Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Siebenter Abschnitt. Kritische Entscheidung des cosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst.


|
Der
Antinomie der reinen Vernunft
Siebenter Abschnitt.
Critische Entscheidung des cosmologischen
Streits der Vernunft mit sich selbst.


Die ganze Antinomie der reinen Vernunft beruht auf dem dialectischen Argumente: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben: Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben, folglich etc. Durch diesen Vernunftschluß, dessen Obersatz so natürlich und einleuchtend scheint, werden nun, nach Verschiedenheit der Bedingungen (in der Synthesis der Erscheinungen), so fern sie eine Reihe ausmachen, eben so viel cosmologische Ideen eingeführt, welche die absolute Totalität dieser Reihen postuliren und eben dadurch die Vernunft unvermeidlich in Widerstreit mit sich selbst versetzen. Ehe wir aber das Trügliche dieses vernünftelnden Arguments aufdecken, müssen wir uns durch Berichtigung und Bestimmung gewisser darin vorkommenden Begriffe dazu in Stand setzen.

 Zuerst ist folgender Satz klar und ungezweifelt gewiß: daß, wenn das Bedingte gegeben ist, uns eben dadurch| ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben sey; denn dieses bringt schon der Begriff des Bedingten so mit sich: daß dadurch etwas auf eine Bedingung und, wenn diese wiederum bedingt ist, auf eine entferntere Bedingung und so durch alle Glieder der Reihe bezogen wird. Dieser Satz ist also analytisch und erhebt sich über alle Furcht vor einer[WS 1] transscendentale Critik. Er ist ein logisches Postulat der Vernunft: dieienige Verknüpfung eines Begriffs mit seinen Bedingungen durch den Verstand zu verfolgen und so weit als möglich fortzusetzen, die schon dem Begriffe selbst anhängt.
.
 Ferner: wenn das Bedingte so wol, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind, so ist, wenn das Erstere gegeben worden, nicht blos der Regressus zu dem Zweiten aufgegeben, sondern dieses ist dadurch wirklich schon mit gegeben und, weil dieses von allen Gliedern der Reihe gilt: so ist die vollständige Reihe der Bedingungen, mithin auch das Unbedingte dadurch zugleich gegeben, oder vielmehr vorausgesezt, daß das Bedingte, welches nur durch iene Reihe möglich war, gegeben ist. Hier ist die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung eine Synthesis des blossen Verstandes, welcher die Dinge vorstellt, wie sie sind, ohne darauf zu achten, ob, und wie wir zur Kentniß derselben gelangen können. Dagegen wenn ich es mit Erscheinungen zu thun habe, die, als blosse Vorstellungen, gar nicht gegeben sind, wenn ich nicht zu| ihrer Kentniß (d. i. zu ihnen selbst, denn sie sind nichts, als empirische Kentnisse) gelange, so kan ich nicht in eben der Bedeutung sagen: wenn das Bedingte gegeben ist, so sind auch alle Bedingungen (als Erscheinungen) zu demselben gegeben, und kan mithin auf die absolute Totalität der Reihe derselben keinesweges schliessen. Denn die Erscheinungen sind, in der Apprehension, selber nichts anders, als eine empirische Synthesis (im Raume und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben. Nun folgt es gar nicht: daß, wenn das Bedingte (in der Erscheinung) gegeben ist, auch die Synthesis, die seine empirische Bedingung ausmacht, dadurch mit gegeben und vorausgesezt sey, sondern diese findet allererst im Regressus, und niemals ohne denselben, statt. Aber das kan man wol in einem solchen Falle sagen: daß ein Regressus zu den Bedingungen, d. i. eine fortgesezte empirische Synthesis auf dieser Seite geboten oder aufgegeben sey, und daß es nicht an Bedingungen fehlen könne, die durch diesen Regressus gegeben werden.
.
 Hieraus erhellet: daß der Obersatz des cosmologischen Vernunftschlusses das Bedingte in transscendentaler Bedeutung einer reinen Categorie, der Untersatz aber in empirischer Bedeutung eines auf blosse Erscheinungen angewandten Verstandesbegriffs nehmen, folglich derienige dialectische Betrug darin angetroffen werde, den man Sophisma figurae dictionis nent. Dieser Betrug ist aber| nicht erkünstelt, sondern eine ganz natürliche Täuschung der gemeinen Vernunft. Denn durch dieselbe setzen wir (im Obersatze) die Bedingungen und ihre Reihe, gleichsam unbesehen, voraus, wenn etwas als Bedingt gegeben ist, weil dieses nichts andres, als die logische Foderung ist, vollständige Prämissen zu einem gegebenen Schlußsatze anzunehmen, und da ist in der Verknüpfung des Bedingten mit seiner Bedingung keine Zeitordnung anzutreffen; sie werden an sich, als zugleich gegeben, vorausgesezt. Ferner ist es eben so natürlich (im Untersatze) Erscheinungen als Dinge an sich und eben sowol dem blossen Verstande gegebene Gegenstände anzusehen, wie es im Obersatze geschah, da ich von allen Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden können, abstrahirte. Nun hatten wir aber hiebey einen merkwürdigen Unterschied zwischen den Begriffen übersehen. Die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung und die ganze Reihe der lezteren (im Obersatze) führte gar nichts von Einschränkung durch die Zeit und keinen Begriff der Succeßion bey sich. Dagegen ist die empirische Synthesis und die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung, (die im Untersatze subsumirt wird), nothwendig successiv und nur in der Zeit nach einander gegeben; folglich konte ich die absolute Totalität der Synthesis und der dadurch vorgestellten Reihe hier nicht eben so wol, als dort voraussetzen, weil dort alle Glieder der Reihe an sich (ohne Zeitbedingung) gegeben sind, hier aber nur durch den successiven| Regressus möglich sind, der nur dadurch gegeben ist, daß man ihn wirklich vollführt.
.
 Nach der Ueberweisung eines solchen Fehltritts, des gemeinschaftlich zum Grunde (der cosmologischen Behauptungen) gelegten Arguments, können beide streitende Theile mit Recht, als solche, die ihre Foderung auf keinen gründlichen Titel gründen, abgewiesen werden. Dadurch aber ist ihr Zwist noch nicht in so fern geendigt, daß sie überführt worden wären, sie, oder einer von beiden, hätte in der Sache selbst, die er behauptet, (im Schlußsatze) Unrecht, wenn er sie gleich nicht auf tüchtige Beweisgründe zu bauen wußte. Es scheinet doch nichts klärer, als daß von zween, deren der eine behauptet: die Welt hat einen Anfang, der andere: die Welt hat keinen Anfang, sondern sie ist von Ewigkeit her, doch einer Recht haben müsse. Ist aber dieses: so ist es, weil die Klarheit auf beiden Seiten gleich ist, doch unmöglich, iemals auszumitteln, auf welcher Seite das Recht sey und der Streit dauert nach wie vor, wenn die Partheyen gleich bey dem Gerichtshofe der Vernunft zur Ruhe verwiesen worden. Es bleibt also kein Mittel übrig, den Streit gründlich und zur Zufriedenheit beider Theile zu endigen, als daß, da sie einander doch so schön widerlegen können, endlich überführt werden, daß sie um Nichts streiten, und ein gewisser transscendentaler Schein ihnen da eine Wirklichkeit vorgemahlt habe, wo keine anzutreffen ist. Diesen| Weg der Beilegung eines nicht abzuurtheilenden Streits wollen wir iezt einschlagen.
*               *
*
 Der eleatische Zeno, ein subtiler Dialectiker ist schon vom Plato als ein muthwilliger Sophist darüber sehr getadelt worden, daß er, um seine Kunst zu zeigen, einerley Satz durch scheinbare Argumente zu beweisen und bald darauf durch andere eben so starke wieder umzustürzen suchte. Er behauptete: Gott (vermuthlich war es bey ihm nichts als die Welt) sey weder endlich, noch unendlich, er sey weder in Bewegung, noch in Ruhe, sey keinem andern Dinge weder ähnlich, noch unähnlich. Es schien denen, die ihn hierüber beurtheilten, er habe zwey einander widersprechende Sätze gänzlich abläugnen wollen, welches ungereimt ist. Allein ich finde nicht: daß ihm dieses mit Recht zur Last gelegt werden könne. Den ersteren dieser Sätze werde ich bald näher beleuchten. Was die übrige betrift, wenn er unter dem Worte: Gott, das Universum verstand, so mußte er allerdings sagen: daß dieses weder in seinem Orte beharrlich gegenwärtig (in Ruhe) sey, noch denselben verändere (sich bewege), weil alle Oerter nur im Univers, dieses selbst also in keinem Orte ist. Wenn das Weltall alles, was existirt, in sich faßt, so ist es auch so fern keinem andern Dinge, weder ähnlich, noch unähnlich, weil es ausser ihm kein anderes Ding giebt, mit dem es könte verglichen werden. Wenn zwey| einander entgegengesezte Urtheile eine unstatthafte Bedingung voraussetzen, so fallen sie, unerachtet ihres Widerstreits (der gleichwol kein eigentlicher Widerspruch ist), alle beide weg, weil die Bedingung wegfällt, unter der allein ieder dieser Sätze gelten solte.

 Wenn iemand sagte: ein ieder Cörper riecht entweder gut, oder er riecht nicht gut, so findet ein Drittes statt, nemlich: daß er gar nicht rieche, (ausdufte) und so können beide widerstreitende Sätze falsch seyn. Sage ich, er ist entweder wolriechend, oder er ist nicht wolriechend: (vel suaueolens vel non suaueolens) so sind beide Urtheile einander contradictorisch entgegengesezt und nur der erste ist falsch, sein contradictorisches Gegentheil aber, nemlich einige Cörper sind nicht wolriechend, befaßt auch die Cörper in sich, die gar nicht riechen. In der vorigen Entgegenstellung (per disparata) blieb die zufällige Bedingung des Begriffs der Cörper (der Geruch) noch bey dem widerstreitenden Urtheile, und wurde durch dieses also nicht mit aufgehoben, daher war das leztere nicht das contradictorische Gegentheil des ersteren.

 Sage ich demnach: die Welt ist dem Raume nach entweder unendlich, oder sie ist nicht unendlich (non est infinitus), so muß, wenn der erstere Satz falsch ist, sein contradictorisches Gegentheil: die Welt ist nicht unendlich, wahr seyn. Dadurch würde ich nur eine unendliche Welt aufheben ohne eine andere, nemlich die endliche, zu setzen.| Hiesse es aber: die Welt ist entweder unendlich, oder endlich (nichtunendlich) so könten beide falsch seyn. Denn ich sehe alsdenn die Welt, als an sich selbst, ihrer Grösse nach bestimt an, indem ich in dem Gegensatz nicht blos die Unendlichkeit aufhebe und, mit ihr, vielleicht ihre ganze abgesonderte Existenz, sondern eine Bestimmung zur Welt, als einem an sich selbst wirklichen Dinge, hinzusetze, welches eben so wol falsch seyn kan, wenn nemlich die Welt gar nicht als ein Ding an sich, mithin auch nicht ihrer Grösse nach, weder als unendlich, noch als endlich gegeben seyn solte. Man erlaube mir: daß ich dergleichen Entgegensetzung die dialectische, die des Widerspruchs aber, die analytische Opposition nennen darf. Also können von zwey dialectisch einander entgegengesezten Urtheilen alle beide falsch seyn, darum, weil eines dem andern nicht blos widerspricht, sondern etwas mehr sagt, als zum Widerspruche erfoderlich ist.
.
 Wenn man die zwey Sätze: die Welt ist der Grösse nach unendlich, die Welt ist ihrer Grösse nach endlich, als einander contradictorisch entgegengesetzte ansieht, so nimt man an, daß die Welt (die ganze Reihe der Erscheinungen) ein Ding an sich selbst sey. Denn sie bleibt, ich mag den unendlichen oder endlichen Regressus in der Reihe ihrer Erscheinungen aufheben. Nehme ich aber diese Voraussetzung, oder diesen transscendentalen Schein weg, und läugne, daß sie ein Ding an sich selbst sey, so verwandelt| sich der contradictorische Widerstreit beider Behauptungen in einen blos dialectischen und die Welt, weil sie gar nicht an sich (unabhängig von der regressiven Reihe meiner Vorstellungen) existirt: so existirt sie, weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganze. Sie ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und vor sich selbst gar nicht anzutreffen. Daher, wenn diese iederzeit bedingt ist, so ist sie niemals ganz gegeben, und die Welt ist also kein unbedingtes Ganze, existirt also auch nicht als ein solches, weder mit unendlicher, noch endlicher Grösse.
.
 Was hier von der ersten cosmologischen Idee, nemlich der absoluten Totalität der Grösse in der Erscheinung gesagt worden, gilt auch von allen übrigen. Die Reihe der Bedingungen ist nur in der regressiven Synthesis selbst, nicht aber an sich in der Erscheinung, als einem eigenen, vor allem Regressus gegebenen Dinge, anzutreffen. Daher werde ich auch sagen müssen: die Menge der Theile in einer gegebenen Erscheinung ist an sich weder endlich, noch unendlich, weil Erscheinung nichts an sich selbst existirendes ist, und die Theile allererst durch den Regressus der decomponirenden Synthesis, und in demselben, gegeben werden, welcher Regressus niemals schlechthin ganz, weder als endlich, noch als unendlich gegeben ist. Eben das gilt von der Reihe der über einander geordneten Ursachen, oder der bedingten bis zur unbedingt nothwendigen Existenz,| welche niemals weder an sich ihrer Totalität nach als endlich, noch als unendlich angesehen werden kan, weil sie als Reihe subordinirter Vorstellungen, nur im dynamischen Regressus besteht, vor demselben aber und, als vor sich bestehende Reihe von Dingen, an sich selbst gar nicht existiren kan.
.
 So wird demnach die Antinomie der reinen Vernunft bey ihren cosmologischen Ideen gehoben, dadurch, daß gezeigt wird: sie sey blos dialectisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, daß man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im successiven Regressus, sonst aber gar nicht existiren. Man kan aber auch umgekehrt aus dieser Antinomie einen wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch critischen und doctrinalen Nutzen ziehen: nemlich die transscendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirect zu beweisen, wenn iemand etwa an dem directen Beweise in der transscendentalen Aesthetik nicht genug hätte. Der Beweis würde in diesem Dilemma bestehen. Wenn die Welt ein an sich existirendes Ganze ist: so ist sie entweder endlich, oder unendlich; Nun ist das erstere sowol als das zweite falsch (laut den oben angeführten Beweisen der Antithesis, einer und der Thesis anderer Seits). Also ist es auch falsch, daß die Welt (der Inbegriff aller Erscheinungen) ein an sich existirendes Ganze| sey. Woraus denn folgt: daß Erscheinungen überhaupt ausser unseren Vorstellungen nichts sind, welches wir eben durch die transscendentale Idealität derselben sagen wolten.
.
 Diese Anmerkung ist von Wichtigkeit. Man siehet daraus: daß die obige Beweise der vierfachen Antinomie nicht Blendwerke, sondern gründlich waren, unter der Voraussetzung nemlich: daß Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wären. Der Widerstreit der daraus gezogenen Sätze entdekt aber: daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege, und bringt uns dadurch zu einer Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge, als Gegenstände der Sinne. Die transscendentale Dialectik thut also keinesweges dem Scepticism einigen Vorschub, wol aber der sceptischen Methode, welche an ihr ein Beispiel ihres grossen Nutzens aufweisen kan, wenn man die Argumente der Vernunft in ihrer größten Freiheit gegen einander auftreten läßt, die, ob sie gleich zuletzt nicht dasienige, was man suchte, dennoch iederzeit etwas Nützliches und zur Berichtigung unserer Urtheile dienliches, liefern werden.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine


  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.