Chemische Briefe/Sechsundzwanzigster Brief
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Die Entdeckungen der Chemie im Gebiete der Physiologie haben in der neueren Zeit über viele der wichtigsten Vorgänge im Thierorganismus ungeahnte Aufschlüsse gegeben und zu klareren Begriffen geführt über das, was Gift-, Nahrungs- oder Arzneimittel genannt werden muss. Der Begriff von Hunger und Tod bewegt sich nicht mehr um eine blosse Beschreibung von Zuständen.
Wir wissen jetzt mit positiver Gewissheit, dass die Speisen der Menschen und Thiere in zwei grosse Classen zerfallen, von denen die eine zur eigentlichen Ernährung und Neubildung der festen Theile ihres Leibes, die zweite hingegen zur Vermittelung dieser Processe und zu anderen Zwecken dient. Es lässt sich jetzt mit mathematischer Sicherheit beweisen, dass eine Messerspitze voll Mehl in Beziehung auf die Blutbildung nahrhafter ist, als fünf Maass des besten bayerischen Bieres, dass ein Individuum, welches im Stande ist, täglich fünf Maass Bier zu trinken, in einem Jahre im günstigsten Falle genau die nahrhaften Bestandtheile von einem fünfpfündigen Laib Brod oder von drei Pfund Fleisch verzehrt.
Die völlige Umkehrung aller früheren Begriffe über den Antheil, den Bier, Zucker, Stärkmehl etc. an dem Lebensprocess nehmen, gewährt einer näheren Kenntniss der neuesten Forschungen und Ansichten in diesem Gebiete gewiss einiges Interesse.
Zu den ersten Bedingungen der Unterhaltung des thierischen Lebens gehört die Annahme von Nahrung (Stillung des Hungers) und von Sauerstoff aus der Luft (Athmungsprocess). In jedem Zeittheilchen seines Lebens nimmt der Mensch durch die Organe der Respiration Sauerstoff auf. Nie ist, so lange das Thier lebt, ein Stillstand bemerklich. Die Beobachtungen der Physiologen zeigen, dass der Körper eines erwachsenen Menschen nach vierundzwanzig Stunden bei hinlänglicher Nahrung an Gewicht weder zu- noch abgenommen hat; dennoch ist die Menge von Sauerstoff, die in dieser Zeit in seinen Organismus aufgenommen wurde, höchst beträchtlich. Nach Lavoisier’s und Menzie’s Versuchen werden von einem erwachsenen Mann in einem Jahre 7 bis 800 Pfund Sauerstoffgas aus der Atmosphäre in seinen Körper aufgenommen und dennoch finden wir sein Gewicht zu Anfang und zu Ende des Jahres
[217] entweder ganz verändert, oder die Ab- und Zunahme bewegt sich um wenige Pfunde. Wo ist, kann man fragen, dieses enorme Gewicht an Sauerstoff hingekommen, das ein Individuum im Verlaufe eines Jahres in sich aufnimmt? Diese Frage ist mit befriedigender Sicherheit gelöst: kein Theil des aufgenommenen Sauerstoffs bleibt im Körper, sondern er tritt in der Form einer Kohlenstoff- oder einer Wasserstoffverbindung wieder aus. Der Kohlenstoff und der Wasserstoff von gewissen Bestandtheilen des Thierkörpers haben sich mit dem durch die Haut und Lunge aufgenommenen Sauerstoff verbunden, sie sind als Kohlensäure und Wasserdampf wieder ausgetreten. Mit jedem Athemzuge, in jedem Lebensmomente trennen sich von dem Thierorganismus gewisse Mengen seiner Bestandtheile, nachdem sie mit dem Sauerstoff der atmosphärischen Luft eine Verbindung in dem Körper selbst eingegangen sind. Wenn wir die Blutmenge in dem Körper eines Menschen zu 12 Pfund bei einem Wassergehalt von 80 Procent annehmen, so ergiebt sich aus der bekannten Zusammensetzung des Blutes, dass zu einer völligen Verwandlung des Kohlenstoffs und Wasserstoffs im Blut in Kohlensäure und Wasser eine Quantität Sauerstoff nöthig ist, die in zwei bis drei Tagen in den Körper eines erwachsenen Menschen aufgenommen wird.
Gleichgültig, ob der Sauerstoff an die Bestandtheile des Blutes tritt oder an andere kohlen- und wasserstoffreiche Materien im Körper, es kann dem Schlusse nichts entgegengesetzt werden, dass dem menschlichen Körper in zwei Tagen und fünf Stunden so viel an Kohlen- und Wasserstoff in seinen Nahrungsmitteln wieder zugeführt werden muss, als nöthig wäre, 12 Pfund Blut mit diesen Bestandtheilen zu versehen, vorausgesetzt, dass das Gewicht des Körpers sich nicht ändern, dass er seine normale Beschaffenheit behaupten soll.
Diese Zufuhr geschieht durch die Speisen.
Aus der genauen Bestimmung der Kohlenstoffmenge, welche durch die Speisen in den Körper aufgenommen wird, so wie durch die Ausmittelung derjenigen Quantität, welche durch die Fäces und den Urin unverbrannt oder, wenn man will, in einer anderen Form, als in der einer Sauerstoffverbindung, wieder austritt, ergiebt sich, dass ein erwachsener Mann, im Zustande mässiger Bewegung, täglich 27 8/10 Loth Kohlenstoff verzehrt[1]. Diese 27 8/10 Loth Kohlenstoff entweichen aus Haut
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Zwei Thiere, die in gleichen Zeiten ungleiche Mengen von Sauerstoff durch Haut und Lunge in sich aufnehmen, verzehren in einem ähnlichen Verhältniss ein ungleiches Gewicht von der nämlichen Speise.
In gleichen Zeiten ist der Sauerstoffverbrauch ausdrückbar durch die Anzahl der Athemzüge; es ist klar, dass bei einem und demselben Thiere die Menge der zu geniessenden Nahrung wechselt je nach der Stärke und Anzahl der Athemzüge.
Ein Kind, dessen Respirationswerkzeuge sich in grösserer Thätigkeit befinden, muss häufiger und verhältnissmässig mehr Nahrung zu sich nehmen als ein Erwachsener, es kann den Hunger weniger leicht ertragen. Ein Vogel stirbt bei Mangel an Nahrung den dritten Tag; eine Schlange, die in einer Stunde, unter einer Glasglocke athmend, kaum so viel Sauerstoff verzehrt, dass die davon erzeugte Kohlensäure wahrnehmbar ist, lebt drei Monate und länger ohne Nahrung.
Im Zustand der Ruhe beträgt die Anzahl der Athemzüge weniger als im Zustand der Bewegung und Arbeit. Die Menge der in beiden Zuständen nothwendigen Nahrung muss in dem nämlichen Verhältniss stehen.
Ein Ueberfluss von Nahrung und Mangel an eingeathmetem Sauerstoff (an Bewegung), so wie starke Bewegung (die zu einem grösseren Maass von Nahrung zwingt) und schwache Verdauungsorgane sind unverträglich mit einander.
Die Menge des Sauerstoffs, welche ein Thier durch die Lunge aufnimmt, ist aber nicht allein abhängig von der Anzahl der Athemzüge, sondern auch von der Grösse und dem Umfang der Lungen und von der Schnelligkeit, mit welcher das Blut seinen Ort wechselt; die Anzahl der Pulsschläge in einer gegebenen Zeit giebt ein ziemlich genaues Maass für die Geschwindigkeit ab, mit welcher das Blut durch die Lungen strömt, obwohl damit die Menge des zufliessenden Blutes, welche von der Grösse oder dem inneren Raume der Herzkammer abhängig ist, nicht gemessen
[219] werden kann. Alle diese Verhältnisse üben einen bestimmten Einfluss auf den Sauerstoffverbrauch und in dessen Folge auf die Menge der zu geniessenden Speise aus. Zwei Individuen mit ungleichen Pulsschlägen oder ungleich grossen Lungen verbrauchen unter gleichen Verhältnissen ein ungleiches Maass von Nahrung; das mit der kleineren Lunge verbraucht weniger. Wenn beide gleich viel Speisen verzehren, so kann der Fall eintreten, dass der Eine mager bleibt, während der Andere fett wird. Die richtige Beurtheilung der Brusthöhle giebt den erfahrenen Landwirthen einen sicheren Anhaltpunkt zur Schätzung des Milchertrags zweier Kühe, oder der Mastfähigkeit zweier Ochsen oder Schweine von sonst gleicher Beschaffenheit ab.
Im Sommer enthält die atmosphärische Luft Wassergas, im Winter ist sie trocken. Der Raum, den der Wasserdampf in der warmen Luft einnimmt, wird im Winter von Luft eingenommen, d. h. sie enthält bei gleichem Volum im Winter mehr Sauerstoff als im Sommer.
In ähnlicher Weise ändert sich die absolute Sauerstoffmenge des eingeathmeten Luftvolumens mit dem Barometerstande; an dem Ufer des Meeres enthält ein Cubikfuss Luft mehr Sauerstoff als wie auf hohen Bergen. Auf den bewohnten Gebirgsebenen Central-Amerika’s, in einer Höhe von 8 bis 10,000 Fuss, enthält die Luft in gleichem Volum beinahe ein Drittel weniger Sauerstoff als in den tiefen Schichten der Zinnbergwerke zu Cornwallis; aber diese Aenderungen in der Dichtigkeit der Luft durch Temperatur, Verdunstung oder Druck üben keinen bemerklichen Einfluss auf die Sauerstoffmenge, welche in jeder Zeitsecunde von dem Blute aufgenommen wird, und damit auf den täglichen Bedarf an Speise aus.
Der Sauerstoffverbrauch ist lediglich abhängig von den Athembewegungen und von der Bewegung des Blutes, und es erklärt sich hieraus der Einfluss einer erschlaffenden Hitze in warmen Klimaten und der grössere Verbrauch an Sauerstoff in kalter Luft, in welcher die Anzahl und Tiefe der Athemzüge zunimmt.
Die Wechselwirkung der Bestandtheile der Speisen und des durch die Blutcirculation im Körper verbreiteten Sauerstoffs ist die Quelle der thierischen Wärme.
- ↑ Die eben angeführten Zahlen sind durchschnittlich dem Verbrauch von 856 Mann casernirter Soldaten entnommen, deren Speisen (Brod, Kartoffeln, Fleisch, Linsen, Erbsen, Bohnen etc.) während eines Monats bis auf Pfeffer, Salz und Butter mit der grössten Genauigkeit gewogen und jedes Einzelne der Elementaranalyse unterworfen worden war. Eine Ausnahme hiervon machten drei Gardisten, welche ausser dem vorschriftmässigen Brodquantum (2 Pfund täglich) in jeder Löhnungsperiode ½ Laib = 2½ Pfund mehr bekamen, und ein Tambour der ½ Laib übrig behielt. Ungerechnet hierin ist der Kohlenstoffgehalt der frischen Gemüse, des Sauerkrauts, so wie dasjenige, was die Soldaten des Abends verzehrten. Nach einem annähernden Ueberschlage des Feldwebels verzehrt jeder Soldat täglich durchschnittlich 6 Loth Wurst, 1½ Loth Butter, ½ Schoppen (¼ Liter) Bier und 1/10 Schoppen Branntwein, deren Kohlenstoffgehalt mehr als das Doppelte beträgt von dem Kohlenstoffgehalt der Fäces und des Urins zusammengenommen. Die Fäces betragen bei einem Soldaten durchschnittlich 11½ Loth, sie enthalten 75 Proc. Wasser und der trockene Rückstand 45,24 Proc. Kohlenstoff und 13,15 Proc. Asche. 100 Theile frische Fäces enthalten hiernach 11,31 Kohlenstoff, sehr nahe so viel wie ein gleiches Gewicht frisches Fleisch. In obiger Rechnung ist der Kohlenstoff der Fäces und der des Urins gleichgesetzt worden dem Kohlenstoffgehalt der frischen Gemüse und der anderen Speisen, welche im Wirthshause verzehrt wurden.
WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt