Bestrafte Habgier (Chinesische Volksmärchen)

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Bestrafte Habgier
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 209–210
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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70. Bestrafte Habgier

Es lebte ein Mann südlich vom Yangtsekiang. Der hatte eine Stelle als Lehrer angetreten in Sütschoufu an der Grenze von Schantung. Als er dort ankam, war das Schulhaus noch nicht fertig. Man hatte in der Nachbarschaft ein zweistöckiges Haus entlehnt, in dem der Lehrer vorläufig wohnen und Schule halten sollte. Das Haus stand außerhalb des Dorfes, in der Nähe des Flußufers. Eine weite Ebene, mit wildem Gestrüpp bewachsen, dehnte sich nach allen Seiten aus. Dem Lehrer gefiel die Aussicht.

So stand er eines Abends da und sah, an die Tür gelehnt, dem Sonnenuntergang zu. Der Rauch, der aus den Hütten stieg, mischte sich allmählich mit den Schatten der Dämmerung. Alle Geräusche des Tags waren verstummt. Plötzlich sah er in der Ferne am Flußufer einen Feuerschein aufblitzen. Er eilte hin, um sich die Sache anzusehen. Er fand einen hölzernen Sarg, aus dem der Feuerschein hervorkam. Er dachte bei sich selbst: „Die Edelsteine, die man den Toten mitgibt, leuchten bei Nacht. Vielleicht sind Kleinodien darin.“ In seinem Herzen wachte die Gier auf, und er vergaß darüber, daß ein Sarg ein Ruhebett der Toten ist. Er hob einen großen Stein auf und schlug damit den Sargdeckel entzwei. Er bückte sich nieder, um genauer zuzusehen. Da erblickte er im Sarg einen Jüngling ausgestreckt liegen. Sein Gesicht war weiß wie Papier. Auf dem Kopf hatte er einen Trauerhut; hänfene Kleider umhüllten den Leib, und Strohsandalen trug er an den Füßen. Der Lehrer erschrak aufs äußerste und wandte sich, um wegzugehen. Aber schon hatte sich der Leichnam aufgerichtet. Da packte ihn die Angst, und er lief davon. Der Leichnam stieg aus dem Sarg und lief ihm nach. Zum Glück war das Haus [210] nicht weit entfernt. Er lief, was er konnte, rannte die Treppe empor und schloß die Tür hinter sich zu. Allmählich kam er wieder etwas zu Atem. Draußen war kein Laut zu hören. So dachte er, die Leiche sei vielleicht nicht mitgekommen. Er öffnete das Fenster und spähte nach unten. Die Leiche lehnte an der Mauer des Hauses. Plötzlich sah sie, daß das Fenster offen war. Mit einem Satz sprang sie in die Höhe zum Fenster hinein. Vor Schreck erstarrt fiel der Lehrer die Haustreppe hinunter und blieb unten bewußtlos liegen. Da fiel auch oben die Leiche zu Boden.

Die Schüler waren um jene Zeit alle schon nach Hause gegangen. Der Hausherr wohnte in einem andern Hause, so daß kein Mensch die Geschichte bemerkte. Am andern Morgen kamen die Schüler in die Schule. Die Tür war verschlossen. Sie riefen, niemand antwortete. Da schlugen sie die Tür ein und fanden ihren Lehrer auf der Erde liegen. Sie besprengten ihn mit Ingwersuppe; aber es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam. Auf Befragen erzählte er dann, was ihm begegnet war. Alle miteinander stiegen sie dann nach oben und schafften die Leiche herab. Man brachte sie vor das Dorf und verbrannte sie. Die Knochenreste tat man dann wieder in den Sarg. Der Lehrer aber sagte seufzend: „Um der Gewinnsucht eines Augenblicks willen wäre ich beinahe ums Leben gekommen.“ Er gab seine Stelle auf und kehrte heim und hat in seinem Leben nie wieder von Gewinn geredet.

Anmerkungen des Übersetzers

[400] 70. Bestrafte Habgier. Quelle: Sü Tsi Hiä.

Trauerhut: Die Leiche trägt Trauerkleider. Nach der örtlichen Überlieferung werden junge Leute, die vor ihren Eltern sterben, mit Trauerkleidern angetan in den Sarg gelegt, damit sie im Tode noch die Pflicht, für ihre Eltern zu trauern, wenn diese gestorben sein werden, erfüllen können. Hier dient die Kleidung dazu, das Schaurige zu erhöhen.