Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Achter Abschnitt. Regulatives Princip der reinen Vernunft in Ansehung der cosmologischen Ideen.


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Der
Antinomie der reinen Vernunft
Achter Abschnitt.
Regulatives Princip der reinen Vernunft
in Ansehung der cosmologischen Ideen.
Da durch den cosmologischen Grundsatz der Totalität kein Maximum der Reihe von Bedingungen in einer Sinnenwelt, als einem Dinge an sich selbst, gegeben wird, sondern blos im Regressus derselben aufgegeben werden kan, so behält der gedachte Grundsatz der reinen Vernunft, in seiner dergestalt berichtigten Bedeutung, annoch seine gute Gültigkeit, zwar nicht als Axiom, die Totalität im Obiect als wirklich zu denken, sondern als ein Problem vor den Verstand, also vor das Subiect, um, der Vollständigkeit in der Idee gemäß, den Regressus in der Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten anzustellen und fortzusetzen. Denn in der Sinnlichkeit, d. i. im Raume und der Zeit, ist iede Bedingung, zu der wir in der Exposition gegebener Erscheinungen gelangen können, wiederum bedingt; weil diese keine Gegenstände an sich selbst sind, an denen allenfalls das Schlechthinunbedingte statt finden könte, sondern blos empirische Vorstellungen, die iederzeit in der Anschauung ihre Bedingung finden müssen, welche sie dem Raume oder der Zeit nach bestimt. Der Grundsatz der Vernunft also ist eigentlich nur eine Regel, welche in der Reihe der Bedingungen gegebener| Erscheinungen einen Regressus gebietet, dem es niemals erlaubt ist, bey einem Schlechthinunbedingten stehen zu bleiben. Er ist also kein Principium der Möglichkeit der Erfahrung und der empirischen Erkentniß der Gegenstände der Sinne, mithin kein Grundsatz des Verstandes; denn iede Erfahrung ist in ihren Gränzen (der gegebenen Anschauung gemäß) eingeschlossen, auch kein constitutives Princip der Vernunft, den Begriff der Sinnenwelt über alle mögliche Erfahrung zu erweitern, sondern ein Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung, nach welchem keine empirische Gränze vor absolute Gränze gelten muß, also ein Principium der Vernunft, welches, als Regel, postulirt, was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht anticipirt, was im Obiecte vor allem Regressus an sich gegeben ist. Daher nenne ich es ein regulatives Princip der Vernunft, da hingegen der Grundsatz der absoluten Totalität der Reihe der Bedingungen, als im Obiecte (den Erscheinungen) an sich selbst gegeben, ein constitutives cosmologisches Princip seyn würde, dessen Nichtigkeit ich eben durch diese Unterscheidung habe anzeigen und dadurch verhindern wollen: daß man nicht, wie sonst unvermeidlich geschieht, (durch transscendentale Subreption) einer Idee, welche blos zur Regel dient, obiective Realität beymesse.
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 Um nun den Sinn dieser Regel der reinen Vernunft gehörig zu bestimmen, so ist zuvörderst zu bemerken: daß| sie nicht sagen könne, was das Obiect sey, sondern wie der empirische Regressus anzustellen sey, um zu dem vollständigen Begriffe des Obiects zu gelangen. Denn fände das erstere statt, so würde sie ein constitutives Principium seyn, dergleichen aus reiner Vernunft niemals möglich ist. Man kan also damit keinesweges die Absicht haben, zu sagen: die Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten sey an sich endlich, oder unendlich; denn dadurch würde eine blosse Idee der absoluten Totalität, die lediglich in ihr selbst geschaffen ist, einen Gegenstand denken, der in keiner Erfahrung gegeben werden kan, indem einer Reihe von Erscheinungen eine, von der empirischen Synthesis unabhängige, obiective Realität ertheilet würde. Die Vernunftidee wird also nur der regressiven Synthesis in der Reihe der Bedingungen eine Regel vorschreiben, nach welcher sie vom Bedingten, vermittelst aller einander untergeordneten Bedingungen, zum Unbedingten fortgeht, obgleich dieses niemals erreicht wird. Denn das Schlechthinunbedingte wird in der Erfahrung gar nicht angetroffen.
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 Zu diesem Ende ist nun erstlich die Synthesis einer Reihe, so fern sie niemals vollständig ist, genau zu bestimmen. Man bedient sich in dieser Absicht gewöhnlich zweer Ausdrücke, die darin etwas unterscheiden sollen, ohne daß man doch den Grund dieser Unterscheidung recht anzugeben weiß. Die Mathematiker sprechen lediglich von einem Progressus in infinitum. Die Forscher der Begriffe| (Philosophen) wollen an dessen statt nur den Ausdruck von einem progressus in indefinitum gelten lassen. Ohne mich bey der Prüfung der Bedenklichkeit, die diesen eine solche Unterscheidung angerathen hat, und dem guten oder fruchtlosen Gebrauch derselben aufzuhalten, will ich diese Begriffe in Beziehung auf meine Absicht genau zu bestimmen suchen.
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 Von einer geraden Linie kan man mit Recht sagen, sie könne ins Unendliche verlängert werden, und hier würde die Unterscheidung des Unendlichen und des unbestimbar weiten Fortgangs (progressus in indefinitum) eine leere Subtilität seyn. Denn, ob gleich, wenn es heißt: ziehet eine Linie fort, es freilich richtiger lautet, wenn man hinzu sezt, in indefinitum, als wenn es heißt, in infinitum; weil das erstere nicht mehr bedeutet als: verlängert sie, so weit ihr wollet, das zweite aber: ihr sollt niemals aufhören sie zu verlängern (welches hiebey eben nicht die Absicht ist), so ist doch, wenn nur vom können die Rede ist, der erstere Ausdruck ganz richtig; denn ihr könt sie ins Unendliche immer grösser machen. Und so verhält es sich auch in allen Fällen, wo man nur vom Progressus, d. i. dem Fortgange von der Bedingung zum Bedingten, spricht; dieser mögliche Fortgang geht in der Reihe der Erscheinungen ins Unendliche. Von einem Elternpaar könt ihr in absteigender Linie der Zeugung ohne Ende fortgehen und euch auch ganz wol denken, daß sie wirklich| in der Welt so fortgehe. Denn hier bedarf die Vernunft niemals absolute Totalität der Reihe, weil sie solche nicht als Bedingung und wie gegeben (datum) vorausgesezt, sondern nur als was Bedingtes, das nur angeblich (dabile) ist, und ohne Ende hinzugesezt wird.

 Ganz anders ist es mit der Aufgabe bewandt: wie weit sich der Regressus, der von dem gegebenen Bedingten zu den Bedingungen in einer Reihe aufsteigt, erstrecke, ob ich sagen könne: er sey ein Rückgang ins Unendliche, oder nur ein unbestimmbar weit (in indefinitum) sich erstreckender Rückgang und ob ich also von den ieztlebenden Menschen, in der Reihe ihrer Voreltern, ins Unendliche aufwerts steigen könne, oder ob nur gesagt werden könne: daß, so weit ich auch zurückgegangen bin, niemals ein empirischer Grund angetroffen werde, die Reihe irgendwo vor begränzt zu halten, so daß ich berechtigt und zugleich verbunden bin, zu iedem der Urväter noch fernerhin seinen Vorfahren aufzusuchen, ob gleich eben nicht vorauszusetzen.

 Ich sage demnach: wenn das Ganze in der empirischen Anschauung gegeben worden, so geht der Regressus in der Reihe seiner inneren Bedingungen ins Unendliche; ist aber nur ein Glied der Reihe gegeben, von welchem der Regressus zur absoluten Totalität allererst fortgehen soll: so findet nur ein Rückgang in unbestimte Weite (in| indefinitum) statt. So muß von der Theilung einer zwischen ihren Gränzen gegebenen Materie (eines Cörpers) gesagt werden: sie gehe ins Unendliche. Denn diese Materie ist ganz, folglich mit allen ihren möglichen Theilen, in der empirischen Anschauung gegeben. Da nun die Bedingung dieses Ganzen sein Theil und die Bedingung dieses Theils der Theil vom Theile u. s. w. ist, und in diesem Regressus der Decomposition niemals ein Unbedingtes (untheilbares) Glied dieser Reihe von Bedingungen angetroffen wird, so ist nicht allein nirgend ein empirischer Grund, in der Theilung aufzuhören, sondern die fernere Glieder der fortzusetzenden Theilung sind selbst vor dieser weitergehenden Theilung empirisch gegeben, d. i. die Theilung geht ins Unendliche. Dagegen ist die Reihe der Voreltern zu einem gegebenen Menschen in keiner möglichen Erfahrung, in ihrer absoluten Totalität, gegeben, der Regressus aber geht doch von iedem Gliede dieser Zeugung zu einem höhern, so, daß keine empirische Gränze anzutreffen ist, die ein Glied, als schlechthin unbedingt, darstellete. Da aber gleichwol auch die Glieder, die hiezu die Bedingung abgeben könten, nicht in der empirischen Anschauung des Ganzen schon vor dem Regressus liegen: so geht dieser nicht ins Unendliche (der Theilung des gegebenen), sondern in unbestimbare Weite, der Aufsuchung mehrerer Glieder zu den gegebenen, die wiederum iederzeit nur bedingt gegeben sind.
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|  In keinem von beiden Fällen, sowol dem regressus in infinitum, als dem in indefinitum, wird die Reihe der Bedingungen als unendlich im Obiect gegeben angesehen. Es sind nicht Dinge, die an sich selbst, sondern nur Erscheinungen, die, als Bedingungen von einander, nur im Regressus selbst gegeben werden. Also ist die Frage nicht mehr: wie groß diese Reihe der Bedingungen an sich selbst sey, ob endlich oder unendlich, denn sie ist nichts an sich selbst, sondern: wie wir den empirischen Regressus anstellen und wie weit wir ihn fortsetzen sollen. Und da ist denn ein nahmhafter Unterschied in Ansehung der Regel dieses Fortschritts. Wenn das Ganze empirisch gegeben worden, so ist es möglich, ins Unendliche in der Reihe seiner inneren Bedingungen zurück zu gehen. Ist ienes aber nicht gegeben, sondern soll durch empirischen Regressus allererst gegeben werden, so kan ich nur sagen: es ist ins Unendliche möglich zu noch höheren Bedingungen der Reihe fortzugehen. Im ersteren Falle konte ich sagen: es sind immer mehr Glieder da und empirisch gegeben, als ich durch den Regressus (der Decomposition) erreiche; im zweiten aber: ich kan im Regressus noch immer weiter gehen, weil kein Glied als schlechthin unbedingt empirisch gegeben ist, und also noch immer ein höheres Glied als möglich und mithin die Nachfrage nach demselben als nothwendig zuläßt. Dort war es nothwendig, mehr Glieder der Reihe anzutreffen, hier aber ist es immer nothwendig, nach mehreren zu fragen, weil keine| Erfahrung absolute begränzt. Denn ihr habt entweder keine Wahrnehmung, die euren empirischen Regressus schlechthin begränzt, und denn müßt ihr euren Regressus nicht vor vollendet halten, oder habt eine solche eure Reihe begränzende Wahrnehmung, so kan diese nicht ein Theil eurer zurückgelegten Reihe seyn (weil das, was begränzt, von dem, was dadurch begränzt wird, unterschieden seyn muß) und ihr müßt also euren Regressus auch zu dieser Bedingung weiter fortsetzen, und so fortan.

 Der folgende Abschnitt wird diese Bemerkungen durch ihre Anwendung, in ihr gehöriges Licht setzen.



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