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Nehren,

Gemeinde II. Klasse mit 1163 Einwohnern, worunter 4 Kath. – Ev. Pfarrei; die Kath. sind nach Tübingen eingepfarrt. 23/4 St. südlich von Tübingen gelegen.

Der Ort hat eine hübsche freie Lage auf dem zwischen dem Steinlachthale und seinem Seitenthale, dem des Opizbaches, sich unbedeutend erhebenden Nehrenberg. Der freundliche, ganz von Obstbaumwiesen umgebene Ort ist ziemlich langgestreckt und zieht sich mit seinem südöstlichen Theile über ein kleines Seitenthälchen des Opizbaches her. Um die breiten, ebenen und wohlgekandelten Straßen stehen, von Hofräumen unterbrochen, ziemlich regelmäßig die tüchtigen Bauernhäuser, mit den Giebeln meist gegen die Straße gekehrt.

Die kleine, unscheinbare Kirche liegt am Nordwestende des Dorfes und hat zum Theil noch Spitzbogenfenster, denen die Füllungen fehlen; der Chor schließt mit einem halben Achteck. Das flachgedeckte Innere ist durch Emporen verbaut, an einer ihrer gedrehten Holzsäulen steht 1587; dieselbe Jahreszahl findet sich außen am Giebel. Der Taufstein ist gothisch, achteckig und hohl. Der große, von 2 starken Strebepfeilern flankirte Thurm steht nördlich an der Kirche, hat unförmliche Fenster und ein Satteldach; an seinem untern flachtonnengewölbten Geschoß befindet sich eine alte mit schönem Schmiedeisenwerk| beschlagene Thüre. Von den 3 Glocken ist die eine sehr groß und hat die Umschrift: o rex gloriae criste veni cum pace anno domini 1512; die zweitgrößte ward gegossen in Reutlingen von Kurtz 1853 und hat die Umschrift: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden; die dritte ward von demselben 1843 gegossen. – Die Baulast der Kirche ruht auf der Gemeinde.

Der Begräbnißplatz liegt jetzt westlich am Orte.

Das vom Staat zu unterhaltende Pfarrhaus wurde in den vierziger Jahren gründlich erneuert und befindet sich nun in gutem Zustande.

Schul- und Rathhaus sind in einem schönen, 1842/44 errichteten Gebäude vereinigt; es enthält neben den Gelassen für den Gemeinderath 3 helle geräumige Lehrzimmer und die Wohnung des Schulmeisters. An der Schule unterrichtet außerdem noch ein Unterlehrer.

Ein Gemeindebackhaus und ein Armenhaus sind vorhanden.

Trinkwasser, das zum Theil sehr gut ist, liefern 2 laufende und 39 Pumpbrunnen; zuweilen tritt Wassermangel ein, doch nicht so, daß von auswärts Wasser bezogen werden müßte. Die Markung selbst ist arm an Quellen; es fließen die Steinlach und der Opizbach hindurch.

Im oberen Theile des Dorfes lag einst eine stattliche Burg, man sieht noch den im Viereck geführten Graben, der mit Wasser gefüllt werden konnte; auch fand man schon Spuren von Gebäuden. Der Zugang führte an der Westseite über eine Brücke, von der schon öfters eichene Pfeiler ausgegraben wurden; die Gärten in der Nähe der Burg heißen noch jetzt Weihergärten.

Die Staatsstraße von Tübingen nach Hechingen, die sog. Schweizerstraße, zieht 10 Minuten westlich vom Orte vorüber; eine Vicinalstraße geht von hier nach Mössingen.

Über die Steinlach führt eine hölzerne, von der Gemeinde zu unterhaltende Brücke.

Die fleißigen, sparsamen, geordneten und kirchlich gesinnten Einwohner zeichnen sich aus durch kräftigen Körperbau und erreichen nicht selten ein hohes Alter; gegenwärtig sind 11 über 80 Jahre alte Personen im Ort; als besondere Merkwürdigkeit ist zu erwähnen: den 14. April 1864 feierte der damals im 73. Lebensjahre stehende, noch jetzt lebende und funktionirende Schulmeister Schneider sein 50jähriges Amtsjubiläum und neben ihm stand bei der Feier sein 95jähriger Vater.

Die ehemalige so kleidsame Steinlacher Tracht ist leider längst durch die städtische verdrängt worden.

| Die Erwerbsquellen der Einwohner bestehen in Feldbau, Obstbau und Viehzucht; unter den Gewerbetreibenden sind am meisten vertreten die Weber, Maurer und Zimmerleute, von denen die beiden zuletzt genannten viel nach außen arbeiten; auch beschäftigen sich in neuerer Zeit viele Leute mit Stricken für Calwer Häuser; 2 Schildwirthschaften, 1 Kauf- und 2 Kramläden bestehen; ferner liegt an der Steinlach eine Mahlmühle mit 3 Mahl- und 1 Gerbgang, und eine Sägmühle.

Die Vermögensverhältnisse der Einwohner gehören zu den weniger günstigen: der vermöglichste Bürger hat 30, der Mittelmann 10–12, die minder bemittelte Klasse 1–2 Morgen Feld; viele haben auch gar keinen Grundbesitz; 40–50 Morgen, die hiesigen Bürgern gehören, liegen auf angrenzenden Markungen.

Die im Verhältniß zur Einwohnerzahl nicht große und überdieß noch zu 1/4 mit Wald bestockte Markung ist mit Ausnahme der Abhänge der Thäler und Thälchen ziemlich eben und hat im allgemeinen einen mittelfruchtbaren, zum Theil unergiebigen Boden, dem in unbedeutender Tiefe theils der Liasschiefer, theils ein nicht durchlassender Thon als Unterlage dienen; im ersteren Fall ist der Boden hitzig, im anderen naßkalt. Die in den Thalebenen abgelagerten Alluvionen begünstigen den Wiesenbau.

Die Umgegend ist, wie überhaupt die ganze Steinlach, den Nord- und Nordostwinden ausgesetzt und daher von Frühlingsfrösten ziemlich heimgesucht. Auch kommt wegen der nahe gelegenen Alb, an der sich die Gewitter stoßen, Hagelschlag nicht selten vor.

Die Landwirthschaft wird, so gut als es die natürlichen Verhältnisse erlauben, betrieben; die Suppinger- und Brabanter-Pflüge sind eingeführt, auch ist eine Walze vorhanden und die Düngerstätten sind sehr sorgfältig angelegt. Von den Getreidefrüchten werden vorzugsweise Dinkel und Haber, weniger Gerste gebaut und in der Brache zieht man hauptsächlich dreiblättrigen Klee, Kartoffeln und Wicken; Flachs und Hanf nur für den eigenen Bedarf. Getreidefrüchte werden mehr zugekauft als nach außen abgesetzt.

Der Wiesenbau ist bedeutend und liefert gutes Futter.

In großer Ausdehnung wird die Obstzucht betrieben, man pflanzt von Kernobst vorzugsweise die gewöhnlichen Mostsorten und von Steinobst Zwetschgen und Kirschen. In günstigen Jahren wird sehr viel Obst nach außen verkauft. Die Jungstämme bezieht man aus der Umgegend.

| Der Weinbau ging anfangs dieses Jahrhunderts ab und die Kelter wurde 1824 auf den Abbruch verkauft.

Die Gemeinde besitzt 600 Morgen vorherrschend mit Laubholz bestockte Waldungen, die jährlich etwa 50 Klafter und 3000 Stück Wellen ertragen; das Holz wird verkauft und der Erlös unter die Bürgerschaft vertheilt, überdieß erhält jeder Bürger 25 St. Wellen. Der Erlös aus dem Nutzholz mit 800–1000 fl. fließt in die Gemeindekasse. Im Gemeindewald steht die sog. dicke Eiche, deren Umfang 28′ und deren Höhe 60′ beträgt.

Die vorhandenen Allmanden werden den Ortsbürgern unentgeltlich zur Benützung überlassen.

Die Gemeinde hat 4 Morgen Güter, wovon sie 2 Morgen zu einem Hopfengarten anlegen ließ; der Ertrag aus den Gütern beträgt etwa 200 fl.

Die Rindviehzucht ist gut und bildet einen besonderen Erwerbszweig; man hält einen tüchtigen Landschlag mit Simmenthaler Kreuzung. Drei Farren, ein Simmenthaler und zwei von Landrace, sind aufgestellt. Der Handel mit Vieh ist nicht von Belang, dagegen wird viel Vieh gemästet und in die benachbarten Städte abgesetzt.

Auf der Brach- und Stoppelweide lassen einige Ortsbürger und ein fremder Schäfer im Vorsommer 225–250 und im Nachsommer 400–500 St Bastardschafe laufen. Die Wolle wird in Kirchheim verkauft und der Abstoß der Schafe geschieht nach Frankreich. Die Gemeinde bezieht für die Weide etwa 400 fl. und für die Pferchnutzung 250 fl.

Schweine (halbenglische Race) werden viele gezogen und theils als Ferkel, theils aufgemästet nach Tübingen verkauft.

Die Geflügelzucht ist namhaft und erlaubt einen einträglichen Verkauf nach Tübingen; dagegen will die Zucht der Bienen nicht gelingen.

Einige Armenstiftungen sind vorhanden.

Nordöstlich vom Ort liegen im Wiesenthal 3 und auf dem sog. Hönisch 2 altgermanische Grabhügel; früher sollen hier gegen 20 Leichenhügel bestanden haben.

Der südöstliche Theil des Dorfs wird „in der Kapel“ genannt; hier stand eine längst abgegangene Kapelle, in deren Nähe man im vorigen Jahrhundert Reihengräber, welche in den Liasschiefer eingehauen waren, entdeckte.

Der nordwestliche Theil des Orts, in welchem die Kirche liegt, wird „Hauchlingen“ genannt; vermuthlich standen hier 2 kleinere| Wohnorte, Hauchlingen und Nehren, die allmählig zusammengebaut wurden.

Die durchs Steinlachthal heraufziehende Landstraße kommt in alten Urkunden als „Hörweg“ vor und ist ohne Zweifel ursprünglich ein Römerweg, auf den die sog. Schweizerstraße, die jetzige Landstraße, gegründet wurde.

Über die Sage vom sog. Schimmelreiter (s. deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben von Ernst Meier, Theil I. S. 105).

N. wird unter dem Jahr 1092 erstmals genannt, als Hermann von Mähringen (s. d.) Güter in villa quae vocatur Neron an Kl. St. Georgen austauschte. Um 1150 begabte Erlewin von Berneck mit seinem Gute in villa Neron das Kl. Reichenbach, welches es jedoch bald wieder veräußerte (Wirt. Urk.-Buch 2, 411).

N. war stets mit Dußlingen verbunden und kam mit ihm von den Herren von Dußlingen an die Herter, welche den Ort 1446–47 an Württemberg verkauften.

Den hiesigen Künlinshof besaßen Graf Friedrich der Schwarzgraf und dessen Bruder Graf Ostertag von Zollern; von ihnen erkaufte solchen am 9. März 1387 Hans Teufel von Reutlingen, Rücklösung für drei Jahre gestattend (von Stillfried und Märcker Mon. Zoller. 279–282. Hier, wie sonst häufig, „Neran“ geschrieben).

Das Pfarrlehen gehörte in sehr früher Zeit dem Kloster Stein am Rhein und kam durch die Reformation an die Stadt Zürich, welcher es Herzog Ulrich von Württemberg am 25. Juni 1543 abkaufte.


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