Chemische Briefe/Zweiundzwanzigster Brief

<<< Zweiundzwanzigster Brief >>>
{{{UNTERTITEL}}}
aus: Chemische Briefe
Seite: {{{SEITE}}}
von: Justus von Liebig
Zusammenfassung: {{{ZUSAMMENFASSUNG}}}
Anmerkung: {{{ANMERKUNG}}}
Bild
[[Bild:{{{BILD}}}|250px]]
[[w:{{{WIKIPEDIA}}}|Artikel in der Wikipedia]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wikisource-Indexseite
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe

[170]


Zweiundzwanzigster Brief.


Durch die Natur selbst, welches ein Ganzes ist, stehen die Naturwissenschaften in einem nothwendigen Verband mit einander, so dass keine derselben alle anderen zu ihrer Ausbildung völlig entbehren kann; die Erweiterung der einzelnen Gebiete in Folge ihrer Bearbeitung bringt es mit sich, dass in einer gewissen Periode zwei derselben an ihren Grenzen sich berühren. In dem Grenzgebiet bildet sich in der Regel eine neue Wissenschaft aus, welche den Gegenstand und die Betrachtungsweise der beiden Disciplinen in sich vereinigt; beide müssen, um in dieser Weise ineinandergreifen zu können, eine gewisse Stufe der Vollendung erreicht haben; die Selbstständigkeit des Hauptgebietes muss gesichert sein, denn eher wenden sich die Kräfte der Bearbeiter dem Anbau des Grenzgebietes nicht zu. Einer solchen Verschmelzung der Physiologie mit der Chemie sehen wir, als einer der bemerkenswerthesten Erscheinungen in der neueren Zeit entgegen. Die Physiologie ist an dem Punkte angelangt, wo sie die Chemie zur Erreichung ihres Zieles, der Erforschung der Lebenserscheinungen in ihrer Aufeinanderfolge nicht mehr entbehren kann; die Chemie, welche nachweisen soll, in welchem Verhältniss die vitalen Eigenschaften abhängig sind von den chemischen Kräften, ist vorbereitet, um neue Gebiete zu selbstständiger Bearbeitung in sich aufzunehmen.

Die Erscheinungen, welche die Thiere während ihres Lebens darbieten, gehören zu den zusammengesetztesten in der Natur, und es ist der Nachweis ihrer verschiedenen Ursachen, so wie die Ermittelung des Antheils, den jede einzelne daran hat, mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft.

Es ist eine Regel in der Naturforschung, in dem Studium einer Erscheinung jede einzelne Schwierigkeit, welche untersucht werden soll, in so viel Theile, als man kann, zu scheiden, und einen jeden für sich der Beobachtung zu unterwerfen. Nach diesem Grundsatz lassen sich alle physiologischen Erscheinungen in zwei Classen trennen, von denen eine jede bis zu einer gewissen Grenze ganz unabhängig von der anderen studirt werden kann; in der Natur findet, wie sich von selbst versteht, eine solche Trennung nicht statt, beide Classen von Erscheinungen sind von einander abhängig, so zwar, dass sie sich gegenseitig bedingen.

Die Vorgänge der Befruchtung, der Entwickelung und des Wachsthums der Thiere, die Beziehungen ihrer Organe zu einander und die diesen zukommenden Thätigkeiten, die Gesetze ihrer Bewegung und der Bewegung der flüssigen Bestandtheile des Thierkörpers, die Eigenthümlichkeiten der Nerven- und Muskelfaser, alle diese auffallenden und merkwürdigen Erscheinungen lassen sich ermitteln ohne besondere Rücksicht auf die Materie oder den Stoff, aus dem die Träger derselben bestehen.

Aber die Physiologie hat es noch mit anderen, nicht minder wichtigen Erscheinungen zu thun. Die Verdauung, Blutbildung, Ernährung, Athmung und Absonderung beruhen auf einer Form- und Beschaffenheitsänderung der von aussen dem Organismus zugeführten Stoffe oder

[171] von gewissen flüssigen und festen Bestandtheilen desselben, und es ist die Erforschung dieser Vorgänge, so weit sie unabhängig von der Form gedacht werden können, in welcher die Chemie der Physiologie Hülfe leisten soll.

Es ist einleuchtend, dass die Physiologie zwei Grundlagen hat, und dass durch die Verschmelzung der physiologischen Physik, deren Grundlage die Anatomie ist, mit der physiologischen Chemie, welche sich auf die Thierchemie stützt, eine neue Wissenschaft hervorgehen muss, eine eigentliche Physiologie, die sich zu der Wissenschaft, welche gegenwärtig diesen Namen trägt, verhalten wird wie die heutige Chemie zu der des vorigen Jahrhunderts.

Um sich von dem Einfluss des Ineinandergreifens der Chemie und Physiologie eine richtige Vorstellung zu machen, muss man sich an ähnliche Vorgänge in der Wissenschaft erinnern. So ist der Charakter der gegenwärtigen Chemie wesentlich dadurch bedingt worden, dass sie ganze Zweige der Physik in sich aufnahm, die jetzt aufgehört haben, der Physik anzugehören. Das specifische Gewicht der Körper im Gaszustand wurde vor 40 Jahren noch als rein physikalische Eigenschaft angesehen. Seitdem man aber weiss, dass diese Eigenschaft in einem bestimmten Verhältniss abhängig ist von der Zusammensetzung, gehört die Lehre von der Dichtigkeit der Körper im Dampfzustand der Chemie an. Eine ähnliche Beziehung hat sich herausgestellt zwischen der specifischen Wärme, der Ausdehnung durch die Wärme, dem Siedepunkt, der Krystallgestalt der Körper und ihrer Zusammensetzung, und es ist jetzt vorzugsweise die Chemie, die sich mit der genaueren Erforschung dieser Verhältnisse beschäftigt. Die Lehre von der Elektricität, insofern sie als die Folge einer Form- und Beschaffenheitsänderung auftritt, ist beinahe ganz in das Gebiet der chemischen Lehren übergegangen.

In ganz ähnlicher Weise wird die genauere Bekanntschaft mit den Lebenserscheinungen die Ueberzeugung befestigen, dass eine Menge physiologischer Eigenschaften abhängig sind von der chemischen Zusammensetzung, und es wird die Physiologie, wenn sie die Thierchemie in sich aufgenommen hat, die Mittel besitzen, um dieses Abhängigkeits-Verhältniss zu erforschen; sie wird damit in den Stand gesetzt sein, einen richtigeren Ausdruck für die physiologischen Erscheinungen zu finden.

Es ist längst versucht worden, die vitalen Erscheinungen nach chemischen Grundsätzen ausschliesslich zu erklären und die Physiologie zu einem Theil der Chemie zu machen; dies geschah schon vor Jahrhunderten, zu einer Zeit, wo man die chemischen Vorgänge im Körper genauer als den Organismus selbst kannte. Als man später den wunderbaren Bau, die Form und Beschaffenheit der Organe und ihr Zusammenwirken durch ein genaueres Studium der Anatomie kennen gelernt hatte, da glaubte man den Schlüssel zur Erklärung in gewissen Principien der Mechanik gefunden zu haben.

Alle diese Versuche sind gescheitert und ihr Misslingen begründet die Selbstständigkeit der Physiologie.

Die Mineralogie befand sich der Chemie gegenüber in einem ähnlichen Verhältniss; vor 40 Jahren noch erklärten sie Viele für einen Theil der Chemie, man reihte die zusammengesetzten Mineralien in die

[172] Classe der Salze ein. Die Mineralogie errang ihre Unabhängigkeit, nicht indem sie die Lehren der Chemie von sich entfernt hielt, sondern dadurch, dass sie die Festsetzung der Eigenschaft der Zusammensetzung in ihr Gebiet aufnahm; seitdem die Mineral-Analyse zu einem Theil der Mineralogie geworden ist, sind es die Mineralogen, von denen wir jetzt die merkwürdigsten Aufschlüsse über das Verhältniss der Mischung der Mineralien zu ihrer Form und übrigen Eigenschaften erhalten.

Ein an sich leicht zu beseitigendes Hinderniss der Verständigung besteht in diesem Augenblicke noch darin, dass man in der Physiologie mit einem und demselben Worte nicht immer eine Vereinigung derselben Dinge oder derselben Verbindungen mit denselben Eigenschaften bezeichnet, sondern dass man im Gebrauch der Namen weniger die Natur und Beschaffenheit der Stoffe, als die Rolle, die man ihnen im Lebensprocesse zuschreibt oder ihr Vorkommen in bestimmten Organen berücksichtigt.

In der Physiologie bezeichnet man z. B. mit Harn, mit Galle Flüssigkeiten, die sich in Säcken gewisser Apparate befinden, deren Natur auf das mannichfaltigste wechseln darf, ohne dass sie aufhören, als Harn oder Galle angesehen zu werden. In ähnlicher Weise ist der Begriff von Blut nicht abgeleitet von gewissen Eigenschaften, sondern er knüpft sich ohne alle Rücksicht auf Farbe und Beschaffenheit an die Ernährungsfähigkeit oder Ernährungsfunction und ist unzertrennlich von diesem Begriff, dem alle übrigen Eigenschaften untergeordnet sind.

In der Chemie, welche die Körper ihren Eigenschaften nach studirt, knüpft sich an die Namen Harn, Galle, Blut, Milch etc. ein Inbegriff von gewissen Eigenschaften, in der Art, dass der Name dem Stoff oder der Flüssigkeit nicht gegeben werden darf, wenn die Eigenschaften fehlen, die damit zusammengefasst werden, und da Harn, Galle, Blut, Gemenge mehrerer einfachen Verbindungen sind, so unterscheidet die Chemie die nie wechselnden als die wesentlichen oder charakteristischen von den wechselnden, welche die Haupteigenschaften nicht bedingen.

Der Begriff von Harn ist in der Chemie unzertrennlich von dem Vorhandensein gewisser Verbindungen, des Harnstoffs, der Harnsäure, und es kann chemischerseits einer Flüssigkeit der Name „Harn“ nicht gegeben werden, worin diese Verbindungen völlig fehlen.

Das Blut, die Milch etc. sind Gemenge, d. h. es sind Mischungen, deren Bestandtheile nicht in festen, unveränderlichen, sondern in unbestimmten Verhältnissen zugegen sind; die gemengte Beschaffenheit des Blutes ist schon für das bewaffnete Auge wahrnehmbar; man sieht unter dem Mikroskop rothgefärbte kleine rundliche Scheibchen, die Blutkörperchen, in einer kaum oder schwach gelblich gefärbten Flüssigkeit, dem Serum schwimmen. Die Lymphe enthält zwei farblose Körper, von denen der eine bei gewöhnlicher Temperatur (als Fibrin), der andere in höherer als Gerinnsel sich abscheidet. Die trübe, weissliche Beschaffenheit derselben wird durch sichtbare Fetttröpfchen hervorgebracht. Schüttelt man die Lymphe mit Aether, so wird sie klar und durchsichtig, indem der Aether das Fett auflöst.

Mit gleicher Einfachheit lässt sich die gemengte Beschaffenheit anderer organischer Flüssigkeiten, der Galle z. B., nicht darthun; es gelingt dies demungeachtet leicht durch die Anwendung von chemischen Scheidungsmitteln,

[173] von denen man weiss, dass sie keine verändernde Wirkung, d. h. keinen Wechsel in den chemischen Eigenschaften der Körper, mit denen man sie zusammenbringt, verursachen.

Die Galle der Thiere ist goldgelb, grünlich oder gelbbraun gefärbt; frisch aus der Blase genommen, enthält sie einen gallertartigen, aufgequollenen, im Wasser unlöslichen geschmacklosen Stoff beigemengt, der sich vollkommen davon trennen lässt, wenn die Galle mit Alkohol gemischt wird. Diese Mischung besitzt die Farbe der Galle; filtrirt man sie durch Kohlenpulver, so behält dieses den Farbstoff zurück, während alle übrigen Bestandtheile in der abfliessenden farblosen Lösung bleiben.

Es findet demnach in der Galle in Beziehung auf Gefärbtsein ein ähnliches Verhältniss, wie im Blute statt, mit dem Unterschiede jedoch, dass der Farbstoff in der Galle gelöst, wiewohl nicht in einer chemischen Verbindung mit einem der anderen organischen Bestandtheile derselben sich befindet. Wäre letzteres der Fall, so würde die Kohle noch einen anderen organischen Stoff enthalten müssen; ausser dem Farbstoff enthält sie aber keinen anderen. Schüttelt man die Galle mit Aether, oder mischt man zu einer Auflösung von farbloser (entfärbter) Galle in Weingeist eine hinlängliche Menge von Aether, so trennt sich die Mischung in zwei Schichten, in eine dicke syrupähnliche Flüssigkeit, welche zu Boden fällt, und in eine leichtere, welche obenauf schwimmt. Die letztere enthält den zugesetzten Aether, der jetzt beim Verdampfen eine Menge Fett hinterlässt. Dieses Fett war ein Bestandtheil der Galle, der aber darin nicht aufgeschlämmt in Tröpfchen, wie in der Lymphe, sondern in Lösung sich befand.

Die Galle der Vögel, Säugethiere, Fische, Amphibien, soweit sie untersucht sind, verhält sich gegen Weingeist, Kohle, Aether auf ganz gleiche Weise, sie ist keine einfache Verbindung, sondern ein Gemenge von einfachen Verbindungen. Wäre es eine einfache Verbindung, so würde sich keine einzige ihrer Eigenschaften hinwegnehmen lassen ohne Vernichtung aller oder der Mehrzahl ihrer anderen Eigenschaften; aber von der Galle lässt sich die Dickflüssigkeit entfernen, ohne dass die übrigen Eigenschaften derselben die mindeste Veränderung erfahren, eben so die Farbe, ihre der Seife verwandte Beschaffenheit, aber von dem Stoff, der übrig bleibt, kann keine der ihm zukommenden Eigenschaften mehr hinweggenommen werden, es ist die Natronverbindung der mit Glycocoll oder Taurin gepaarten stickstoffhaltigen Cholalsäure, ausgezeichnet durch ihren sehr bitteren Geschmack und die Eigenschaft, mit etwas Zucker und concentrirter Schwefelsäure versetzt, eine purpurrothe Farbe anzunehmen [1]

Die Wahrnehmung, dass beinahe alle Theile des thierischen Körpers, die Nerven- und Gehirnsubstanz, die Fäces das nämliche Fett wie die Galle enthalten, dass die von coagulirtem Blut abgeschiedene Flüssigkeit eine der Galle sehr ähnliche Farbe besitzt, dass der an der Oberfläche des Darmkanals sich häufig abscheidende Schleim von dem Schleim der Gallenblase nicht unterscheidbar ist, giebt zu erkennen, dass Fett, Farbstoff

[174] und Schleim nicht als wesentliche oder der Gallenflüssigkeit eigenthümliche Bestandtheile anzusehen sind; aber der bittere, im Aether unlösliche, im Alkohol und Wasser lösliche Stoff findet sich im gesunden Zustande nur in der Galle und sonst in keinem anderen Theile des Organismus, und er wird deshalb von dem Chemiker als derjenige angesehen, welcher der Galle ihren Charakter giebt, so dass unter Galle in chemischem Sinne nur dieser eine Bestandtheil gemeint wird.

Aus gleichen Gründen werden Harnsäure, Harnstoff und Allantoin, welches verwandte Verbindungen sind, in so fern Harnsäure in Harnstoff und Allantoin übergeführt werden kann, als charakteristische Bestandtheile des Harns aller Thiere angesehen, weil sich zwei oder einer davon in jedem Harn findet. Die Hippursäure oder Benzoesäure, welche Bestandtheile des Menschenharns und des Harns der Kuh und des Pferdes ausmachen, so wie das Kreatin und das Kreatinin im Menschenharn heissen wechselnde Bestandtheile, weil sie in dem Harn der Vögel und Schlangen fehlen oder wenigstens nicht aufgefunden worden sind.

Es ist bekannt, dass frisch aus der Ader gelassenes Blut in sehr kurzer Zeit, sich selbst überlassen, zu einer gallertartigen Masse gesteht, und dass dieses Gerinnen auf einer Abscheidung des Blutfibrins beruht, welches sich von der Flüssigkeit (dem Blutserum) in Gestalt einer Gallerte oder eines Netzwerks von unendlich feinen farblosen, durchscheinenden Fäden, welche die rothgefärbten Blutkörperchen einschliessen (Blutkuchen), trennt. Wird das Blut vor dem Gerinnen mit einem Stabe oder einer Ruthe gepeitscht oder geschlagen, so bildet sich kein Blutkuchen, weil das sich abscheidende Fibrin gehindert wird, sich zu einem Netzwerk zu vereinigen, die Fäden kleben zu gröberen elastischen weichen Massen zusammen, die mit reinem Wasser gewaschen, allen Blutfarbstoff verlieren und völlig weiss werden. Dieses Blutfibrin in Wasser gebracht, dem man auf die Unze einen Tropfen Salzsäure zugesetzt hat, quillt darin zu einer dicken Gallerte auf, ohne sich aufzulösen[2]; wenn die Menge Wasser nicht zu gross ist, so wird es in dem aufschwellenden Fibrin beinahe ganz wie von einem Schwamme aufgesaugt; setzt man jetzt dieser Masse concentrirte Salzsäure zu, so schrumpft das Fibrin zu seinem ursprünglichen Volum wieder ein. Legt man dieses zusammengeschrumpfte Fibrin in reines Wasser, so quillt es wie im Anfang auf und es bewirkt ein Zusatz von Salzsäure ein neues Zusammenschrumpfen. Wenn man in dieser Weise das Fibrin abwechselnd bis zehnmal behandelt, zuletzt trocknet und verbrennt, so hinterlässt es nahe an 2 p Ct. Asche, welche Eisenoxyd, Kalk und Phosphorsäure enthält. Es ist vollkommen einleuchtend, dass diese Bestandtheile dem Fibrin nicht beigemengt sind; denn sie werden in demselben von dessen anderen Elementen mit einer Kraft zurückgehalten, welche weit grösser ist, als die sehr grosse Affinität, welche die Salzsäure zu dem phosphorsauren Kalk und dem Eisenoxyde besitzt. Man betrachtet deshalb die genannten unorganischen Stoffe als wesentliche oder nothwendige Bestandtheile des Blutfibrins.

[175] Der Mangel des Verständnisses in der Ausdrucksweise ist nicht das einzige Hinderniss des kräftigen Zusammenwirkens der Chemie und Physiologie, ein vielleicht weit grösseres liegt in der Verschiedenheit ihrer Untersuchungsmethoden. In den Untersuchungen der Chemie und Physik gilt es als Grundsatz, dass eine zusammengesetzte Erscheinung durch die Beobachtung vor allem anderen auf einfachere zurückgeführt werden muss; man beginnt mit dem Einfachen, um zum Studium des Zusammengesetzten überzugehen. Die ersten Fragen richten sich auf die nächsten, nicht auf die letzten Ursachen, von dem Bekannten geht man über zu dem Unbekannten. In der Physiologie und Pathologie wurde lange Zeit hindurch die verwickeltste Erscheinung zu erforschen gesucht, ehe man die einfachste kannte; man versuchte das Fieber zu erklären, ohne den Respirationsprocess zu kennen, man erklärte die Wärmeentwickelung im thierischen Körper, ohne den Einfluss der Atmosphäre in Rechnung zu ziehen; die Function der Galle in der Verdauung wurde erklärt, ohne die Galle zu kennen. Daher denn der immer sich wiederholende Streit über die Ursachen des Lebens, welcher an und für sich so unerquicklich, zweck- und nutzlos ist, weil uns die allernächsten Ursachen der einfachsten Lebenserscheinungen kaum bekannt sind.

Es ist sicher, dass eine Menge Wirkungen, die wir in lebendigen Körpern wahrnehmen, durch chemisch-physikalische Ursachen bedingt werden, aber man geht viel zu weit, hieraus schliessen zu wollen, dass alle im Organismus thätigen Kräfte identisch sind mit denen, welche die todte Materie regieren. Es ist leicht darzuthun, dass die Anhänger dieser Ansicht die erste und einfachste Regel der physikalisch-chemischen Methode nicht im Auge haben, welche vorschreibt, zu beweisen, dass eine Wirkung, die man einer Ursache zuschreibt, dieser Ursache auch wirklich angehört.

Wenn die Wärme, die Elektricität, der Magnetismus, die chemische Affinität als die Ursache der Lebenserscheinungen angesehen werden sollen, so muss vorerst der Beweis geführt sein, dass die Theile eines lebendigen Körpers, in welchem Kräfte wirken, ähnliche Erscheinungen zeigen wie die unorganischen Körper, wenn sie dem Einfluss der nämlichen Kräfte unterworfen sind; es muss dargethan werden, wie die genannten Kräfte zusammenwirken, um die wunderbare Harmonie der Verrichtungen hervorzubringen, welche die organischen Wesen von ihrer ersten Entwickelung an bis zu dem Augenblick darbieten, wo ihre Elemente der unorganischen Natur verfallen. Denn wenn man voraussetzt, dass die Kräfte der unorganischen Natur identisch mit denen der organischen sind, so nimmt man nothwendig an, dass alle Naturkräfte überhaupt uns bekannt, dass ihre Wirkungen ermittelt sind, dass man im Stande ist, von den Wirkungen rückwärts die Ursachen zu erschliessen und aus einander zu setzen, welchen Antheil jede einzelne an den Verrichtungen des Lebens nimmt.

Es genügt einen Blick auf die Schriften der Autoren zu werfen, welche diese Ansicht vertheidigen, um sogleich wahrzunehmen, wie weit wir von dergleichen allgemeinen Schlüssen noch entfernt sind. In der Regel gehen diese Ansichten von sehr tüchtigen und gründlichen Forschern aus, welche sich vorzüglich mit der Ermittelung der Bewegungserscheinungen im Thierorganismus beschäftigen; indem sie finden, dass sie nach

[176] bestimmten mechanischen Gesetzen vor sich gehen, sind sie verführt zu glauben, dass sie von denselben Ursachen bedingt sind, wie die ähnlichen Bewegungserscheinungen, welche wir ausserhalb des Körpers wahrnehmen. Keiner hat aber bis jetzt nur den Versuch gewagt, die Beziehungen dieser Wirkungen zur Wärme, Elektricität, magnetischen Kraft etc. zu bezeichnen, oder das Verhältniss ihrer Abhängigkeit von diesen Kräften nachzuweisen. Alles, was man davon weiss, ist, dass die unorganischen Kräfte an diesen Wirkungen einen gewissen Antheil haben.

Auf der anderen Seite ist es ganz unmöglich, die Meinungen der Vitalisten zu theilen, welche glauben, die Geheimnisse des Lebens durch die Annahme einer oder mehrerer Lebenskräfte erklären zu können; sie nehmen eine Erscheinung, ohne vorher zu untersuchen, ob sie einfach oder zusammengesetzt ist; sie fragen, ob dieselbe durch die chemische Affinität, durch die elektrische oder magnetische Kraft erklärt werden kann, und da es im gegenwärtigen Augenblick unmöglich ist, diese Frage, gestützt auf unzweifelhafte Beweise, zu bejahen, so schliessen sie daraus, die Erscheinung sei durch keine von diesen, sondern durch ganz besondere, den belebten Wesen eigenthümliche Kräfte bedingt[3]. Aber in der Aufsuchung der Ursachen von Erscheinungen ist die Methode der Ausschliessung nur in den Fällen gestattet, in welchen man die Gewissheit hat, dass die Anzahl der Ursachen, auf welche die Wirkung bezogen werden kann, fest bestimmt ist, und dass man beweist, dass die Wirkungen von allen diesen Ursachen nur einer einzigen angehören.

Die physikalischen Kräfte sind ihrem Wesen nach sehr wenig bekannt, und Niemand kann behaupten, dass eine derselben wirkungslos in einem gegebenen Falle sei, dass sie an irgend einer Lebenserscheinung keinen Antheil habe. Man hat zwischen den elektrischen Kräften und der chemischen Affinität den wunderbarsten Zusammenhang wahrgenommen; aber wir sind noch weit davon entfernt, die Beziehungen zwischen beiden mit Sicherheit zu kennen. Die Cohäsion oder die Ursache des Zusammenhangs gleichartiger Atome ist uns ihrem Wesen nach am wenigsten bekannt und ihre Beziehungen zur Affinität sind uns noch dunkeler, als die der letzteren zu den elektrischen Kräften. Die Affinität ist für uns im gegenwärtigen Augenblick die Ursache, der wir die Verbindung ungleichartiger Atome unmittelbar zuschreiben; aber die gegenseitige Anziehung der nämlichen Körper bleibt sich nicht gleich, und es ist unmöglich, diese Kraft für sich allein zu betrachten, weil sie nie allein thätig ist und weil wir, um eine ihrer Wirkungen richtig zu beurtheilen, genöthigt sind die Umstände zu berücksichtigen, die Temperatur, Cohäsion, den elektrischen Zustand etc., in welchen sich die Körper befinden.

Wir haben in der neueren Zeit eine grosse Anzahl von Erscheinungen kennen gelernt, von denen wir kaum wissen, welche von allen den bekannten Ursachen daran Theil haben. In früherer Zeit würde man sich beeilt haben, die Existenz ganz besonderer, bis dahin unbekannter Kräfte daraus zu folgern; wir thun dies nicht, weil wir unserer Unwissenheit in Beziehung auf die Eigenthümlichkeiten der bekannten, namentlich der sogenannten Molecularkräfte, der Cohäsion und Affinität, uns bewusst sind.

Wenn man in ein gewöhnliches Champagnerglas eine in der Wärme gesättigte Lösung von Glaubersalz in Wasser (2 Theile Glaubersalz auf

[177] 1 Theil Wasser) giesst und erkalten lässt, so krystallisirt das Salz und die Flüssigkeit gesteht zu einer dicken Masse von, dem Eis ähnlichen, Krystallen. Wird das nämliche Glas mit derselben warmen Lösung bis zur Hälfte angefüllt und die Oeffnung desselben mit einer Glasplatte, einem Uhrglase oder einem Kartenblatt bedeckt und dann erkalten gelassen, so setzt die übersättigte Flüssigkeit nach zehn und mehr Stunden keine Krystalle ab, selbst dann nicht, wenn das Kartenblatt oder das Uhrglas hinweggenommen werden. Taucht man jetzt einen gewöhnlichen Glasstab in die Flüssigkeit ein, so bilden sich von seiner Oberfläche aus die schönsten Spiesse und Blätter von Glaubersalzkrystallen; in wenigen Secunden ist die ganze Flüssigkeit fest. Die Flüssigkeit ist in einem Glasgefässe enthalten, aber mit diesem Glas in Berührung krystallisirt sie nicht; ein anderes Stück Glas, was nicht mit derselben erkaltete, bringt aber sogleich Krystallisation hervor. Diese Erscheinung ist merkwürdig genug, aber viel auffallender ist der Umstand, dass, wenn man das eine Ende desselben Glasstabs in einer Weingeistflamme einige Minuten lang erhitzt und dann erkalten lässt, der Glasstab an diesem Ende völlig unwirksam auf die Krystallisation des Glaubersalzes wird; man kann denselben in die Flüssigkeit eintauchen und darin herumbewegen, ohne dass eine Veränderung wahrnehmbar ist; dreht man aber den Glasstab um und berührt die Flüssigkeit mit dem ungeglühten Ende, so erstarrt sie sogleich zu einer blätterigen Krystallmasse; der oberflächlichen Beobachtung erscheint der Glasstab, wie wenn er Pole, gleich einem Magnetstab, hätte; auf der einen Seite behält er eine Eigenschaft, die er am anderen Ende durch die Wärme verliert; an freier Luft liegend, nimmt er nach und nach die verlorene Eigenschaft wieder an: aber in einem verschlossenen Gefässe aufbewahrt, bleibt er 10 bis 14 Tage lang unwirksam. Selbst nach dem Eintauchen des Stabes in Wasser und Trocknen an der Luft empfängt derselbe die verlorene Wirksamkeit nicht wieder.

Ueber den Einfluss der Bewegung auf die Krystallisation haben wir eine befriedigende Erklärung, aber die Wirkung der Wärme auf die Eigenschaft des Glasstabes, die Krystallbildung einzuleiten, ist uns bis jetzt noch völlig dunkel.

Wenn man einen Kupferstich auf eine niedrige offene Schachtel legt, auf deren Boden sich etwas Jod befindet und in dieser Weise einige Minuten lang den Dämpfen von Jod aussetzt, die sich bei gewöhnlicher Temperatur bilden, und dann auf ein Stück Papier fest aufdrückt, welches, wie das gewöhnliche Maschinenpapier, mit Stärkmehl geleimt und mit sehr verdünnter Schwefelsäure befeuchtet ist, so erhält man auf diesem Papier einen vollkommen genauen Abdruck des Kupferstichs in dem schönsten Himmelblau. Legt man den blauen Abdruck auf eine Kupferplatte, so verschwinden allmählich die blauen Linien auf dem Papier und es erscheint jetzt das Bild vollkommen deutlich auf dem Kupfer. Ein Kupferstich, eine Zeichnung, sogar ein Oelgemälde, wenn sie wenige Augenblicke den Joddämpfen ausgesetzt werden, reproduciren sich auf einer Silberplatte, und wenn diese jetzt den Dämpfen von Quecksilber ausgesetzt und auf gewöhnliche Weise behandelt wird, so hat man ein den schönsten Daguerreotypen gleiches Bild. Es ist hier vollkommen deutlich, dass die dunkeln Stellen des Kupferstichs oder die schwarze

[178] Farbe die Joddämpfe angezogen und verdichtet haben, in einem weit höheren Grade, als das weisse Papier. Ein feuchter Ueberzug von Stärkekleister entzieht der schwarzen Farbe das Jod, auf dem Papier entsteht eine blaue Jodverbindung, ein blauer Abdruck des Kupferstichs; eine Kupferplatte entzieht der blauen Amylonverbindung das Jod, es entsteht auf der Platte eine Zeichnung aus Kupferjodür.

Es ist augenscheinlich, dass das weisse Papier, die schwarze Farbe, das Stärkmehl und Kupfer zu dem Jod eine höchst ungleiche Anziehung haben, und dass die Ursache der Verdichtung des Jods identisch ist mit der, welche überhaupt die Verdichtung der Gase an er Oberfläche der Körper bewirkt. Die schwarze Farbe zieht das Jod an, aber es ist keine eigentlich chemische Verbindung entstanden, denn die Eigenschaften der Farbe sind unveränderlich geblieben und von den Eigenschaften des Jods ist nur seine Verdampfbarkeit aufgehoben oder verringert; es wirkt auf Amylon wie freies Jod.

Diese Erscheinungen erinnern unwillkürlich an einen der merkwürdigsten Vorgänge im thierischen Körper, an die Rolle, welche die festen Bestandtheile des Blutes in dem Athmungsprocess spielen.

Die Blutflüssigkeit verdankt ihre Farbe den Blutkörperchen; wir wissen, dass diese in der Lunge einen Wechsel von Dunkelroth in Scharlachroth erfahren, und beobachten mit diesem Farbwechsel gleichzeitig eine Sauerstoffabsorption; die physiologischen Erscheinungen sowohl, wie das Verhalten der von den Blutkörperchen befreiten Blutflüssigkeit gegen Luft und Sauerstoffgas geben zu erkennen, dass ein grosser Theil des in das Blut tretenden Sauerstoffgases von den Blutkörperchen aufgenommen wird und dass sie gegen dieses Gas sich wie rauhe oder gefärbte Körper gegen die Dämpfe des Jods verhalten; das Sauerstoffgas geht eine Verbindung eigener Art damit ein; denn es behält bei der Absorption seinen chemischen Charakter, sein Vermögen sich mit anderen Materien während des Kreislaufs zu verbinden, zu denen es Verwandtschaft hat.

Wir setzen voraus, dass die Anziehung der schwarzen Farbe eines Kupferstichs zu Jod (und wie Niepce gezeigt hat zu Chlor und einer Menge von dampfförmigen Substanzen), so wie die der Blutkörperchen zum Sauerstoffgas eine Wirkung der chemischen Affinität ist; aber unsere Vorstellungen über das Wesen dieser Kraft sind bis jetzt so eng, dass wir für diese Art von Verbindungen nicht einmal einen Namen haben.

Es giebt, wie man sieht, Erscheinungen genug, welche nach dem Muster der gebräuchlichen eingelernten Vorstellungen nicht erklärt werden können, es sind Anzeichen und Beweise, dass wir noch weit entfernt sind, die Gesetze der bekannten Kräfte zu kennen. Wir können mit einer gegebenen Menge Schwefelsäure unbegrenzte Mengen von Alkohol in Aether und Wasser zerfallen machen, wir können mit Hülfe der nämlichen Schwefelsäure eine Menge von Stärkmehl in Traubenzucker überführen, ohne dass sie neutralisirt wird; diese Wirkungen sind durchaus verschieden von der Wirkung, welche die Schwefelsäure darbietet, wenn sie mit Metallen oder mit Metalloxyden in Berührung gebracht wird, aber es ist vollkommen thöricht, sie einer eigenen von der chemischen Affinität ganz verschiedenen Ursache zuzuschreiben. Was wir gewöhnlich

[179] mit chemischer Action bezeichnen, ist eine Aeusserung der chemischen Kraft und nichts weiter als eine Thatsache, welche beweist, dass in einem gegebenen Fall die chemische Anziehung stärker ist als alle Widerstände, die sich ihrer Aeusserung entgegensetzen. Die chemische Verbindung ist aber nur ein, und sicher nicht der einzige Effect der chemischen Affinität.

Dieser unvollkommene Zustand unserer Kenntnisse von dem Wesen und den Wirkungen der Naturkräfte erklärt, warum man in dem gegenwärtigen Augenblicke die Frage in Beziehung auf die Existenz einer besonderen, in dem lebendigen Leibe wirkenden Ursache seiner Thätigkeit durch die Methode der Ausschliessung nicht lösen kann.

  1. Bemerkenswerth ist, dass die Galle des Schweins eine eigenthümliche, von allen anderen bis jetzt untersuchten Gallen verschiedene organische Säure enthält.
  2. In diesen Eigenschaften ist das Blutfibrin sehr verschieden von dem Fleischfibrin, einem Hauptbestandtheil des Thierkörpers, welches sich unter diesen Umständen zu einer klaren, nur durch Fetttheilchen getrübten Flüssigkeit auflöst.
  3. WS: korrigiert. Im Original: hedingt