Blumen im Eise
[308] Blumen im Eise. Auf Ausstellungen, die auch für die Hersteller
des Kunsteises Preise und Ehrenmedaillen auswerfen, kann man oft
Blumen im Eise sehen. Man läßt die Kinder der Sonne und des Lichtes
einfrieren, um zu zeigen, wie klar und durchsichtig das Kunsteis ist. Es
giebt aber Blumen, die im Eise wachsen und sogar Blüthen entfalten.
Um ein solches Wunder der Natur zu sehen, muß man in den Alpen hoch
hinaufsteigen in jene Regionen, wo neben den Gletschern der eigenartig
geformte, zu Eis gewordene Schnee liegt, den der Alpenforscher unter dem
Namen Firn kennt. Kommen wir im August an den Rand eines Firnfeldes,
so werden wir, wenn das Glück uns begünstigt, durch einen seltsamen Anblick
überrascht. Aus dem Schnee erheben frisch blühende Blumen ihr Haupt,
oft in solchen Massen, daß an einer Stelle, die einen Meter lang ist, 10 bis
20 Blüthen zu sehen sind. Namentlich eine dieser Blumen fesselt uns, die
blaue Blüthe der Soldanelle. Die immergrünen Blätter derselben wachsen
unter der Firndecke am Boden; die Stengelchen wurden schon im vorhergehenden
Jahre vorbereitet und haben bei einer Temperatur von 0° die
Höhe von einigen Millimetern erreicht. Beginnt nun die Sonne des Sommers
wieder den Firn zu schmelzen und bilden sich unter der Decke desselben
Rieselwasser, deren Temperatur die des Schmelzpunktes des Eises nicht
übersteigt, so erwacht auch die Pflanze in der Tiefe zu neuem Leben.
Die Blüthenstengel beginnen mit der Knospe zu wachsen, und durch die
Wärme, welche die Athmung der Pflanze entwickelt, wird das körnige
Eis des Firnfeldes geschmolzen; die Soldanelle bohrt sich einen Gang
im Eise, bis die violette Knospe die Oberfläche erreicht und sich zur Blüthe
entfaltet. Aber nicht alle Soldanellen erreichen die Freiheit; viele bleiben
im Firn gefangen und gehen trotzdem nicht zu Grunde. Anton Kerner
von Marilaun hat in seinem trefflichen volksthümlichen Werke „Pflanzenleben“
(Leipzig, Verlag des Bibliographischen Instituts) dieses Wachsen
der Soldanellen ausführlicher beschrieben und durch eine nach der Natur
aufgenommene farbige Abbildung illustriren lassen.[WS 1] Macht man mit Beil
und Spaten durch den Firn Durchschnitte, so findet man nach seinen
Angaben einzelne Soldanellen, deren Knospen sich bereits geöffnet haben,
bevor sie über die Firndecke emporgehoben wurden. Solche Soldanellen
blühen dann thatsächlich in einer kleinen Aushöhlung des Firnes und
nehmen sich aus wie Pflanzentheile oder Insekten, die in Bernstein eingeschlossen
sind, oder wie kleine bunte Splitter, die man in Glaskugeln
eingeschmolzen hat. Das Blühen solcher Soldanellen beschränkt sich auch
merkwürdigerweise nicht nur auf das Oeffnen der Blumenkrone, es findet
sogar ein Oeffnen der Antheren statt, und nimmt man derlei Soldanellenblüthen
aus ihrem kleinen Eishause heraus und stößt an die kegelförmig
zusammenschließenden Staubbeutel, so kann man deutlich das Herausfallen
des Blüthenstaubes beobachten. *
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ 1. Band, Farbtafel vor Seite 465 Google-USA*; 3. Auflage 1913, vor Seite 433 ULB Düsseldorf