Textdaten
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Autor: Heinrich Ernst Stötzner
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Titel: Das Ablesen vom Munde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 320, 322
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Ablesen vom Munde.

Am 30. April 1790 starb in Leipzig Samuel Heinicke, der Begründer der ersten deutschen Taubstummenanstalt. Die „Gartenlaube“ hat wiederholt dieses edeln Menschenfreundes gedacht und in Wort und Bild sein Andenken geehrt. Es genüge darum hier, darauf hingewiesen zu haben[1]. Die Saat, die der wackere Heinicke ausgestreut, hat in den vergangenen hundert Jahren reiche Frucht getragen. Das Recht der Taubstummen auf Bildung und Erziehung ist allgemein anerkannt und in allen gesitteten Staaten sind Taubstummenanstalten eingerichtet worden. Voran geht Deutschland, das allein gegen hundert zählt. Wohl ist auch hier noch viel zu thun übrig; aber in einzelnen deutschen Ländern, z. B. im Königreich Sachsen, ist bereits das schöne Ziel erreicht, daß jedes taubstumme Kind in einer Taubstummenanstalt Aufnahme findet. Aehnlich ist es in Württemberg. Und in den übrigen Staaten strebt man dies Ziel zu erreichen, denn jedes Jahr weiß von neu errichteten Anstalten zu erzählen.

Welch reicher Segen ist bereits der Menschheit aus diesen Stätten erwachsen! Tausende von Unglücklichen, die sonst unwissend und roh zur Last ihrer Angehörigen oder der öffentlichen Armenpflege herangewachsen wären, sind zu ordentlichen, brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen worden. Neben einer sittlich religiösen Bildung und Erziehung sind es besonders zwei werthvolle Gaben, welche die Taubstummen in den für sie eingerichteten Schulen empfangen. Sie lernen sprechen, können also anderen hörbar und verständlich ihre Gedanken ausdrücken, und dann – was nicht minder wichtig ist – lernen sie von den Lippen anderer die gesprochenen Worte ablesen und verstehen.

Und noch für weitere Kreise wird die Arbeit der Taubstummenanstalten segensreich werden. Die an Sprachgebrechen leidenden Kinder, die Stotterer und Stammler finden an Taubstummenlehrern gute Helfer. [322] Die Heilung des Stotterns wurde bisher vielfach als Geheimniß behandelt und die Wissenden ließen es sich theuer bezahlen. Durch die Schriften der Taubstummenlehrer Gutzmann in Berlin, Günther in Neuwied etc. ist das Heilverfahren allgemein bekannt geworden, und in verschiedenen Städten Deutschlands hat die Behörde nach diesem Verfahren unentgeltliche Heilkurse für stotternde Schulkinder eingerichtet, so in Potsdam, Braunschweig, Dresden, Elberfeld etc. Rudolf Denhardts Verdienste um die Heilung des Stotterns sind schon früher in der „Gartenlaube“ hervorgehoben worden, und von ihm wird auch demnächst ein Buch darüber, „Das Stottern. Eine Psychose“ (mit Illustrationen), im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger erscheinen.

Aber auch der großen Zahl jener Bedauernswerthen, die in späteren Jahren schwerhörig geworden oder ertaubt sind, wird durch die Arbeit der Taubstummenanstalten ein gutes Verständigungsmittel mit ihrer Umgebung geboten. Wie die Taubstummen, so vermögen auch sie die Kunst zu erlernen, mit den Augen von den Lippen anderer das gesprochene Wort abzulesen. Es beruht dies auf der Thatsache, daß jeder deutlich gesprochene Laut eine besondere Mundstellung erfordert. Man trete vor einen Spiegel und beobachte sich beim Sprechen. Mit derselben Mundstellung, mit der ich ein reines a ausspreche, kann ich kein reines o sprechen. Beim a ist der Mund vollständig geöffnet, beim o werden die Lippen etwas vorgeschoben, wodurch sich die Mundöffmung etwas verengert, und noch mehr ist dies der Fall, wenn ich u spreche. Beim e ist die Mundstellung breit und beim i treten die Mundwinkel noch weiter zurück. Wieder andere Mundstellungen erfordern die Konsonanten. Man spreche vor dem Spiegel b, d, f, l, s, sch, k etc, und man wird deutlich die veränderte Mundstellung bemerken können. Mitunter sind diese Unterschiede freilich ziemlich unbedeutend; aber selbst die Laute, die mehr im Innern des Mundes gebildet werden, lassen sich doch durch scharfes Beobachten erkennen, da sie äußerlich auch das Gesicht in Mitleidenschaft ziehen. Man beobachte sich z. B. beim Sprechen des n und ng. Das im Gaumen gebildete verkümmerte r ist nicht sichtbar, wohl aber das richtige mit der Zungenspitze gesprochene r, das ja auch von Sängern und Rednern angewendet wird.

Wie nun die gedruckten Buchstaben ganz bestimmte Formen haben, an denen wir jeden einzelnen sofort erkennen, so nehmen die Laute auch beim Sprechen ganz bestimmte, sichtbare Formen an, die vom Munde abgelesen werden können.

Freilich, das Ablesen vom Munde ist viel, viel mühsamer zu erlernen, als das Lesen der Buchstaben und Zusammenlesen derselben zu Wörtern und Sätzen. Die gedruckten oder geschriebenen Buchstaben stehen immer vor dem Auge sichtbar da, die Mundstellungen beim Sprechen lassen sich aber nicht festhalten; sie wechseln schnell und erschweren dadurch ein leichtes Auffassen. Daß es aber möglich ist, dafür liefert jede deutsche Taubstummenanstalt hinreichende Beweise. Fast alle Zöglinge lernen dies Ablesen vom Munde. Die Minderbegabten und die Schwachsichtigen natürlich in geringerem Grade als die befähigten und gut sehenden Schüler.

Das Sprechenlernen der Taubstummen ist mit dem Ablesen eng verbunden. Der kleine Schüler ahmt die Mundstellung, die Veränderungen der Zunge, der Lippen etc. nach, er sieht und fühlt an der Brust, am Kehlkopf des Lehrers die durch das Sprechen hervorgebrachten Bewegungen; er fühlt den Hauch bei der Aussprache des Lautes, und nach langen Mühen seitens des Lehrers wie des Schülers gelingt es ihm, den gleichen Laut zu bilden und zu sprechen. Ohne auf diese Aufgabe des Taubstummenunterrichts hier weiter einzugehen, kehren wir wieder zur Kunst des Ablesens vom Munde zurück.

In vielen der größeren Taubstummenanstalten werden die Schüler in sogenannten A- und B-Klassen unterrichtet. In den ersteren sitzen die Befähigteren, namentlich auch die, welche noch etwas hören können oder die erst später ertaubt sind; in den letzteren befinden sich die schwächer Begabten. Tritt nun eine mit dem Taubstummenunterricht unbekannte Person in eine A-Klasse ein, so meint sie in den ersten Augenblicken, fehlgegangen zu sein und sich nicht in einer Taubstummenschule, sondern in einer gewöhnlichen Volksschule zu befinden. Es wird keine Gebärdensprache angewendet; der Lehrer spricht zu den Kindern, die Schüler antworten. Obwohl aber alles laut geredet wird, so hört doch keiner der Schüler das Gesprochene. Auch die, welche noch etwas Gehör haben, vernehmen nichts Zusammenhängendes, sondern höchstens einzelne Worte; sie würden ja sonst die Taubstummenschule nicht besuchen. Alle Schüler sehen gespannt auf den Mund des Sprechenden und lesen dort die Worte ab, wie andere Kinder dieselben von der Wandtafel oder dem Buche ablesen. Die Pulte sind im Halbkreis so gestellt, daß die Schüler sich alle auf den Mund sehen können, und der Lehrer steht oder sitzt so, daß volles Licht auf sein Gesicht fällt. Wendet er sich nach der einen Seite, so wird ihn ein Theil der Schüler nicht verstehen – er mag noch so laut sprechen – denn sobald sie von seinem Munde nicht mehr absehen können, sind seine Worte für sie verloren. In einfachen, leicht verständlichen Sätzen werden die Kinder in biblischer Geschichte, Religion, in Heimath- und Vaterlandskunde, in Naturgeschichte, im Rechnen etc. unterrichtet. Es wird, mit Ausnahme des Gesanges, in der Taubstummenschule fast alles das getrieben, was in der Volksschule getrieben wird, wenn auch nicht in derselben Ausdehnung. Dort lernen die Kinder durch das Ohr und das Auge, hier nur durch das Auge. Kein Wunder, daß der Unterricht in der Taubstummenschule viel langsamer vorwärtsschreitet und daß manche Frage mehrfach wiederholt werden muß, ehe der Schüler sie richtig auffaßt.

Am leichtesten liest der Taubstumme vom Munde seines Lehrers und seiner Mitschüler ab, denn er ist an deren Sprechen gewöhnt. Da aber jeder scharf und deutlich Sprechende die Laute auf dieselbe Weise, also fast genau dieselben Mundstellungen bilden muß, so gewöhnt sich der kleine Schüler nach und nach an das Sprechen fremder Personen, und viele Taube erlangen eine Fertigkeit im Absehen vom Munde, die in Erstaunen setzt. Sie vermögen nicht nur Worte, Fragen und kurze Sätze abzulesen, sie verstehen auch Geschichten, die ihnen erzählt, Ansprachen, Vorträge, die ihnen gehalten werden. Natürlich ist immer dabei zu beachten, daß der Sprechende nahe steht, daß sein Gesicht gut beleuchtet ist, daß er deutlich und nicht zu schnell spricht, daß er den Kopf nicht zu sehr bewegt. In weiterer Entfernung, bei Dunkelheit, bei undeutlichem Sprechen hört die Kunst des Ablesens auf. Dagegen bildet der Bart kein besonderes Hinderniß, sobald er nicht die Lippen überdeckt.

Was nun der Taubstumme erlernen kann, das vermag der Schwerhörige oder der in spätem Alter Ertaubte auch, wenn nicht nur er, sondern auch die mit ihm Verkehrenden genug Geduld und Ausdauer haben. Es gehört lange, lange Uebung dazu, um es nur zu einiger Fertigkeit zu bringen. Wie der Taubstumme, so wird auch der Schwerhörige am leichtesten die verstehen lernen, mit denen er am meisten zu thun hat. Und hier lohnt schon ein kleiner Erfolg reichlich die aufgewandte Mühe, denn auch eine kleine Fertigkeit im Ablesen vom Munde erleichtert ungemein den Verkehr zwischen dem Leidenden und seiner Umgebung.

Wie diese Kunst zu erlernen ist, wurde bereits angedeutet. Befindet sich im Orte eine Taubstummenanstalt, so wird gewiß ein Taubstummenlehrer gern die Unterweisung übernehmen, und der Erfolg wird nicht ausbleiben, wenn die nöthige Geduld vorhanden ist. Ist aber der Betreffende auf sich selbst und die Seinigen angewiesen, so studiere er zunächst im Spiegel, wie die einzelnen Laute sich bilden und welche Mundstellungen dabei vorkommen. Dann lasse er sich von befreundeten Personen, deren Sprechwerkzeuge, wozu auch die Zähne gehören, sich in gutem Zustande befinden, erst einzelne Laute, dann leichte Lautverbindungen vorsprechen und versuche dieselben abzulesen. Nun kommen Worte und kurze Sätze an die Reihe, es werden auch häufig vorkommende Redensarten etc. geübt. Ein bekannter Vers oder ein bekanntes kurzes Gedicht oder eine bekannte kleine Erzählung wird langsam vorgesprochen und der Inhalt dann abgefragt. Ohne inneren Zusammenhang werden bald vom Ende, bald vom Anfange daraus einzelne Worte, einzelne Sätze gesprochen. Später wird ein längeres Lesestück, dessen Inhalt aber dem Schwerhörigen schon bekannt ist, in ähnlicher Weise durchgenommen. Zuletzt werden auch vorher unbekannte Dinge besprochen.

So gewöhnt sich das Auge an scharfes Beobachten und lernt nach und nach die kleinen Unterschiede, die beim Sprechen sich am Munde, im ganzen Gesichte zeigen, festhalten. Entgeht ihm auch manchmal etwas, er wird den Zusammenhang errathen und immer sicherer in der Kunst des Ablesens vom Munde werden. H. E. Stötzner.     




  1. Aus Anlaß seines hundertjährigen Todestages soll Samuel Heinicke in Eppendorf bei Hamburg, wo er von 1768 bis 1778 als Schullehrer und Organist wirkte und sein neues Heilverfahren zum ersten Male mit Glück an dem taubstummen Sohne eines Müllers erprobte, ein Denkmal errichtet werden.