbst stehen der Neuerung vielfach noch mit einem begreiflichen Mißtrauen gegenüber, aber die Stimmung scheint sich allmählich zu wenden. Der entscheidende Anstoß muß jedenfalls von den Wirthen selbst ausgehen. Der „Internationale Verein der Gasthofbesitzer“, der die meisten großen deutschen Gasthofbesitzer zu Mitgliedern zählt, hat es unlängst in die Hand genommen, die öffentliche Meinung für einen so folgenreichen Fortschritt zu bearbeiten. Derartige Bestrebungen von Gastwirthsvereinigungen reichen freilich schon weit zurück, mindestens bis ins Jahr 1842; sie haben manches Fiasko erlebt, die unglückselige Einführung der „Service“-Berechnung ist ein trauriges Zeugniß dafür. Aber es giebt boch eine immerhin stattliche Reihe von Gasthöfen, die mit dem Trinkgeldsystem nicht nur gebrochen haben, sondern größtentheils auch mit den erzielten Erfolgen seit Jahren und Jahrzehnten sehr zufrieden sind. Es sind fast ausschließlich die besseren und besten Häuser, die mit solchen Versuchen vorgehen, wie ja überhaupt die großen Reformen überall von einzelnen Großbetrieben zuerst ins Werk gesetzt zu werden pflegen. Der Verfasser einer kürzlich erschienenen kleinen Schrift („Der Kellnerberuf, eine soziale Studie“. Von Dr. K. Oldenberg. Leipzig 1893, Verlag von Duncker und Humblot), an die diese Ausführungen sich anlehnen, hat es sich angelegen sein lassen, eine Reihe von Aeußerungen der betreffenden Besitzer über ihre Erfahrungen zu sammeln. Es zeigt sich dabei, daß das Verfahren der Trinkgeldablösung außerordentlich verschieden sein kann. Am zweckmäßigsten ist wohl dasjenige, welches ein ehemaliger Kellner Hartmann als Direktor des Hospizes der Berliner Stadtmission seit zwei Jahren eingeführt hat; den Gästen wird ein fester Prozentsatz ihrer ganzen Hotelrechnung (5 bis 15%, je nach der Dauer des Aufenthalts etc.) als Trinkgeldvergütung mit der dringenden Bitte angekreidet, keine weiteren Trinkgelder an irgend einen Bediensteten zu zahlen; dafür bekommen Pförtner und Oberkellner, die früher ohne Gehalt angestellt waren, jetzt monatlich je 250 Mark, Kellner statt 20 jetzt 75 und 100 Mark etc., nebst freier Station. Hier waren alle Angestellten sofort mit der Neuerung einverstanden; anderwärts waren sie es zwar zu Anfang nicht, wie im „Habsburger Hof“ zu Innsbruck; aber „nach einigen Wochen schon,“ so berichtet der Besitzer, „zeigte es sich, daß die Gäste dem Personal gegenüber ein ganz anderes Benehmen an den Tag legten; dem ehemals oft so schroffen und demüthigenden Tone hatte die Freundlichkeit Platz gemacht, und das Personal benahm sich wohl nicht mehr so unterwürfig und, wie es oft der Fall war, kriechend, sondern aufmerksam und zuvorkommend, wohl wissend, daß es im eigensten Interesse gelegen ist, wenn das Haus viele Gäste hat.“ Von der Zufriedenheit des Publikums wird auch sonst berichtet, zum Theil in den lebhaftesten Ausdrücken, und einige Wirthe räumen selbst ein, wie gut sie sich dabei stehen. So schreibt der Besitzer eines Hotels in Hannover, der schon seit 1874 die Trinkgelder abgeschafft hat: „Ich habe durch diese Einrichtung einen das ganze Jahr fortlaufenden regelmäßigen Fremdenverkehr, da jeder Fremde, welcher einmal von der Annehmlichkeit profitiert hat, unterwegs auf der Eisenbahn und in seiner Heimath über die Sache spricht und auf diese Weise Propaganda für mich macht.“

Nach den gegenwärtigen Aussichten ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Reformbewegung weitere Kreise zieht. Gerade unter den in ihrem Stande angesehensten und einflußreichsten Wirthen fehlt es ihr nicht an Freunden, und sobald es erst einmal für vornehm gilt, Trinkgelder zu verpönen, hat die Reform gewonnenes Spiel. Unter den Kellnern selbst neigt gerade das jüngere Geschlecht eher dem Gehaltssystem zu, und die Generationen wechseln rasch im Kellnerstande. Der ausschlaggebende Thell wird dann das reisende Publikum sein. Das Publikum soll die Reform dadurch unterstützen, daß es in den Häusern, welche das Trinkgeld abgeschafft haben, auch wirklich keines anbietet und daß es etwaige Unbequemlichkeiten des Uebergangs nachsichtig beurtheilt. Man darf überzeugt sein, daß auf die Dauer der Gast gut dabei fährt, wenn er von Männern bedient wird, die etwas mehr Selbstachtung und Rückgrat haben, als dies bei unseren heutigen Kellnern zumeist der Fall ist. Diese Zeilen wollen nicht zum wenigsten dem Zwecke dienen, für die Sache zu werben. Man mache für die Reform Stimmung; man nehme auch die Gelegenheiten wahr, die Meinung von Kellnern und Wirthen über die Frage zu erfahren. In einzelnen Fällen können auch die Gäste von sich aus vorgehen; Tischgesellschaften oder Vereine, die den Kellnerdienst regelmäßig in Anspruch nehmen, überhaupt Stammgäste können sich mit den Kellnern über eine monatlich zu zahlende Bauschsumme einigen, zunächst versuchsweise. Dergleichen Einrichtungen würden den Uebergang zum reinen Gehaltssystem erleichtern und nahelegen.

Die Beseitigung des Trinkgelds würde für den Kellnerstand einen großen Schritt vorwärts bedeuten. Manches bleibt immer noch zu thun, insbesondere wird sich auch die Gesetzgebung noch mit der Begrenzung des Arbeitstags und der Sonntagsruhe der Kellner demnächst zu beschäftigen haben. Aber ein Anfang wäre immerhin gemacht und ein Mißton aus der Welt geschafft, der dem sinkenden 19. Jahrhundert nicht zur Ehre gereicht. K.