Chemische Briefe/Fünfundzwanzigster Brief

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von: Justus von Liebig
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Fünfundzwanzigster Brief.


Die Geschichte der Wissenschaften giebt uns die tröstliche Gewissheit, dass wir auf dem Wege des Versuches und der Beobachtung dahin gelangen werden, die Wunder des organischen Lebens zu entschleiern, dass wir im Stande sein werden, über alle Ursachen, welche Antheil an den Lebenserscheinungen nehmen, bestimmtere Aufschlüsse zu erhalten. Alle Eigenthümlichkeiten der Körper, alle ihre Eigenschaften sind durch das Zusammenwirken mehrerer Ursachen bedingt, und es ist die Aufgabe

[208] der Naturforschung, das Verhältniss zu ermitteln, welches jede einzelne Ursache an der Erscheinung nimmt. Um zur Erkenntniss der gegenseitigen Beziehungen dieser Eigenschaften zu gelangen, müssen wir zuerst diese Eigenschaften kennen zu lernen suchen und dann die Fälle ermitteln, in denen sie wechseln. Es ist ein Naturgesetz, welches keine Ausnahme hat, dass die Abweichungen in einer Eigenschaft stets und unwandelbar geleitet sind von gleichförmig entsprechenden Abweichungen in einer andern Eigenschaft, und es ist vollkommen einleuchtend, dass, wenn wir die Gesetze dieser Abweichungen kennen, wir in den Stand gesetzt sind, aus der einen Eigenschaft ohne weitere Beobachtung die der andern zu erschliessen.

Ein Naturgesetz ermitteln heisst nichts anderes, als ein solches Abhängigkeits-Verhältniss ermitteln; die Bekanntschaft mit dem Gesetz schliesst die Erklärung der Erscheinung, die Einsicht in das Wesen der Kräfte in sich ein, durch die sie bedingt wird.

Es ist bekannt, dass eine jede Flüssigkeit unter denselben Bedingungen bei einem unveränderlichen Temperaturgrade in’s Sieden geräth; dies ist so constant, dass wir den Siedepunkt als eine charakteristische Eigenschaft derselben bezeichnen.

Eine der Bedingungen der constanten Temperatur, bei welcher sich im Innern der Flüssigkeiten Dampfblasen bilden, ist der äussere Druck; mit diesem Druck wechselt bei allen Flüssigkeiten, bei einer jeden nach einem besonderen Gesetze, der Siedepunkt, er nimmt zu oder ab, wenn der Druck wächst oder kleiner wird. Einer jeden Siedetemperatur entspricht ein bestimmter Druck, einem jeden Drucke eine bestimmte Temperatur. Die Kenntniss dieses Gesetzes der Abhängigkeit des Siedepunktes des Wassers von dem Druck der Atmosphäre hat dahin geführt, durch das Thermometer festzusetzen, in welcher Höhe man sich über dem Meere befindet, durch die Abweichungen in der einen Eigenschaft eine andere zu messen.

Minder bekannt dürften die Beziehungen sein, in welchen die Siedepunkte der Flüssigkeiten zu ihrer Zusammensetzung stehen. Der Holzgeist, Weingeist und das Fuselöl des Kartoffelbranntweins sind drei Flüssigkeiten, deren Siedepunkt sehr verschieden ist. Der Holzgeist siedet bei 59°, der Weingeist bei 78°, das Fuselöl bei 135° C. Die Vergleichung dieser drei Siedepunkte ergiebt, dass der Siedepunkt des Weingeistes 19° höher als der des Holzgeistes ist (59° + 19° = 78°), der des Fuselöls ist viermal 19° höher (59 + 4 × 19 = 135°).

Jede dieser drei Flüssigkeiten liefert durch Oxydation unter gleichen Umständen eine Säure; aus dem Holzgeist entsteht Ameisensäure, aus dem Weingeist Essigsäure, aus dem Fuselöl Baldriansäure. Von diesen drei Säuren hat jede wieder ihren constanten Siedepunkt. Die Ameisensäure siedet bei 99°, die Essigsäure bei 118°, die Baldriansäure bei 175° C. Wenn man diese drei Siedepunkte mit einander vergleicht, so ergiebt sich sogleich, dass sie in einem ganz ähnlichen Verhältnisse zu einander stehen, wie die der Flüssigkeiten, aus denen die Säuren entstanden sind. Der Siedepunkt der Essigsäure ist um 19° höher als der der Ameisensäure, der Siedepunkt der Baldriansäure ist viermal 19° höher.

[209] Einer gleichförmigen Abweichung in der einen Eigenschaft entsprach, wie man sieht, eine gleichförmige Abweichung in einer andern Eigenschaft. Die eine Eigenschaft ist hier die Zusammensetzung.

Vergleicht man die Zusammensetzung der sechs Körper, der drei Säuren und der drei Flüssigkeiten, aus denen sie durch den Einfluss des Sauerstoffs entstehen, so ergiebt sich Folgendes. Die Zusammensetzung des Holzgeistes wird durch die Formel C2H4O2, die des Weingeistes durch C4H6O2, die des Fuselöls durch die Formel C10H12O2 bezeichnet.

Wenn wir nun eine Gewichtsmenge Kohlenstoff und Wasserstoff, welche der Formel CH (gleichen Aequivalenten) entspricht, mit R bezeichnen, so sieht man sogleich, dass die des Weingeistes ausdrückbar ist durch die des Holzgeistes + 2 R;

Holzgeist Weingeist
C2H4O2 + C2H2 = C4H6O2

Die des Fuselöls ist ausdrückbar durch die des Holzgeistes + 8 R.

Holzgeist Fuselöl
C2H4O2 + C8H8 = C10H12O2

Die Formel der Ameisensäure ist C2H2O4; die der Essigsäure C4H4O4; die der Baldriansäure ist C10H10O4. Man beobachtet leicht, dass die Formel der Essigsäure ausdrückbar ist durch die der Ameisensäure + 2 R.

Diesen Erfahrungen gemäss entspricht dem Eintreten oder dem Mehrgehalt von 2 Aeq. Kohlenstoff und 2 Aeq. Wasserstoff oder von 2 R, ein um 19° steigender Siedepunkt. Es lässt sich zeigen, dass die Beziehung zwischen dieser Gruppe ganz constant ist und dass sich aus der Kenntniss des Siedepunktes in der That ein Rückschluss auf die Zusammensetzung machen lässt. Der Siedepunkt des ameisensauren Methyloxyds ist 36°, der des ameisensauren Aethyloxyds 55°, der Unterschied zwischen beiden beträgt 19°. Hieraus sollte geschlossen werden können, dass die Zusammensetzung des letzteren von dem ersteren um C2H2 oder 2 R abweicht. Dies ist in der That der Fall. Die Formel des ameisensauren Methyloxyds ist C4H4O4, die der entsprechenden Aethylverbindung C6H6O4, also genau um C2H2 höher. So siedet die Buttersäure bei 156°, ihr Siedepunkt ist genau um dreimal 19° höher als der der Ameisensäure. Die Vergleichung ihrer Formeln sagt, dass die Buttersäure angesehen werden kann als Ameisensäure + 6 R. Das Toluidin und Anilin sind zwei organische Basen, beide durch ihre Zusammensetzung in so fern verschieden, dass das Toluidin C2H2 oder 2 R mehr enthält als das Anilin. Die Vergleichung ihrer Siedepunkte zeigt, dass der Siedepunkt des Toluidins um 19° höher ist.

Niemand wird in diesen Beispielen für diese Gruppe die Existenz eines Naturgesetzes verkennen und zu zweifeln vermögen, dass die Qualitäten eines Körpers in einer bestimmten Beziehung zu seiner Zusammensetzung stehen, dass einer Aenderung in einer Qualität eine gleichförmige Abweichung in etwas Quantitativem entspricht. Es verdient hier ganz besonders hervorgehoben zu werden, dass die Kenntniss des Naturgesetzes ganz unabhängig ist von der eigentlichen Ursache oder von den Bedingungen, welche zusammengenommen den constanten Siedepunkt bewirken; denn was der Siedepunkt an und für sich ist, ist uns so unbekannt, wie der Begriff des Lebens.

[210] Es ist in dem obigen Beispiele die Beziehung von nur einer Qualität der Körper und ihrer Zusammensetzung hervorgehoben worden; allein dieser Beziehungen giebt es eben so viele, als wie der Körper besondere Eigenschaften besitzt. Für eine grosse Gruppe von organisch-chemischen Verbindungen hat man ein Gesetz ermittelt, wonach sich aus der Kenntniss des Siedepunktes und der Zusammensetzung festsetzen lässt, wie viel Pfunde ein Kubikfuss der Verbindung wiegt, dass also auch die Eigenschaft des specifischen Gewichtes, des Druckes also, den die Körper bei gleichem Rauminhalte auf eine Unterlage äussern, in einer ganz bestimmten Beziehung zu zwei anderen steht, die sich ändert, so wie sich diese beiden ändern.

Ein ähnliches Abhängigkeitsverhältniss hat sich in Beziehung auf die Wärmemenge, welche verschiedene Körper bedürfen, um sich auf einerlei Temperatur zu erheben, und die Gewichtsverhältnisse herausgestellt, in denen sie sich unter einander verbinden.

Es ist eine bekannte Thatsache, dass verschiedene Körper bei einerlei Temperatur verschiedene Wärmemengen enthalten. Gleiche Gewichte Schwefel, Eisen und Blei, die man auf den Siedepunkt des Wassers erwärmt hat, bringen, mit Eis in Berührung, eine gewisse Menge davon zum Schmelzen, und zwar ist die Menge flüssiges Wasser, welches unter diesen Umständen entsteht, sehr verschieden.

Wäre das Wärmequantum in den drei Körpern gleich, so müsste die Menge des geschmolzenen Eises bei allen gleich viel betragen, und der ungleiche Effect, der hier hervorgebracht wird, zeigt an und für sich schon auf die Ungleichheit der wirkenden Ursache. Der Schwefel schmilzt sechs und ein halb mal, das Eisen viermal so viel Eis als das Blei. Es ist vollkommen einleuchtend, dass wenn wir Schwefel, Eisen und Blei auf einerlei Temperaturdifferenz, von 15° auf 200° z. B. mit derselben Spirituslampe zu erhitzen haben, so würden wir für Blei z. B. 1 Loth, für dieselbe Menge Schwefel 6½ Loth und für das gleiche Gewicht Eisen fast 4 Loth Spiritus zu verbrennen haben.

Diese verschiedenen Wärmemengen, welche gleiche Gewichte verschiedener Körper brauchen, um auf eine gegebene Temperaturdifferenz erwärmt zu werden, die jedem derselben eigenthümlich sind, heissen gerade deshalb die eigenthümlichen oder specifischen Wärmen. Aus der Kenntniss der ungleichen Wärmemengen, welche die Körper bei gleichem Gewichte und einerlei Temperatur enthalten, gestattet ein einfaches Regel-de-tri-Exempel, die ungleichen Gewichte von Schwefel, Blei und Eisen zu berechnen, welche ein gleiches Wärmequantum enthalten, und es ergiebt sich aus dieser Berechnung, dass z. B. 16 Schwefel so viel Eis schmelzen, wie 28 Eisen und 104 Blei von gleicher Temperatur. Diese Zahlen sind die nämlichen, wie die Mischungsgewichte (Aequivalentzahlen). Gleiche Aequivalente dieser und vieler anderer Körper enthalten oder nehmen, um sich auf einerlei Temperatur zu erheben, einerlei Wärmemengen auf, und wenn wir uns die Aequivalente als die relativen Gewichte der Atome denken, so ist klar, dass die Wärmemenge, die ein Atom unter gleichen Bedingungen aufnimmt oder abgiebt, für je ein Atom gleich ist, und sich, in Zahlen ausgedrückt, umgekehrt verhält, wie die Gewichte der Atome.

[211] Es ist gewiss ein seltsames Resultat, dass die Menge Eis, die ein Körper schmilzt, dazu gedient hat, um in manchen Fällen die Gewichtsverhältnisse zu berichtigen und festzusetzen, in denen sich dieser Körper mit anderen verbindet.

Noch viel sonderbarer mag es aber Vielen erscheinen, dass diese Eigenschaft (Wärme aufzunehmen oder abzugeben) bei den luftförmigen Körpern in einer ganz bestimmten Beziehung steht zu dem Tone einer Pfeife oder Flöte, welcher durch Einblasen des Gases hervorgebracht wird, so zwar, dass ein berühmter Naturforscher (Dulong) aus dem ungleichen Tone die Menge der Wärme beziehungsweise festzusetzen vermochte, welche bei constantem Volumen die Gase beim Zusammenpressen entlassen oder bei ihrer Ausdehnung verschlucken.

Um eine klare Einsicht in diesen merkwürdigen Zusammenhang zu haben, muss man sich einen der schönsten Gedanken von La Place, hinsichtlich des Zusammenhangs der specifischen Wärme der Gase mit ihrem Fortpflanzungsvermögen des Schalles, erinnern. Es ist bekannt, dass Newton und viele auf ihn folgende Mathematiker vergebens versuchten, eine der Beobachtung entsprechende Formel für die Geschwindigkeit des Schalles aufzustellen. Das Berechnete war dem Resultate der Beobachtung nahe; allein es zeigte sich stets ein unerklärbarer Unterschied. Da nun die Verbreitung des Schalles durch das Vibriren der elastischen Lufttheilchen, in Folge also eines Zusammenpressens und einer darauf folgenden Ausdehnung derselben geschieht, und bei dem Zusammenpressen der Luft Wärme frei, und bei der Wiederausdehnung Wärme verschluckt wird, so vermuthete La Place, dass dieses Wärmephänomen einen Einfluss auf die Fortleitung des Schalles haben müsse, und es zeigte sich in der That, dass nach in Rechnungstellung der specifischen Wärme der Luft die Formel des Mathematikers frei von allen Fehlern und ein genauer Ausdruck für die beobachtete Geschwindigkeit war.

Wenn man nun die Geschwindigkeit des Schalles nach der Newton’schen Formel (also ohne Rücksicht auf die specifische Wärme der Luft) berechnet und sie mit der Formel von La Place vergleicht, so ergiebt sich zwischen beiden ein Unterschied in der Länge des Raumes, den eine Schallwelle in einer Secunde in beiden Fällen zurücklegt. Dieser Unterschied rührt von der specifischen Wärme der Luft, von der Wärmemenge her, die bei der Fortpflanzung des Schalles aus den in Bewegung gesetzten Lufttheilchen frei wird. Es ist nun klar, dass dieser Unterschied in der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalles in anderen Gasen, die bei gleichem Volumen mehr oder weniger Wärme als die Luft enthalten und durch den Druck entlassen, grösser oder kleiner ausfallen wird, als für die Luft, und es ist somit leicht ersichtlich, wie die Zahlen, welche diese ungleiche Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalles in verschiedenen Gasen ausdrücken, zu gleicher Zeit ein Maass abgeben für die ungleichen Wärmemengen, die sie enthalten.

Da nun die Höhe oder Tiefe des Tones von der Anzahl der Vibrationen einer Schallwelle in einer Secunde, also von der Geschwindigkeit abhängig ist, mit welcher sich die eingetretene Bewegung fortpflanzt, und man weiss, dass in allen Gasen die Fortpflanzungsgeschwindigkeit

[212] einer Schallwelle direct proportional ist der Anzahl der Vibrationen der Töne, die dadurch hervorgebracht werden, so erklärt sich hieraus, wie durch die ungleiche Höhe des Tones, welcher durch verschiedene Gase mittelst einer Pfeife hervorgebracht wird, die specifische Wärme der Gase (wie viel das eine Gas mehr als das andere Gas enthält) ermittelt werden kann.

Die grosse Entdeckung, dass die musikalische Harmonie, ein jeder Ton, der das Herz rührt, zur Freude stimmt, für Tapferkeit begeistert, das Merkzeichen einer bestimmten und bestimmbaren Anzahl von Schwingungen der Theile des fortpflanzenden Mediums ist und damit ein Zeichen von Allem, was nach den Gesetzen der Wellenlehre erschliessbar ist aus dieser Bewegung, hat die Akustik zu dem Range erhoben, den sie gegenwärtig einnimmt. Eine Menge die Töne betreffender Wahrheiten wurden aus der Wellenlehre erschliessbar, während empirische Wahrheiten zu einer entsprechenden Kenntniss der Eigenschaften vibrirender Körper führten, welche früher ganz unbekannt waren.

Man unterlegt dem berühmten Wiener Violinverfertiger, dass er sich das Holz zu seinen Violinen im Walde mit dem Hammer ausgesucht, dass er diejenigen Bäume gewählt habe, die beim Anklopfen einen gewissen ihm allein bekannten Ton gegeben hatten. Dies ist sicher eine Fabel; dass er aber wusste, dass das obere oder untere Bret einer guten Violine in einer Secunde eine gewisse Anzahl Schwingungen machen, einen bestimmten Ton geben, und dass die Dicke des Bretes hiernach eingerichtet werden müsse, darüber kann man nicht den geringsten Zweifel hegen.

Wenn man zuletzt erwägt, dass der durch einen Metalldraht gehende elektrische Strom in einem ganz bestimmten Verhältnisse steht zu den magnetischen Eigenschaften, welche dieser Draht hierdurch empfängt, wenn man sich erinnert, dass durch die Magnetnadel die feinsten Unterschiede der strahlenden Wärme gemessen werden können, dass die Quantität der in Bewegung gesetzten Elektricität in Zahlen ausdrückbar ist durch die nämliche Magnetnadel, dass sie gemessen werden kann in Cubikzollen Wasserstoffgas und in Gewichtstheilen von Metallen; wenn wir also sehen, dass die Ursachen oder Kräfte, von welchen die Eigenschaften der Körper, ihre Fähigkeit, auf unsere Sinne einen Eindruck zu machen oder überhaupt einen Effect auszuüben, in einem ermittelbaren Abhängigkeitsverhältnisse zu einander stehen, wer könnte gegenwärtig daran zweifeln, dass die vitalen Eigenschaften diesen Gesetzen der Abhängigkeit gleich allen andern Eigenschaften folgen, dass die chemischen und physikalischen Eigenschaften der Elemente, ihre Form- oder Ordnungsweise, eine ganz bestimmte und bestimmbare Rolle in den Lebenserscheinungen spielen?

Die blosse Kenntniss der chemischen Formeln reicht natürlich hierzu nicht aus, sondern es ist nothwendig, die Gesetze der Beziehungen zu ermitteln, in welchen die Zusammensetzung und Form der Nahrung oder der Secrete zu dem Ernährungsprocesse oder die Zusammensetzung der Heilmittel zu den Wirkungen, die sie auf den Organismus ausüben, stehen.

Es ist gewiss, dass alle Fortschritte der Physiologie der Pflanzen und Thiere von Aristoteles bis auf unsere Zeiten nur durch die Fortschritte

[213] der Anatomie möglich gemacht worden sind. So wie Derjenige über die Destillation im Dunkeln bleiben wird, der nichts mehr davon gesehen hat, als die Maische, das Feuer und den Hahn, aus welchem der Spiritus tropft, so ist in der That ohne Kenntniss des Apparates die Einsicht in den Vorgang unmöglich. Nun ist aber der Organismus ein viel zusammengesetzterer Apparat, der vor allen anderen eine ganz genaue Kenntniss der Structur aller einzelnen Theile erfordert, ehe man ihre Bedeutung und die Function für das Ganze beurtheilen kann. (Schleiden.)

Man muss aber immer im Auge behalten, dass seit Aristoteles bis auf Leuvenhoek’s Zeiten die Anatomie für sich über die Gesetze der Lebenserscheinungen nur theilweise Licht verbreitet hat, dass uns die Kenntniss des Destillationsapparates allein über seinen Zweck nicht unterrichtet, dass für viele organische Processe dasselbe behauptet werden kann wie für die Destillation, wo Der, welcher die Natur des Feuers, die Gesetze der Verbreitung der Wärme, die Gesetze der Verdampfung, die Zusammensetzung der Maische und die des Productes der Destillation kennt, unendlich mehr von der Destillation weiss, nicht allein als Der, welcher den Apparat in seinen kleinsten Theilen kennt, sondern auch unendlich mehr als der Kupferschmied, der den Apparat gemacht hat.

Mit jeder Entdeckung in der Anatomie haben die Beschreibungen an Schärfe, Genauigkeit und Umfang zugenommen; die rastlose Forschung ist bis zur Zelle angelangt; von diesem Höhepunkt an muss eine neue Forschung beginnen.

Wenn die anatomische Kenntniss zur Lösung einer physiologischen Frage dienen soll, so muss nothwendig noch Etwas mit hinzugezogen werden, und das Nächste ist doch offenbar der Stoff, aus dem die Form besteht, die Kräfte und die Eigenschaften, die ihm neben den vitalen zukommen, die Kenntniss des Ursprunges des Stoffes und der Veränderungen, die er erfährt um vitale Eigenschaften zu erlangen; es ist zuletzt unerlässlich, die Beziehungen zu kennen, in welchen alle Bestandtheile des Organismus, die flüssigen sowohl wie die festen, ganz abgesehen von der Form, zu einander stehen. Mit dem, was die Chemie über diese hochwichtigen Fragen zu Tage gefördert hat, scheint vielen Physiologen nur die Chemie bereichert worden zu sein, obwohl alle diese Resultate in der Chemie einen ebenso untergeordneten Platz einnehmen, wie die, welche durch die Mineralien- und Mineralwasser-Analysen erworben worden sind.

Von der falschen Vorstellung, die man sich von dem Einflusse der Chemie auf die Erklärung der vitalen Erscheinungen macht, rührt es her, dass man von der einen Seite diesen Einfluss zu gering anschlägt, während die Erwartungen und Anforderungen der anderen zu hoch gespannt sind.

Wenn zwischen zwei Thatsachen ein ganz bestimmter Zusammenhang besteht oder aufgefunden wird, so ist es die Aufgabe der Chemie keineswegs, diesen Zusammenhang zu erweisen, sondern lediglich nur denselben in Quantitäten, in Zahlen auszudrücken. Durch die Zahlen allein kann zwischen zwei Thatsachen keine Beziehung hergestellt werden, wenn diese Beziehung an sich nicht besteht.

Bittermandelöl und Benzoesäure sind ihrem Vorkommen und ihren Eigenschaften nach zwei durchaus verschiedene organische Verbindungen.

[214] Von einer gegenseitigen Beziehung zwischen beiden war vor einigen Jahren noch keine Rede. Man entdeckte nun, dass das Bittermandelöl an der Luft fest und krystallinisch wurde, und dass der entstandene Körper identisch in seinen Eigenschaften und seiner Zusammensetzung mit Benzoesäure ist. Eine Beziehung zwischen beiden war nach dieser Erfahrung unverkennbar. Die Beobachtung erwies, dass bei dem Uebergange des Bittermandelöls in Benzoesäure Sauerstoff aus der Luft aufgenommen wird, und die Analyse beider setzte die vorgegangene Umwandlung in Zahlen fest, und so weit sie erklärbar war, erklärte sie sie damit.

In einer ähnlichen Weise wurde durch das Studium der Veränderungen, welche das Kartoffelfuselöl durch den Einfluss des Sauerstoffs erfährt, eine bestimmte Beziehung zwischen diesem Körper und der Baldriansäure entdeckt und durch den Zahlenausdruck dargethan, dass sich beide zu einander wie der gewöhnliche Weinalkohol zu der Essigsäure verhalten.

Der Harn des Menschen enthält Harnstoff, häufig Harnsäure, in dem Harne gewisser Thierclassen fehlt die Harnsäure, in dem Harne anderer der Harnstoff. Mit der Zunahme der Harnsäure nimmt der Harnstoffgehalt des Harnes ab, der Harn des Fötus der Kuh enthält Allantoin, in dem Menschenharne macht die Oxalsäure einen selten fehlenden Bestandtheil aus. Der Wechsel in gewissen vitalen Vorgängen im Organismus ist begleitet von einem entsprechenden Wechsel in der Natur, Menge und Beschaffenheit der Verbindungen, welche durch die Nieren secernirt werden. Es ist die Aufgabe des Chemikers, die beobachteten Beziehungen quantitativ auszudrücken, in welchen diese Körper zu einander und zu den Vorgängen im Organismus stehen.

Die Chemie unterlegt zuvörderst durch die Analyse den Wörtern Harnstoff, Harnsäure, Allantoin, Oxalsäure ihre quantitative Bedeutung; durch diese Formeln wird noch keine Beziehung zwischen ihnen gegenseitig hergestellt, indem sie aber ihr Verhalten und die Aenderungen untersucht, welche diese Verbindungen unter dem Einflusse des Sauerstoffs und des Wassers, derjenigen Körper also erleiden, die an ihrer Bildung oder Veränderung im Organismus Antheil haben, so gelangt sie zu Ausdrücken eines bestimmten und unverkennbaren Zusammenhanges. Durch die Hinzuführung von Sauerstoff zu Harnsäure spaltet sie sich in drei Producte, in Allantoin, Harnstoff und Oxalsäure. Durch eine grössere Zufuhr von Sauerstoff geht die Harnsäure gerade auf in Harnstoff und Kohlensäure. Das Allantoin stellt sich dar als harnsaurer Harnstoff. Die Vergleichung der von dem Chemiker entdeckten Bedingungen des Ueberganges der Harnsäure in Harnstoff mit denjenigen, die den Vorgang im Organismus begleiten, führt zu dem Schlusse, dass die Bedingungen (in dem erwähnten Falle Zufuhr von Sauerstoff) in beiden Fällen die nämlichen sind oder dass sie von einander abweichen. Diese Abweichungen geben jetzt neue Anhaltpunkte zu Untersuchungen ab; mit ihrer Ermittelung ist der Vorgang erklärt.

Der Harnstoff und die Harnsäure sind Producte der Veränderungen, welche die stickstoffhaltigen Bestandtheile des Blutes unter dem Einflusse des Wassers und des Sauerstoffs erleiden. Die Beziehung zwischen dem letzteren und der Harnsäure, dem Harnstoffe zu dem Sauerstoffe

[215] der Luft und den Elementen des Wassers, die quantitativen Bedingungen ihrer Bildung drückt die Chemie in Formeln aus, und, so weit ihr Gebiet reicht, erklärt sie sie damit.

Es ist auch dem Unkundigen einleuchtend, dass die Verschiedenheit der Eigenschaften zweier Körper entweder abhängig ist von einer verschiedenen Ordnungsweise der Elemente, woraus sie bestehen, oder von einem quantitativen Unterschiede in der Zusammensetzung. Die Formeln des Chemikers sind Ausdrücke der verschiedenen Ordnungsweise oder der quantitativen Verschiedenheiten, welche die qualitativen begleiten. Die heutige Chemie kann selbst durch die sorgfältigste Analyse die Zusammensetzung eines organischen Körpers nicht mit Sicherheit feststellen, wenn die quantitative Beziehung desselben zu einem zweiten nicht ermittelt ist, über dessen Formel kein Zweifel besteht; nur in dieser Weise konnte z. B. die Formel des Bittermandelöls und Fuselöls festgesetzt werden, und wenn ein Abhängigkeitsverhältniss zwischen zwei Körpern durch unmittelbare Beobachtung nicht wahrgenommen werden kann, so ist der Chemiker genöthigt, sich durch die Experimentirkunst die Beziehungen zu schaffen; er sucht den Körper in zwei oder mehrere Producte zu spalten, er untersucht die Producte, die er durch den Einfluss des Sauerstoffs oder des Chlors, der Alkalien und Säuren daraus erhält, und durch diese Mittel gelingt es ihm zuletzt, eines oder mehrere Producte zu erhalten, deren Zusammensetzung vollständig ermittelt ist, deren Formel er kennt. An die Formel dieser Producte knüpft er jetzt die Formel des Körpers an, die er sucht. Die Summe des Ganzen, er erschliesst sie mit der Hülfe der Kenntniss eines, mehrerer oder aller Theile, aus denen das Ganze besteht. So ist die Anzahl der Aequivalente Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, die zu einem Zuckertheilchen gehören, durch die Analyse nicht bestimmbar; die Geschicklichkeit eines Chemikers giebt keinen Beweis ab für die Richtigkeit seiner Analyse des Salicins, des Amygdalins; der Zucker verbindet sich aber mit Bleioxyd, er zerlegt sich durch die Gährung in Kohlensäure und Alkohol, in zwei Verbindungen, deren Formeln genau bekannt sind; das Amygdalin zerfällt in Blausäure, in Bittermandelöl und Zucker, das Salicin in Zucker und in Saligenin.

Es ist klar, wenn das Gewicht des Körpers und des von einem oder zwei oder allen aus demselben hervorgehenden Producten und ihre Formel bekannt ist, so kann die Anzahl und das Verhältniss von einem oder zwei oder von allen seinen Elementen, d. h. seine Formel, erschlossen, das Resultat der Analyse kann dadurch bewahrheitet oder berichtigt werden.

Die Bedeutung der Formeln des Chemikers ist hiernach klar. Die richtige Formel eines Körpers drückt die quantitativen Beziehungen aus, in welchen der Körper zu einem, zwei oder mehreren anderen steht. Die Formel des Zuckers drückt die ganze Summe seiner Elemente aus, die sich mit einem Aequivalent Bleioxyd vereinigen, oder die Menge Kohlensäure und Alkohol, in welche er durch die Gährung zerfällt. Man wird hiernach verstehen, warum der Chemiker häufig gezwungen ist, den Stoff, dessen Zusammensetzung er feststellen will, in zahlreiche Producte zu spalten, warum er seine Verbindungen studirt. Alles dies sind Controlen für seine Analyse. Keine Formel verdient volles Vertrauen,

[216] wenn der Körper, dessen Zusammensetzung sie ausdrücken soll, diesen Operationen nicht unterworfen worden ist.

Indem einige neuere Physiologen vergassen, dass die Kenntniss der Beziehungen zweier Erscheinungen ihrem Ausdrucke in Zahlen vorangehen müsse, arteten die Formeln des Chemikers in ihren Händen zu einer sinnlosen Spielerei aus. Anstatt eines Ausdrucks für ein wirklich vorhandenes Abhängigkeitsverhältniss suchten sie durch Zahlen Beziehungen herzustellen, die in der Natur nicht bestehen oder niemals beobachtet worden sind. Diese Eigenschaft kommt aber den Zahlen nicht zu.