Chemische Briefe/Vorreden
[III]
CHEMISCHE BRIEFE
VON
JUSTUS VON LIEBIG.
SECHSTE AUFLAGE.
Neuer unveränderter Abdruck der Ausgabe letzter Hand.
LEIPZIG UND HEIDELBERG.
C. F. WINTER’SCHE VERLAGSHANDLUNG.
1878.
[IV] Die Herausgabe einer Uebersetzung in englischer, französischer oder andern modernen Sprachen wird vorbehalten.
[V]
[VI] Dem Kreise von Männern der Kunst und Wissenschaft, welchen Ew. Majestät im verflossenen Winter um Sich versammelten, um in Vorträgen und lebendiger Wechselrede ein Bild der Geistesbewegung der Zeit zu erhalten, verdanke ich grossentheils die Anregung zu dem Neuen, was diese vierte Auflage der chemischen Briefe enthält.
Wenn ich daher Ew. Majestät, welche dem praktischen Leben und dessen Wohlfahrt, wie der Wissenschaft und ihren Fortschritten gleich liebevolle und erfolgreiche Theilnahme schenken, in tiefster Ehrfurcht dieses Werk zu widmen wage, welches die Verbindung beider und ihr gedeihliches Zusammenwirken vermitteln soll, so geschieht es in dankbarer Erinnerung an den wirksamen und thätigen Antheil, den Ew. Majestät Selbst an meinen Arbeiten zu nehmen geruht haben.
München, den 1. December 1858.
[VII]
Ohne die verborgenen Fäden zu kennen, an welche sich die dem Leben und der Wissenschaft zugewachsenen Erwerbungen knüpfen, dürfte es auch dem aufmerksamsten Beobachter nicht gelingen, zum Verständniss der gegenwärtigen Zeit in ihrer materiellen und intellectuellen Gestaltung zu gelangen. Dem gebildeten Menschen ist diese Kenntniss ein Bedürfniss, in so fern sie die erste und wichtigste Bedingung der Entwickelung und Vervollkommnung seines geistigen Lebens in sich schliesst; für ihn ist das Bewusstwerden der Ursachen und Kräfte, die so vielen und reichen Erfolgen zu Grunde liegen, an sich schon Gewinn, weil durch das Geschehene das Bestehende erst klar und das Auge für das Zukünftige empfänglich gemacht wird. Mit ihrer Bekanntschaft nimmt er an der Bewegung Theil, es verliert sich durch sie das anscheinend Zufällige und Räthselhafte der gewonnenen Resultate von selbst, und in dem natürlichsten, nothwendigsten Zusammenhange erscheinen ihm die neuen und gesteigerten Geistesrichtungen der Zeit. Indem er Besitz von den ihm gebotenen geistigen Gütern nimmt, erwächst ihm der Vortheil, sie nach seinem Willen und Vermögen zu seinem Nutzen zu verwenden, zur Vermehrung dieser Reichthümer beitragen, ihre Segnungen zu verbreiten und fruchtbringend für Andere zu machen.
Von diesem Gesichtspunkte aus sind die chemischen Briefe verfasst; sie haben den Zweck, die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt auf den Zustand und die Bedeutung der Chemie, auf die Aufgaben, mit deren Lösung sich die Chemiker beschäftigen, und den Antheil zu lenken, den diese Wissenschaft an den Fortschritten der Industrie Mechanik, Physik, Agricultur und Physiologie genommen hat.
Diese Briefe sind, im Sinne des Wortes, für die gebildete Welt geschrieben, welche vor der Erörterung der wichtigsten und schwierigsten Fragen in der Wissenschaft, in so fern sie einflussreich für den weiteren Fortschritt und die Anwendungen sind, nicht zurückzuschrecken gewohnt ist, für eine Classe von Lesern, die an einer sogenannten populären Form der Darstellung, womit man gewöhnlich das Herabziehen in das Gemeine und das platte Verständlichmachen [VIII] bezeichnet, kein Gefallen finden kann. Die Naturforschung hat das Eigene, dass alle ihre Resultate dem gesunden Menschenverstande des Laien eben so klar, einleuchtend und verständlich sind, wie dem Gelehrten, dass der Letztere vor dem Andern nichts voraus hat, als die Kenntniss der Mittel und Wege, durch welche sie erworben wurden; diese sind aber für die nützlichen Anwendungen in den meisten Fällen völlig gleichgültig.
Die von mir in der Darstellung gewählte Form bedarf, wie ich glaube, keiner weiteren Entschuldigung; ich glaube sie mir selbst und der Zeitschrift schuldig zu sein, in welcher diese Briefe zuerst erschienen sind.
Jeder, der mit einiger Aufmerksamkeit sich über die deutschen Zustände unterrichtet, muss erkennen, dass die in Augsburg erscheinende Allgemeine Zeitung durch ihre Verbreitung, durch den Umfang und die Mannichfaltigkeit ihrer Richtungen, durch die Tiefe und Gründlichkeit ihrer Mittheilungen aus allen Fächern des Wissens, so wie durch den richtigen Geschmack und den feinen Gefühlssinn der Männer, denen ihre Leitung anvertraut ist, für die Bedürfnisse der Gegenwart zu einem Organ der Culturgeschichte in politischen, socialen und wissenschaftlichen Beziehungen sich erhoben hat, und es erklärt sich hieraus von selbst, warum ich einer wiederholten dringenden Aufforderung des Besitzers dieser Zeitung gerne entsprach und den Versuch unternahm, der Chemie in einem weiteren Kreise der Gesellschaft Zutritt zu verschaffen.
Giessen, im Juli 1844.
Die Bearbeitung einer neuen Auflage meiner chemischen Briefe veranlasst mich, einige Briefe über den Ursprung und die Entwickelung der Chemie hinzuzufügen; ich habe für diesen Zweck vorzüglich das treffliche Werk von H. Kopp „Geschichte der Chemie, 4 Bände. Braunschweig 1843“, die „Geschichte der Medicin“ von Kurt Sprengel und Dr. Carriere’s Werk „die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit. Stuttgart 1847“, benutzt. Für den zwanzigsten Brief hat mir das Werk des Herrn Chevreul: Considérations générales sur l’analyse organique. Paris, 1824, wesentliche Dienste geleistet. Im Ganzen enthält die neue Auflage
[IX] sieben Briefe mehr, wie die früheren, und ihr Umfang ist dadurch auf das Doppelte gestiegen. Die Briefe sieben- und achtundzwanzig enthalten die Umrisse meiner in den letzten sechs Jahren fortgesetzten Untersuchungen in dem Gebiete der Thierchemie und Physiologie. Die angeführten Analysen sind, bis auf wenige, unter meinen Augen durch einige geschickte junge Chemiker, die Herrn Dr. Verdeil aus Lausanne, Porter, Dr. Breed und Johnson aus Newyork, Zedeler aus Kopenhagen, Lehmann aus Dresden, Dr. Keller aus Würzburg, Dr. Griepenkerl, jetzt Professor in Göttingen, Dr. Stölzel in Heidelberg, Stammer aus Luxemburg, Dr. Henneberg, Buchner und Kekulé aus Darmstadt, H. Arzbächer, und meine beiden Assistenten Dr. Strecker und Dr. Fleitmann ausgeführt worden, denen ich hiermit meinen Dank für die mir geleistete Hülfe ausdrücke.
Ausser manchen Erweiterungen einzelner chemischer Briefe habe ich in dieser neuen Auflage eine Anzahl von Vorträgen von allgemein wissenschaftlichem Interesse über das Studium der Naturwissenschaften (2. Brief), über den Kräftewechsel in der unorganischen Natur (13. Brief), über den Eigenschaftswechsel der Körper (15. Brief), über den Materialismus (23. Brief), über die Selbstverbrennung (24. Brief) dafür bearbeitet und eine Reihe agriculturchemischer Briefe hinzugefügt (37. bis 50. Brief), über die ich einige erläuternde Bemerkungen voranschicken muss.
Die seit Ende des vorigen Jahrhunderts in der Landwirthschaft gemachten grossen Fortschritte bewegten sich im Wesentlichen um Verbesserungen in der Praxis, womit ich den technischen Betrieb bezeichnen will; die erfolgreichen Leistungen Thaer’s und anderer ausgezeichneter Männer sind in dieser Richtung längst anerkannt. Durch die Errichtung von Lehranstalten, durch welche die erworbenen Erfahrungen und die besten in England und Belgien üblichen Culturmethoden in den weitesten Kreisen verbreitet wurden, haben sich erleuchtete Fürsten, vor Allem der hochsinnige Gründer Hohenheims, unsterbliche Verdienste um die deutsche Landwirthschaft
[X] erworben. Die neue und höhere Entwickelungsstufe in der Gegenwart ist dadurch angebahnt worden. Der wirksamen Anwendung wissenschaftlicher Grundsätze in allen technischen Gewerben und im Besonderen in der Landwirthschaft geht naturgesetzlich die Vervollkommnung in der Technik voraus; so lange der Techniker noch durch Regelung und Verbesserungen in dem Betriebe seines Geschäftes Vortheile erzielen kann, beschäftigt er sich mit nichts Anderm, allein durch Verbesserungen in der Technik oder der Bewirthschaftung erreicht man nicht Alles, der Betrieb an sich giebt ihm keine Einsicht in sein Thun, so wenig wie einen zuverlässigen Massstab für den Werth seiner Erfahrungen; er will zuletzt sich durch das Herkömmliche nicht mehr beherrschen lassen. Alles dies soll ihm die Wissenschaft verleihen.
Wie dies beim Uebergange in ein neues Stadium stets geschieht, ist in den letzten Jahren ein Widerstreit der Technik mit der Wissenschaft geführt worden; die erstere konnte mit den ungewohnten Hülfsmitteln, welche die andere bot, nicht zurecht kommen, und der Widerstreit ist leicht erklärlich.
Wenn in der That ein Mann aus den gebildeten Kreisen, welcher nicht Landwirth ist, die in den verflossenen Jahren erschienenen landwirthschaftlichen Werke und Zeitschriften durchgeht, so wird er die Wahrnehmung machen, dass die überwiegende Mehrzahl der landwirthschaftlichen Schriftsteller darüber vollkommen einig ist, dass die Ansichten, die ich in der Landwirthschaft vertrete, keine praktische Bedeutung haben und zum Theil als widerlegt angesehen werden müssen. Die Erfahrung sei älter als die Wissenschaft, sie habe den praktischen Mann längst belehrt, was ihm Noth thue, und der Erfolg zeige, dass sein Betrieb den Verhältnissen angemessen und der beste sei; seine hohen und steigenden Erträge seien unwiderlegbare Beweise für die Ansichten, die ihn leiteten.
Diese Aeusserungen und Urtheile sind nicht allgemein gültig, allein sie haben ihre Berechtigung. Die landwirthschaftliche Literatur, in welcher sich diese Meinungen bewegen, ist nämlich im wesentlichen nur für die Classe der wohlhabenden Landwirthe vorhanden, welche die landwirthschaftlichen Handbücher und Zeitschriften kaufen und halten können, und es ist einleuchtend, dass sich die Bedürfnisse, die Wünsche und die Praxis dieser Landwirthe in der Literatur abspiegelt, welche ihnen ihr Bestehen verdankt. Es kann dies naturgemäss nicht anders sein. Ein solcher Landwirth ist in der Regel Fleisch- und Kornerzeuger, meistens reich an Gut und Geld; seine Felder umfassen Ackerland und Wiesen;
[XI] sein Viehstand ist beträchtlich; er erzeugt reichlich Stalldünger und er wendet denselben nicht sparsam an; er hat eine Oelmühle, die ihm in den Oelkuchen, eine Branntweinbrennerei oder Bierbrauerei, die ihm in den Rückständen nach der Verfütterung werthvolle Beidünger liefert; wenn er Mangel an Dünger hat, so besitzt er dagegen Geld, mit welchem er Guano, Chilisalpeter, Knochenmehl und Repskuchenmehl ankauft; sein Wissen besteht in der Bekanntschaft mit dem Werthe des Stalldüngers und der genannten Beidünger, die er sehr richtig schätzt und anwendet; sein Verwalter oder Baumeister überwacht die ein für allemal geregelte Fruchtfolge und die Düngungszeit, ohne hierzu wissenschaftlicher Lehren zu bedürfen; es sind für ihn, so sagt dieser, andere Verhältnisse massgebend, die ihm genug zu schaffen machen.
Der reiche Gutsbesitzer ist ein gebildeter Mann, welcher noch gewisse geistige Bedürfnisse hat. Die landwirthschaftliche Literatur füllt diese Lücke aus; der landwirthschaftliche Schriftsteller belegt mit theoretischen Gründen die Trefflichkeit des empirischen Verfahrens, er befestigt die Ansichten des praktischen Mannes und giebt ihnen die wissenschaftliche Rundung. Wenn auch die Erklärungen zuweilen ganz unbestreitbaren Wahrheiten widersprechen, so haben sie dagegen den Vortheil, dass der Landwirth glaubt, sie seien seinen Erfahrungen entsprechend; um mehr als dessen Zufriedenheit damit, was man die Uebereinstimmung der Praxis mit der Theorie nennt, handelt es sich dabei nicht. In der Korn- und Fleischerzeugung z. B. bleiben die im Stalldünger wirkenden Alkalien auf den Feldern zurück, und im Betriebe nimmt die Menge derselben eher zu als ab; ein Ersatz derselben ist darum nicht nothwendig, oft überflüssig. Was in der Natur des Betriebes liegt, erklärt der Schriftsteller dem praktischen Mann aus der Natur seines Bodens; er sagt ihm, der Ersatz der hinweggenommenen Alkalien sei darum nicht nothwendig, weil sein Boden unerschöpflich daran sei; dies ist zwar ein Widerspruch mit allem was die Chemie darüber weiss, allein es ist wohl ganz gleichgültig, ob der Boden erschöpflich ist oder nicht, wenn die Hauptsache, ein weiterer Ersatz von Aussen durch Kauf etc., gleichgültig ist.
Der Schriftsteller belehrt den praktischen Mann ferner, warum der Guano und die andern Düngmittel, womit er dem Stalldünger zu Hülfe kommt, so nützlich für ihn sind; es sei klar, so sagt er, dass alle diese Stoffe in dem Stickstoff einen gemeinschaftlichen Bestandtheil besitzen, und da die Anwendung derselben einen gleichen Erfolg (eine entsprechende Steigerung der Erträge) habe, so sei selbstverständlich,
[XII] dass die Ursache eine Allen gemeinsame, d. h. bei Allen die gleiche sein müsse; sie belehren ihn, dass er im Korn und Fleisch Stickstoff ausführe und die Erschöpfung des Bodens eine Folge dieser Ausfuhr sei, und dass er naturgesetzlich durch den Ersatz des Stickstoffes den Acker wieder tragbar mache. Es wäre mehr als thöricht, die Thatsache der Wiederherstellung der Fruchtbarkeit der Getreidefelder durch Guano – Knochenmehl – Repskuchenmehl in Zweifel zu ziehen, sie entspricht der Erfahrung des praktischen Mannes, darum hält dieser denn auch die Erklärung für wahr, obwohl sie nur den Schein der Wahrheit für sich hat; er findet sich zufriedengestellt im Glauben, dass sein Betrieb rationell und wissenschaftlich begründet sei, was er in der Wirklichkeit nicht ist.
Praktische Fragen wie die: warum die Nachwirkung der genannten Düngmittel nicht die gleiche und von der des Stalldüngers so verschieden ist, oder warum der Klee auf manchen Feldern nicht mehr gedeiht, oder warum die Erbsen erst in langen Zwischenräumen auf demselben Felde wieder gute Ernten geben, beschäftigen den schriftstellernden Landwirth natürlich nicht; er spricht davon wie von der Natur gegebenen Dingen, die sich nicht ändern lassen, und die der Landwirth in seinem Betriebe zurecht legen müsse. Aber in dem nicht leicht denkbaren Falle, dass die Lösung derselben oder die Beseitigung einer Schwierigkeit dem praktischen Manne, dem er sie aufgebürdet, gelingen sollte, betrachtet er es als seine schönste Aufgabe, ihm durch eine Reihe von chemischen Analysen zu beweisen, wie innig die Theorie sich der Praxis anschliesst.
Diese Lehren der schriftstellernden Landwirthe bringen den Landwirthen, für die sie gemacht sind, keinen Schaden; die letzteren erhalten ihre Felder durch Stallmist und durch Ankauf von Guano und den andern Beidüngern dauernd fruchtbar; eine Erschöpfung derselben findet in ihrem einfachen Betriebe nicht statt; was sie an Korn- und Fleischbestandtheilen dem Felde nehmen, ersetzen sie vollständig und mehr als vollständig wieder.
Obwohl für diese glücklichen Feldbesitzer die wissenschaftliche Lehre eine sehr untergeordnete Rolle in ihrem Betriebe spielt, indem ihr ganzes Wissen in ein paar Recepten besteht, die sich auf ein Kartenblatt schreiben lassen, so sind dennoch für sie die geschätztesten landwirthschaftlichen Hand- und Lehrbücher und die meisten Artikel in den landwirthschaftlichen Zeitschriften verfasst; für sie werden landwirthschaftliche Bodenkunden und Düngerlehren geschrieben, mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen aus der Chemie, Physik, Botanik und Geognosie verziert; für sie die vielen chemischen Analysen von
[XIII] Korn und Stroh, von Heu und Rüben gemacht; sie lesen oder verstehen freilich dies alles nicht, weil in der That kein verständlicher Sinn darin ist, und wissen, dass diese Zahlenreihen sie in ihrem Geschäfte um kein Haar breit fördern, allein sie erfreuen sich doch daran wegen der tiefen wissenschaftlichen Begründung der Landwirthschaft, die sie mit Neigung und Nutzen betreiben.
Eine zweite, zunächst kommende Classe von Landwirthen besitzt Grund und Boden, aber weniger Capital als die erste; ihre Felder geben durch die einfache Bewirthschaftung mit Stalldünger gute Ernten, sie kaufen wenig oder unzureichend Guano oder von den andern Beidüngern, und auf die Lehre der landwirthschaftlichen Schriftsteller von der Unerschöpflichkeit ihrer Felder an den Mineralbestandtheilen vertrauend, die für einen ganz anderen Betrieb berechnet ist, glauben sie, dass die Fruchtbarkeit keine Grenze habe; an den vorräthigen Bedingungen der Fruchtbarkeit ihrer Felder fehle es noch nicht und meinen, es sei dann erst Zeit der Noth zu begegnen, wenn sie an ihre Thüre klopfe.
Auch diese lesen die landwirthschaftlichen Zeitschriften und sind vollkommen mit sich einig, dass die Grundsätze der Wissenschaft auf ihren Betrieb nicht passten. Sie sind das Echo der Ansichten der Männer der ersten Classe und warme Anhänger der Lehren der landwirthschaftlichen Schriftsteller, obwohl durch ihren Betrieb ihre Felder jedes Jahr dem Ruine näher geführt werden, dem sie unausweichlich durch ihre Bewirthschaftung verfallen müssen.
Der Widerstand, den die wissenschaftliche Lehre bei den Männern der Praxis dieser Classe gefunden hat, beruht theils auf der Unbekanntschaft mit den unverfälschten Grundsätzen derselben, theils auf ihrer unrichtigen Auffassung und Auslegung.
Wenn ich den falschen Urtheilen und dem Widerspruch dieser Männer in rein chemischen Dingen, welche den Boden, den Dünger und die Ernährung der Pflanzen betreffen, mit derjenigen Schärfe entgegengetreten bin, welche die Ueberzeugung eingiebt, so muss man nicht verkennen, dass sie im Streite die Angreifer gewesen sind; ein Angriff ihrer Ansichten von meiner Seite wäre nicht zu entschuldigen gewesen, da sie mit der Unbefangenheit, welche denen eigen ist, die sich über Dinge ein Urtheil zutrauen, die sie nicht verstehen, offen das Geständniss abgelegt haben, dass die Chemie und die Naturwissenschaften ihnen fremde Gebiete sind.
Es sind ohne Ausnahme Männer, welche die Achtung verdienen, die sie in bürgerlichen Verhältnissen geniessen, und welche persönlich zu verletzen mir nicht in den Sinn kommen konnte.
[XIV] Aber wenn sie als Träger und Verbreiter von Lehren auftreten, welche nichts für sich haben, als dass man ein halbes Jahrhundert darnach gewirthschaftet hat, denen alle und jede vernunftgemässe und dem Standpunkt der Chemie und den andern Naturwissenschaften entsprechende Begründung ermangelt, Lehren, die im Verlauf der Zeit die Quellen des Wohlstandes der ackerbautreibenden Bevölkerung zum Versiegen bringen müssten, so würde mir eine jede Rücksicht auf ihre Person und Stellung zur Verdeckung der Schwäche und Haltlosigkeit ihrer Gründe und ihrer völligen Unbekanntschaft mit den Anfangsgründen der Chemie und der Naturwissenschaften, ein Verbrechen an dem Gemeinwohl erscheinen.
Aus Mangel an wahrer Einsicht in ihren eignen Betrieb sind sie in ihrer Verblendung die schlimmsten Feinde der Wissenschaft, deren Ziel sie nicht begreifen.
Es sind in ihren Folgen zu ernste Dinge, um die es sich in der Erörterung wissenschaftlicher Fragen in der Landwirthschaft handelt, und es mag sich jeder vorher prüfen, ob er sie richtig versteht, ehe er das Wort ergreift.
Ein Hauptziel des praktischen Mannes ist wirksame Dünger aufzufinden, durch deren Anwendung unfruchtbare Felder fruchtbar und die Erträge des fruchtbaren verdoppelt werden, aber auf dem empirischen Wege mit verbundenen Augen werden sie nicht oder nur durch Zufall gefunden: der praktische Mann weiss nicht, dass man sich Jahre lang mit kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen abmühen muss, ehe man das Grosse begreift.
Der Weg, auf dem die Wissenschaft wirksame Dünger sucht, ist ein anderer, viel mühsamerer aber sicherer; dieser Weg ist doppelt schwierig, weil der Mann der Wissenschaft, der ihn einschlägt, nicht nur die irrigen Lehren in dem Gebiete der Praxis zu bekämpfen hat, sondern auch die Irrthümer in seiner eigenen Wissenschaft, die ihn als Kind seiner Zeit beherrschen und seinen Fuss zum Straucheln bringen; allein er weiss, dass die Erkenntniss eines Irrthums an sich ein Sieg und der Pfad zum Lichte dornenvoll und finster ist.
Die herrschende landwirthschaftliche Literatur hat keine Hülfe für die kleinen Gutsbesitzer, den kleinen Bauer, für den, welcher wenig oder kein Capital, kein gutes Ackerland, keine Wiesen, einen unzureichenden Viehstand und darum wenig oder keinen Stalldünger besitzt, und die, welche Handelsgewächse, Tabak, Hopfen, Flachs, Hanf oder Wein bauen, finden in ihr keine Belehrung, keine Einsicht in das Wesen ihres Betriebes, sondern nur unzureichende für gewisse Oertlichkeiten passende Vorschriften.
[XV] Die Wissenschaft soll hingegen ein Gemeingut Aller sein, sie soll allen Hülfsbedürftigen und Hülfesuchenden helfen und das geistige Vermögen der Armen und Reichen vermehren, die „reinen Sinnes“ die Wahrheit wollen.
Man wird hieraus die Gründe entnehmen, die mich bestimmt haben, eine Reihe von landwirthschaftlichen Briefen in diese neue Ausgabe meiner chemischen Briefe aufzunehmen; ich wünsche die gebildeten Männer der Nation mit den Grundsätzen bekannt zu machen, welche die Chemie in Bezug auf die Ernährung der Pflanzen, auf die Bedingungen der Fruchtbarkeit der Felder und die Ursachen ihrer Erschöpfung ermittelt hat, und wenn ich glücklich genug bin, die Ueberzeugung von ihrer Wichtigkeit und ihrer hohen nationalökonomischen Bedeutung in einem weiteren Kreise zu verbreiten und zu befestigen, so scheint mir damit eine Aufgabe meines Lebens gelöst; mit ihrem Beistand halte ich den Erfolg für gewiss; ohne ihre Hülfe scheint er mir unmöglich zu sein.
Für diejenigen Landwirthe, welche Gegner der wissenschaftlichen Lehre aus Unbekanntschaft mit derselben sind, ist es zuletzt wichtig, ihre Aufmerksamkeit immer wieder und ohne müde zu werden den Thatsachen zuzulenken, auf welchen die wissenschaftlichen Grundsätze beruhen, denn wenn es gelingt, ihr Nachdenken für die Prüfung derselben zu gewinnen, so sind sie auch für die Lehre gewonnen.
Die in den Naturwissenschaften erworbenen Gesetze beherrschen den zukünftigen geistigen und materiellen Fortschritt der Länder und Völker, jeder Einzelne ist an den Fragen betheiligt, die sich an ihre Anwendung knüpfen.
In der gegenwärtigen Zeit, wo die Ueberzeugung von der Wichtigkeit der Bekanntschaft mit den Naturerscheinungen immer mehr Boden in den Bevölkerungen gewinnt und wo die Anwendung der Naturgesetze auf die Verbesserungen in den Gewerben, der Industrie und Landwirthschaft, so wie zur Befriedigung vieler andern Bedürfnisse des Lebens, beinahe täglich zu den grössten und bewundernswürdigsten Erfolgen führt und geführt hat, hat es der Herr Verleger meiner „Chemischen Briefe“ für angemessen und nützlich
[XVI] gehalten, dieses Werk in einer Volksausgabe den weitesten Kreisen zugänglich zu machen; ich wünsche aufrichtig, dass es auch in diesen zahlreiche Freunde sich erwerben und dazu beitragen möchte, dem Verständniss der Lehren der Wissenschaft, zum Nutzen für die Praxis, den Weg zu bahnen.
München, den 1. Juli 1865.
Die chemischen Briefe meines Vaters gehören der Nationalliteratur an, und werden in derselben, so wie er sie verfasst hat, ein Denkmal seines Geistes und der Stufe bleiben, auf welche er seine Wissenschaft geführt.
Aus diesem Grunde, und weil in der That die nach ihm vorgenommenen Forschungen noch keine Ergebnisse geliefert haben, welche eine Umbildung der Grundlagen seiner Lehren bedingen, hielten die Familienglieder es für geeignet den Text, wie er ihn zuletzt selbst festgestellt, unverändert abdrucken zu lassen.
München, den 1. Januar 1878.