Textdaten
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Autor: Hermann Harry Schmitz
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Titel: Das Denkmal Noahs
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aus: Buch der Katastrophen. S. 130–139
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Kurt Wolff Verlag
Drucker: L. C. Wittich
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Princeton-USA* und Commons
Kurzbeschreibung:
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[130] Das Denkmal Noahs

Und es geschah, daß uralte Männer zusammensaßen und tagten. Sie tagten schon viele, viele, viele lange Jahre, und ihre Bärte waren durch den Tisch, sogar bereits durch den Fußboden in den Keller gewachsen.

Urgroßväter hatten bereits in ihrer Jugend in vergilbten Chroniken gelesen von diesen uralten Männern, wie sie von alters her tagten, wie Generationen kamen und gingen, Geschlechter ins Grab sanken und die uralten Männer blieben und tagten.

Und wenn das Volk von den uralten Männern sprach, so wurden die Stimmen leise von Ehrfurcht, und ein heiliges Schauern überlief die Gesichter.

Und niemand wußte, von wannen die uralten Männer kamen und was ihre Verrichtung und Bestimmung war, und darum nannte man sie das Komitee.

Vor dem Gebäude aber, in welchem die uralten Männer tagten, standen viele Reihen knorriger Bäume. Und an jedem Baum hing ein gebleichtes Skelett, und am Fuße fast jeden Baumes kauerten andere Skelette, große und kleine. Hier vier, dort sechs, an einem andern Baum gar zwölf. Je nachdem. Nur an einigen wenigen Bäumen kauerte nichts.

Und in den gekrampften Händen der aufgehangenen Skelette hatte man vergilbte, beschriebene Papierfetzen gefunden, die von klugen Schriftgelehrten als Pfändungsprotokolle wegen unbezahlter Gipsrechnungen erkannt wurden. Weise Deuter der Kranioskopie hatten die [131] Schädel für die von Bildhauern und Architekten erklärt.

So hatten die Urgroßväter in ihren Chroniken gelesen und es staunenden Urenkeln an manchem Winterabend erzählt, wenn der Sturm um das Haus heulte und mit den Fensterläden und den Dachziegeln spielte.

„Selbstmörder, Selbstmörder, klapper, klapper! Ließen Weib und Kind und Eltern im Stich, mußten verhungern, mußten verhungern, klapper, klapper!“ sang es, wenn der Wind die Knochen aneinanderschlug. Und das Volk floh voller Entsetzen diesen gräßlichen Ort.

Die uralten Männer aber tagten unentwegt, unentwegt.

Und über der Zeiten Lauf war der Sekt trocken und wieder süß und wieder trocken geworden vor Langeweile.

Neben dem Raum aber, wo die uralten Männer tagten, war ein großer, weiter Saal, wohl etwa fünfhundert Meter im Geviert. Darinnen standen gar seltsame Dinge. Einen überaus eigenartigen Anblick bot dieser Saal.

Aha, ah so, Fachausstellung des Konditorei- und Zuckerbäckergewerbes! würde der oberflächliche Laie sofort gesagt haben. Und nicht mit Unrecht, denn die Gebilde, die hier in Reihen aufgestellt waren, mochten wohl auf den ersten Blick wie große bizarre Torten aus weißem Zuckerguß, wie sie die Festtafel des reichen Mannes zieren, erscheinen.

Aber, o Laie, o Tor! Mit nichten war dieses eine Fachausstellung dieser Art, sondern eine Ausstellung von Denkmalsentwürfen in Gips, Gips, Gips, Duliöh. Es [132] hieß ein Denkmal errichten: das war der uralten Männer Zweck und Sinn.

Aber die Erkenntnis über Zweck und Sinn ihres Sitzens hatte der Strom der Zeiten verwischt.

„Warum sitzen wir uralten Männer hier? Ich weiß nimmermehr, warum ich hier sitze und meinen Bart durch den Tisch wachsen lasse. Ich weiß es nicht!“ So hub einer der uralten Männer, nachdem während der letzten hundert Jahre alle brütend geschwiegen hatten, zu klagen an, und eine Träne rann ihm aus dem linken Augenwinkel auf den Gehrockaufschlag.

„Ja, warum sitzen wir hier unentwegt, unentwegt, wir uralten Männer?“ jammerte ein anderer.

„Wir beraten, wir beschließen, wir entscheiden,“ klang es dumpf und schwer vom Kopfende des Tisches.

„Wir beraten, wir beschließen, wir entscheiden,“ echote das Gemurmel der Versammelten.

Dann tiefes Schweigen wiederum wohl an die hundert Jahre.

„Worüber wollen wir beraten, beschließen, entscheiden?“ konnte sich der vorlaute uralte Mann von vorhin nicht enthalten zu fragen. „Worüüüüber?“ Der Arme wand sich in den schrecklichen Qualen einer geängstigten Seele.

Keine Antwort. Und weitere hundert Jahre fraß Kronos.

„Noch immer gab mir keiner Antwort auf meine Frage: worüber wir beraten, beschließen, entscheiden wollen!“ ließ sich wieder die Stimme des grübelnden, uralten Mannes vernehmen.

[133] „Wir sind das Komitee,“ rang es sich einstimmig aus der Runde Mund, und wieder tiefe Stille wie zuvor.

Abermals sanken viele, viele Jahre in das Meer der Ewigkeit.

„Man sollte in den Zeitungen nachschauen, warum wir hier sitzen. In den Zeitungen, den Zeitungen!“ Eine hohe zirpende Stimme stach urplötzlich in das dumpfe Grau der Lethargie. Fast wie eine Erlösung war es.

„In den Zeitungen, Zeit … Zeit … Zeit … ungen … ungen … ungen … ungen, Z … Z … Z …,“ wisperte, zischte, flüsterte, raunte es durch den Raum.

Aber o, über die Unwissenden, die Unklugen! Die uralten Männer wußten nicht, daß in der Welt da draußen, in den chaotischen Umwälzungen des Werdens und Vergehens die Kenntnis der Buchdruckerkunst wieder verloren gegangen war. Wußten nicht, daß der letzte Journalist, natürlich ein Berliner, im britischen Museum in Spiritus aufbewahrt wurde.

Ja, ja, das waren andere Zeiten damals, was, ihr uralten Männer? Als ihr noch Springinsfelde waret, zu beraten begannet und wußtet noch, worüber. Was, ihr uralten Männer?

799658317 Journalisten hatten ihre Lebensarbeit der hehren Tätigkeit des Komitees gewidmet und viele weise Worte, die Zeile à 30 Pfennig zum Lobe, etzliche indessen auch zum Unlobe der uralten Männer und ihres Beginnens geschrieben.

„Es müßte einer auf die elektrische Schelle drücken, damit man Zeitungen herbeischafft, schafft, schafft … afft … fft … t,“ meinte einer uraltklug.

[134] „Wir sind angewachsen. Niemand von uns kann auf den Knopf drücken,“ klang es wie ein hoffnungsloser Jammer aus aller Mund.

Und abermals kroch ein hundertjähriges Schweigen über die uralten Männer.

„Ich muß austreten, austreten,“ stöhnte es plötzlich vom unteren Ende des Tisches, und die uralten Männer schreckten auf und schauten ihn an, der also gesprochen und nun verlegen vor sich hin sah. Und wie ein Blitz kam die Erkenntnis über alle, daß sie alle austreten müßten, und es war eine große Not unter den uralten Männern.

Da aber geschah es, daß Genoveva aus Schneidemühl der Verzweiflung der uralten Männer gewahr wurde, und sie kam spornstracks herbei und befreite mit mildem Augenaufschlag und einer Schere, ritsche, ratsch, die Unglücklichen.

Und sie gelangten von ungefähr in den Saal von etwan fünfhundert Metern im Geviert, darinnen die seltsamen Dinge aufgestellt waren, und sie fürchteten sich sehr und gingen scheu wieder zurück und setzten sich an ihren Tisch.

Und der uralte Mann, der zu Häupten des Tisches saß, blätterte verloren in den leeren Konzeptpapierbogen, die vor ihm lagen; doch plötzlich weitete sich sein Blick, seine Brust hob und senkte sich voller Erregung, und er wies stumm in heiligem Erbleichen auf ein Blatt, auf dem die vorgedruckten Karrees mit Bleistift nachgefahren waren, das mit wirren Bleistiftschnörkeln bedeckt war und auf welchem in gesuchter Schönschrift viele Male das Wort „Denkmal“ geschrieben stand.

[135] „Wir wissen, warum wir sind und was unser Zweck, unsere Bestimmung ist. Das Denkmal, das Denkmal!“ schrieen wie aus einem Munde die uralten Männer. Und ihre Augen leuchteten, und ihre Gebärden frohlockten.

„Wer war es nun wieder, dessen Gedenken das steinerne Mal geweiht war?“ sagte irgend jemand, wie so obenhin. Und alle schauten sich an, und die Gesichter bekamen starre Falten, und sie klappten alle wieder zusammen. Jedoch der, der zu Häupten des Tisches saß, reckte sich plötzlich auf und kehrte zurück in den Saal. Und die anderen uralten Männer folgten ihm nach. Sie zogen umher im Saal und beschauten die Dinge aus Gips und wurden nur wirrer, und die Augen traten ihnen stielförmig vor die Köpfe. Dem einen mehr, dem anderen weniger. Aber niemand wußte, wessen Ruhm das Monument verkünden sollte.

Einer der uralten Männer blieb wie gebannt vor einer gipsernen Festung stehen, streichelte diese ununterbrochen, zärtlich lallend: „Gips, den gibt’s, Gips, den gibt’s.“

Ein anderer stammelte unsicher: „War es nicht Roda Roda, den wir ehren wollten?“

Ein wirres Stimmendurcheinander erhob sich.

„Schäfer Ast, Kufeke, der Erfinder des Kindermehles,“ wurde wild geraten.

„Antonie Bender, die glorreiche Erfinderin der Suppennudeln, war die es nicht, die wir feiern wollten?“ reflektierte einer vor einer merkwürdigen Gipstorte.

„Schaut her, ich hab’s,“ regte sich eine andere Stimme, [136] „das Denkmal ist für Schweppermann, den braven Schweppermann!“

Und alle schlurften herbei. Aber wie immer schüttelten sie nach längerer Betrachtung des betreffenden Entwurfes die Häupter, stierten umher auf die Anhäufung von Gips, und je mehr sie stierten, um so verwirrter wurden sie.

Nur der uralte Mann mit der Schweppermanndiagnose war auf den Denkmalsentwurf geklettert und brummte fortgesetzt vor sich hin: „Dem braven Schweppermann zwei!“

Sonst war eine tiefe, unheimliche Stille im Saal. Der Krampf des Stumpfsinns hatte die uralten Männer erfaßt.

„Oah, oah,“ fiel plötzlich, wie ein Tropfen Schleim, ein tiefes, entsetzliches Stöhnen in den Saal.

„Oah, oah,“ antwortete ein anderer.

Und von allen Seiten erhob sich dieses Japsen und Ächzen: „Oah, oah, oah!“

Und der uralte Mann, der zu Häupten des Tisches gesessen hatte und mit schlaffen Gesichtszügen, apathisch vor einer Gipsburg stand, reckte sich urplötzlich auf, ein Leuchten kam in seinen Blick, und er schrie gleich einer Fanfare in den Saal: „Richtig, meine Herren, richtig, Noah war es, dem wir ein Denkmal bauen wollten. Schauet alle her. Wer anders ist dieser nackte Jüngling, der vor dem Gewässer hier steht? Noah, vom Künstler in der Glorie der Jugend dargestellt (nach einem Bild kurz nach der Versetzung in Obersekunda). Dort jener Künstler zeigt ihn als bärtigen Alten. Andere Bildner schufen nur die Arche. Wieder andere nur Tempel zu seinem Preis!“

[137] Und alle uralten Männer hoben die Hände hoch und jubelten: „Ja, Noahn, Noahn wollten wir ein Mal errichten!“

Dann gingen sie zurück in den Raum neben dem Saal, um des Rats zu pflegen.

Und der uralte Mann, der zu Häupten des Tisches saß, hub an zu reden: „Meine Herren, wir wissen nun, daß es sich um eine Ehrung Noahs handelt. (Bravo, bravo! Ein uralter Mann erhob sich und sang: God save the queen.) Jetzt gilt es, zu entscheiden, wohin mit dem Denkmal, und welcher Ausführung der Lorbeer zuzuerkennen ist. Ich glaube, die Platzfrage ist schnell gelöst. Es kann nur ein Platz meines Erachtens in Frage kommen, und das ist der Ort, wo Noahs Arche landete, wo er nach der Sündflut zuerst den Boden betrat, der Ararat. Ich glaube, meine Herren, Sie sind mit mir in diesem Punkte der gleichen Ansicht. (Beifall und Zustimmung.) Dann können wir zum zweiten Punkte übergehen. Daß Denkmal und Landschaft eine rein künstlerische Einheit, ein harmonisches Ganzes bilden, das ist meines Erachtens der Urzweck eines Denkmals. (Stürmischer Beifall. Der uralte Mann mit der Schweppermanndiagnose rief dazwischen: „Dem braven Schweppermann zwei!“) Es ist nun die Frage, paßt man die Landschaft dem Denkmal an oder das Denkmal der Landschaft? Wie Sie, meine Herren, wohl eben alle während der Besichtigung der ausgestellten Entwürfe zur Überzeugung gekommen sein werden, werden diese sämtlich die altehrwürdige Silhouette des Ararats erheblich verändern, was natürlich aus Gründen der Pietät unbedingt vermieden [138] werden muß. Ich mache daher den Vorschlag, den Ararat abzutragen und ihn vielleicht in einer Entfernung von einer englischen Meile wieder aufzubauen und dann auf dem historischen Fleck, wo er gestanden, Noahs Denkmal zu errichten. Auf diese Weise ist die Gefahr, daß der Ararat durch seine aufdringliche Monumentalität die Wirkung des Denkmals beeinflußt, auf jeden Fall behoben. Für uns käme also nur Anpassung der Landschaft an das Denkmal in Frage.“

Der uralte Mann, der zuerst hatte austreten müssen, unterbrach den Redner und bat dringend ums Wort, erhob sich, setzte sich aber wieder nach einer Weile, da er vergessen hatte, was er sagen wollte.

Der Redner fuhr fort: „Jetzt käme noch als wesentlichstes in Frage, welchem Projekt der Vorzug zu geben wäre. Ich bin, offen gestanden, der Ansicht, Denkmal ist Denkmal. Ich möchte aber, um allen Teilen gerecht zu werden, dem Schicksal die Entscheidung anheimgeben und schlage vor, einen von uns durch das Los zu bestimmen, als Werkzeug des Fatums zu wirken, und zwar in folgender Weise: Der, auf welchen das Los fällt, wird nach Genuß von zwei Flaschen Kognak, zwei Flaschen Boonekamp, zwei Flaschen Sekt und einer Flasche Chablis auf ein Fahrrad gesetzt und in den Saal gelassen. Dem Modell, welches er zuerst umfährt, soll der Lorbeer zuerkannt werden. Wir lassen auf diese Weise die Vorsehung entscheiden!“

Die uralten Männer, die während der Rede gedöst und erst, als das Wort „Fahrrad“ fiel, aufgemerkt hatten, unterbrachen den Redner unter Protestrufen.

[139] Als sich der Lärm ein wenig gelegt hatte, erhob sich der uralte Mann, der schon vorher aufgestanden war, aber nicht gewußt hatte, was er sagen wollte, und hub nun wirklich also an: „Man soll gütig sein, liebe Freunde, gegen sich und gegen andere. Man soll uns uralte Männer nicht auf ein Fahrrad setzen. Nein, das soll man nicht. Und auch, warum wollen wir Mißgunst säen? Warum soll nur einer den Preis haben? Wir wollen alle bedenken, darum bitte ich Euch, meine lieben Freunde, lassen wir doch alle Entwürfe, die eingelaufen sind, zur Ausführung bringen. Dann ist die Welt mit Denkmälern für lange Jahre gesegnet, und wir können ruhig von hinnen fahren!“

Und die uralten Männer, die alle nichts mehr vom Fahrradfahren hielten, beschlossen, obgleich der, der zu Häupten des Tisches saß, anfangs noch einige Einwendungen gemacht hatte, alle Entwürfe ausführen zu lassen.

Und so geschah es. Und da für die Menschen kein Platz mehr blieb auf der Erde, zogen sie alle zum Mars.