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Autor: unbekannt
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Titel: Berliner Polizei
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7–11, S. 101–103; 110–112; 130–132; 146–147; 155–158
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[101]

Berliner Polizei.

I.

Die Eisenbahnen haben die Cultur selbst nach Hinterpommern, in das Land der Kassuben, getragen.

In Hinterpommern liegt das Dorf Goddentov mit dem Gute gleiches Namens. Auf letzterem wohnt der Baron von Goddentov, einer der reichsten und vornehmsten Adeligen Hinterpommerns.

Der Baron und die Baronin von Goddentov saßen eines Tages in einem wichtigen Gespräche beisammen. Sie waren Beide noch niemals in Berlin gewesen und waren doch Beide auch nicht mehr jung. Der Baron zählte einige funfzig, die Baronin einige vierzig Jahre. Der Baron hatte aber ein sehr erhebliches Bedenken gegen eine solche Reise nach Berlin. Er hatte nämlich viel von der Gefährlichkeit der Berliner Diebe gehört und fürchtete sich vor diesen. Die Baronin hatte vergeblich dieses Bedenken zu besiegen versucht. Alle Lust des Barons zur Reise war an ihm gescheitert. So war die Lage der Dinge, als der Baron und die Baronin eines Tages in einem wichtigen Gespräche beisammensaßen. Der Baron hatte die Neue Preußische Zeitung gelesen.

„Meine Gemahlin,“ sagte er darauf, „in dem Berlin sind doch sehr tüchtige Leute.“ Der Baron hatte das jedes Mal gesagt, wenn er die Zeitung gelesen hatte. Er hatte es gesagt in seiner Lust zu einer Reise nach Berlin, und die Baronin hatte ihm dann jedes Mal zugestimmt, um diese Lust in ihm desto heller anzufachen. Dann war aber jedes Mal das Bedenken des Barons mächtiger aufgetaucht. Heute versuchte sie einen anderen Weg. Sie war eine kluge Frau; sie galt für die klügste Dame des hinterpommerschen Adels. Aber auch der Verstand des Barons wurde unter dem Adel Hinterpommerns hochgeschätzt. Sie mußte daher sehr vorsichtig mit ihm verfahren.

„Ich wüßte nicht, mein theurer Baron,“ sagte sie etwas verächtlich.

Der Baron wurde pikirt.

„Meine Theure, wir können selbst hier in Hinterpommern noch von ihnen lernen.“

„Zum Beispiel, lieber Baron?“

„Sogar die Straßenjungen sind dort witzig, und der Witz der Berliner Eckensteher ist bekannt.“

„Der Adel Hinterpommerns wird doch die Berliner Straßenbuben und Eckensteher nicht zu Vorbildern nehmen sollen?“

„Ich werde Dir das gleich beweisen, Verehrteste. Erlaube mir nur erst, daß ich meine Pfeife anzünde; die Gedanken kommen mir dann besser.“

Der Baron klingelte. Der Bediente brachte dem Baron seinen Meerschaumkopf und der Baron ließ ihn sich anzünden. Die Baronin unterhielt sich unterdeß mit ihrem Mops.

Der Baron hatte angefangen zu rauchen. Es waren ihm also die Gedanken besser gekommen.

„Meine Theure,“ sagte er, „ich habe über die Sache nachgedacht. Es bleibt nur ein Mittel. Wir müssen doch endlich die Reise nach Berlin antreten.“

„Damit ich mich von der Bildung der Berliner Straßenbuben überzeugen soll?“

„Auch aus einem anderen Grunde, meine Liebe.“

„Ich wäre neugierig.“

„Die Eisenbahnen bringen vielen Besuch nach Kassuben; Alles kommt in unser Haus.“

„Ja, mein theurer Baron, unser Haus ist das erste und angesehenste im Lande.“

„Ja, meine Gemahlin, und es kommen zu uns die Präsidenten von Stettin und Cöslin.“

„Und der Oberpräsident, mein theurer Baron.“

„Und der commandirende General, meine Gemahlin.“

„Und selbst der Oberpräsident der Provinz Preußen.“

„Aber er ist nur ein Bürgerlicher. Und Alle, meine Theure, wenn sie hier sind, sprechen nur von Berlin. Selbst die Lieutenants und Regierungsassessoren, die wir in unserem Hause empfangen –“

„Sie am meisten, mein theurer Freund.“

„Und sie schnarren so vornehm dabei: „Waren Sie schon in Berlin, Baron? Noch nicht? Ah –!“ Oder: „Ah, meine Gnädigste, das müßten Sie in Berlin sehen!““

„Ja, Baron, unser schönes Hinterpommern wird über Berlin zurückgesetzt.“

„Und um nun, meine Theure, wie Du so schön sagst, auf der Höhe der Cultur zu stehen, werden wir doch wohl die Reise nach Berlin machen müssen.“

„Aber diese Hauptstadt der Intelligenz, Verehrtester, hat doch auch manche Schattenseiten.“

„Zum Beispiel, meine Gemahlin?“ fragte der Baron im Eifer des Gespräches.

„Die Berliner Diebe zum Beispiel –“ Die Baronin hatte den Würfel geworfen; aber mit Geschick zur richtigen Zeit. Sie stand einen Augenblick, den Athem anhaltend.

Der aufgeregte Widerspruchsgeist des Barons hielt an. Ein wenig veränderte er die Farbe; dann sagte er herzhaft: „Gewiß, aber sie haben auch eine gute Polizei in Berlin.“

„Ah, mein theurer Baron, auch die beste Polizei kann nicht Alles.“

„In Berlin kann sie Alles, ich versichere Dich.“

„Das ist ein großes Wort, lieber Baron.“

„Und dann, meine Theure, habe ich schon lange den Wunsch gehabt, einmal mit Dir selbst in Gerson’s Magazin zu gehen, um an Ort und Stelle Deine Toilette zu vervollständigen.“

„Freilich, mein lieber Baron, Du bedarfst auch eines neuen Meerschaumkopfes, und man soll sie am besten in Berlin bekommen können.“

„Wir müssen also der Cultur ein Opfer bringen, meine Gemahlin; denn ein Opfer bleibt diese Reise.“

Die Gedanken in dem Kopfe des Barons wirbelten oft wunderbar durcheinander, wie die Wolken, die er unterdeß aus seinem Meerschaumkopfe blies.

Der Cultur wurde das Opfer der Reise nach Berlin gebracht. Die Anstalten zu der Reise wurden getroffen. Ungeheuere Koffer und Schachteln wurden mit Kleidungsstücken angefüllt; große Kisten mit Gänsebrüsten und Danziger Goldwasser. Außerdem wurden mitgenommen der Kammerdiener des Barons, Joachim, und die Kammerjungfer der Baronin, Justine. So fuhren sie ab, in zwei Wagen des Barons bis Danzig, von da auf der Eisenbahn.

[102]
II.

So lange der Baron und die Baronin von Goddentov in ihrem eigenen Wagen fuhren, saßen sie natürlich allein. Der Kutscher und der Bediente saßen draußen auf dem Bocke, und die Kammerjungfer war in dem zweiten Wagen bei dem Gepäcke. Eine Zeit lang saßen sie auch auf der Eisenbahn noch allein. Kammerdiener und Kammerjungfer mußten in der dritten Classe fahren. Der Baron und die Baronin nahmen Plätze in einem Coupé erster Classe.

„Man sitzt dort bequemer, als in der zweiten Classe, meine Gemahlin.“

„Und was höher anzurechnen ist, mein theurer Baron, wir laufen in der ersten Classe nicht Gefahr, mit Bürgerlichen auf einer Bank sitzen zu müssen.“

Sie blieben in der That bis Stettin ohne bürgerliche Gesellschaft, denn bis dahin blieben sie in ihrem Coupé überhaupt ohne alle Gesellschaft. Auch auf dem Stettiner Bahnhofe waren sie in ein Coupé geführt, in dem sie ganz allein saßen. Aber unmittelbar vor dem Abfahren des Zugs erhielten sie Gesellschaft. Ein sehr wohlgekleideter junger Mann stieg zu ihnen ein. Er hatte ein aufgewecktes, munteres und doch bescheidenes Aussehen. Auch sein Benehmen war ein bescheidenes.

„Der Schaffner hat mich hierher gewiesen,“ sagte er, bevor er einstieg. „Sollten Sie aber wünschen, allein zu sein, oder sollte meine Gesellschaft Sie sonst im Geringsten incommodiren, so würde ich mir ein anderes Coupé anweisen lassen.“

„Ein charmanter junger Mann,“ flüsterte die Baronin ihrem Gemahl in’s Ohr. „Und wie nobel er aussieht!“

„Ich bin ganz Deiner Meinung, meine Gemahlin. Er muß es auch uns angesehen haben, daß wir von gutem Adel sind, denn ich bemerkte schon auf dem Bahnhofe, wie seine Blicke uns mit einer gewissen Genugthuung verfolgten.“

„So lassen wir ihn zu uns einsteigen, mein theurer Freund.“

„Mein Herr, Ihre Gesellschaft wird uns sehr angenehm sein.“

„Sie machen mich sehr glücklich.“

Der noble junge Mann stieg ein; der Zug fuhr ab.

„Ich muß doch wissen, ob er von gutem Adel ist,“ sagte der Baron leise zu seiner Gemahlin. „Waren Sie schon in Hinterpommern?“ fragte er laut den Fremden.

„Nein,“ antwortete der junge Mann, „aber es soll ein gesegnetes Land sein.“ ,

„Ja, wir haben prächtige Fluren.“

„Ah, Sie sind aus Hinterpommern?“

„Baron von Goddentov auf Goddentov bei Goddentov.“

„Ein wohlklingender Name!“

„Sie sind wohl in Vorpommern zu Hause, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin aus Schlesien, Graf Schimmel von Hengst auf Füllendorf.“

„Ah, ah, Graf -?“

„Graf Schimmel durchweg. Wir haben in Schlesien viele solche sonderbare Namen: Pförtner von der Hölle, Henkel von Donnersmark. Im gewöhnlichen Leben sind sie Pförtner, Henkel u. s. w.“

„Ein curioses Land, dieses Schlesien.“

„Hat es auch Bildung?“ fragte die Baronin, sich in das Gespräch einmischend.

„O gewiß, meine Gnädigste. Der schlesische Adel steht fast dem hinterpommerschen gleich.“

„Sie sind sehr gütig, Herr Graf.“

„Ich versichere Sie, man merkt das nirgends mehr, als in Berlin, wo der Adel aus allen preußischen Provinzen zusammenströmt.“

„Sie sind in Berlin bekannt?“

„Ich wohne dort schon seit einer Reihe von Jahren.“

„Angestellt vielleicht?“

„Ich lebe unabhängig, ich verzehre meine Renten dort. Man kann das nirgends angenehmer, als in Berlin.“

„Ich denke doch, in Paris zum Exempel.“

„Französische Aufschneidereien, meine Gnädigste.“

„Aber,“ fragte der Baron, „machen Einem die Berliner Diebe das Leben nicht unangenehm in Berlin?“

„Die Berliner Diebe?“

„Man hört so viel ihnen.“

Der Graf Schimmel wurde sehr ernst, beinahe wichtig. „Ja, mein Herr Baron, die Berliner Diebe, das ist eine äußerst bedenkliche Sache.“

Der Baron erblaßte; selbst die Baronin wurde ängstlich.

„Sie meinen, lieber Graf?“ sagte der Baron.

„Man kann keinen Menschen genug vor ihnen warnen.“

Der Baron von Goddentov sah seine Gemahlin darauf an, ob es nicht rathsam sei, noch vor Berlin umzukehren.

„Diese Diebe sind also wirklich so gefährlich?“

„Es gibt keine frechere, verwegenere Sorte von Menschen.“

„Aber was sagt denn die Polizei dazu?“ fragte der Baron den Grafen Schimmel von Hengst auf Füllendorf.

„Die Polizei? Ah, Baron, nach dem, was die Polizei sagt, frägt kein Berliner Dieb.“

„Das sind ja fürchterliche Menschen.“

„Unmenschen, mein theurer Freund!“

„Es ist nur ein Glück dabei, meine Gnädigste.“

„Ein Glück, Herr Graf?“

„Sie sind eben so dumm, wie sie frech sind.“

„Und doch kann die Polizei nicht mit ihnen fertig werden?“

„Die Polizei kann nicht immer Alles, was sie will.“

Der Baron von Goddentov hatte wieder Muth gewonnen. „Ah, wenn sie dumm sind, dann werden wir schon mit ihnen fertig werden. Denn, was ihre Frechheit betrifft, in Hinterpommern haben wir auch Fäuste.“ Der Baron hatte in der That ein paar tüchtige Fäuste. Er hob sie mit Wohlgefallen empor. Die Baronin aber erröthete.

„Mein Gemahl!“ sagte sie leise verweisend.

Der Graf Schimmel fuhr fort: „Seien Sie indeß nicht so zuversichtlich, lieber Baron. Vor einem Berliner Diebe ist nichts sicher, keine Uhr, keine Tabatiere, keine Börse.“

Der Baron erblaßte wieder. Eine Tabatiere führte er nicht bei sich, wohl aber eine theure goldene Repetiruhr und eine schwere Börse. Er mußte unwillkürlich nach den Taschen langen, in denen er sie trug. Es waren zwei Hosentaschen.

„Freilich ist auch hierbei ein glücklicher Umstand,“ sprach der Graf weiter.

„Auch hierbei, lieber Graf?“

„Der Berliner Dieb ist dumm, wie ich Ihnen sagte; wenn man nur seine Sachen an einen Ort steckt, wo sie nicht gewöhnlich getragen werden, so findet er sie nicht.“

„Ah, ah, das wäre ja ein einfaches Mittel, ihnen zu entgehen.“

„So zum Beispiel hinten in den Rocktaschen wird kein Dieb in ganz Berlin eine Uhr oder eine Börse suchen.“

Dem Baron schien ein Licht aufzugehen. „Hm, hm, lieber Graf.“

„Höchstens nach einem Taschentuche suchen sie da, und auch dann nur, wenn man in der Straße vor einem Bilderladen oder im zoologischen Garten vor den Affen steht.“

Der Baron hatte seine goldene Uhr schon glücklich aus der Hosentasche hinten in seine Rocktasche gebracht. Es hatte ihm freilich Mühe gekostet. Er hatte ein sehr wohlgenährtes Bäuchlein, und um dieses schlossen seine Hosen sich sehr fest und stramm an, so daß es einem Diebe doppelt schwer müßte geworden sein, etwas aus den dort befindlichen Taschen zu nehmen.

Der Graf Schimmel fuhr fort: „Doch hätte ich beinahe etwas vergessen.“

Der Baron erschrak wieder. „Man ist dennoch seiner Rocktaschen nicht sicher?“

„O doch, wenn man kein Gardelieutenant ist.“

„Wie, lieber Graf?“

„Die Gardelieutenants pflegen ihre Börsen hinten in der Rocktasche zu tragen.“

„Das ist ja unbegreiflich.“

„Nicht so ganz. Die Gardelieutenants haben die Brust vorn hoch wattirt.“

„Ja, ja, die Uniformen.“

„Daher haben sie kein Gefühl in der Brust.“

„Kein Gefühl in der Brust?“

„Oder auf der Brust. Sie können daher auch nicht fühlen, wenn ihnen Jemand dahin faßt.“

„Das ist begreiflich.“

„Dagegen haben sie hinten an den Rockschößen der Uniform sehr enge Taschen, die zudem nach innen gehen.“

„Ich weiß es; ich habe selbst zwei Vettern, die Gardeofficiere sind.“

[103] „Die Taschen sind so enge, daß sie selbst kaum hineinfassen können. In diese stecken sie nun ihre Börsen.“

„Ah, sehr sinnreich!“

„Leider war es nur in der ersten Zeit so. Die Diebe kamen bald dahinter, und nun konnten sie zwar auch noch nicht in die engen Taschen kommen –“

„Ah, ah, das war den dummen Dieben Recht, lieber Graf.“

„Aber sie wußten es sich in anderer Weise noch bequemer zu machen, und man sah auf einmal in Berlin nichts, als Gardeofficiere, denen hinten die Rockschöße abgeschnitten waren.“

„Was, was, Graf?“

„Rein abgeschnitten, sage ich Ihnen, Baron.“

„Das ist ja eine empörende Frechheit.“

„Ja, frech sind die Berliner Diebe.“

Der Baron war auch mit seiner Börse auf dem Wege in die Rocktasche gewesen. Als er von den abgeschnittenen Rockschößen hörte, besann er sich. „Verteufelte Frechheit!“ sagte er. „Aber,“ fragte er dann, „sind denn die Gardeofficiere nicht klüger geworden?“

„O doch; sie stecken jetzt gar kein Geld mehr zu sich.“

„Und die Diebe nun?“

„Schneiden ihnen keine Rockschöße mehr ab.“

Der Baron brachte auch seine Börse in die Rocktasche. –

Man war auf dem Berliner Bahnhofe angekommen. Der Zug hielt. „Sollten schon hier auf dem Bahnhofe Diebe sein?“ fragte der Baron.

„Hier erst recht.“

Der Baron hielt, obwohl er noch im Coupé war, mit beiden Händen seine Rocktaschen fest, in die er seine theure goldne Uhr und seine schwere Börse gebracht hatte. Der Graf sah es.

„Darf ich Ihnen noch einen Rath ertheilen, lieber Baron?“

„Sie sind sehr gütig, lieber Graf.“

„Halten Sie nie die Tasche oder den Ort fest, wo Sie Gegenstände von Werth tragen. Sie zeigen dadurch dem Diebe geradezu an, wo er etwas zum Stehlen findet. Sie dürfen nicht einmal Miene machen, hinfühlen zu wollen.“

Der Baron ließ seine beiden Rocktaschen los.

„Aussteigen!“ commandirten die Schaffner an den Wagen der zweiten und dritten Classe. „Wäre es den Herrschaften gefällig, auszusteigen?“ bat einer höflich an dem Coupé der ersten Classe. Zugleich reichte er schon der Baronin die Hand, ihr beim Aussteigen behülflich zu sein.

„Ich bitte, lieber Graf,“ sagte der Baron höflich zu dem Grafen Schimmel.

Aber der Graf war noch höflicher. „Nach Ihnen, lieber Baron.“ Und er half auch schon dem Baron – aussteigen, wobei er sprach: „Vergessen Sie nur meine Ermahnungen nicht. Sie sehen, wie viele Menschen da stehen. Unter dreien können Sie jedesmal auf einen Spitzbuben rechnen. Besonders nehmen Sie sich vor jenem lauernden Gesichte in Acht. Es blickt gerade hierher. Dort links ist es. Und vor Allem fassen Sie nicht nach Ihrer Börse und nach Ihrer Uhr. Sie hätten sie in demselben Augenblicke verloren.“

Der Baron war ausgestiegen. Er hielt seine Hände steif vor sich hin. „Ah, wie bin ich Ihnen dankbar, lieber Graf.“

Der Graf Schimmel stieg ebenfalls aus dem Wagen. Draußen nahm er Abschied. „Ich habe mich sehr gefreut –“

„Charmirt, charmirt, lieber Graf!“

„Ich hoffe auf das Glück, Sie am Hofe wiederzusehen, Sie lassen sich doch vorstellen?“

„Ich denke.“

„Also au revoir. Meine Gnädigste, Ihr Unthäniger.“

Er war fort. „Ein charmanter junger Mann, mein theurer Baron.“

„Und so gewandt.“

„Aus einem alten Hause, man sieht es ihm an.“

„Und so dienstfertig. Wie half er mir aus dem engen Wagenschlage!“

„Und mit allen Berliner Verhältnissen so vertraut.“

„Besonders mit den Diebesgeschichten.“

„Du vergißt doch seine Ermahnungen nicht, mein lieber Freund?“

„Gewiß nicht. Ich habe sogleich Uhr und Börse in meine Rocktasche gesteckt.“

„Fühle nur ja nicht nach ihnen; ich sehe so viele lauernde Augen um uns.“

„Ich hüte mich, verlaß Dich darauf. Ich halte expreß die Hände auf meinen Hosentaschen, um die Diebe irre zu führen.“

„Das ist ein kluger Einfall, mein Lieber.“

„Ha, diese dummen Berliner Diebe, die müssen früher aufstehen, wenn sie uns anführen wollen.“

„Es ist wirklich ein Glück, daß sie so dumm sind, mein theurer Baron.“

„Aber ich leugne doch nicht, meine Gemahlin, ich möchte wohl einmal hinten an meine Rocktaschen fühlen. Sie kommen mir so leicht vor, so, als wenn ich gar nichts darin trüge. Nur einmal.“

„Hüte Dich, mein Freund. Wir sind hier mitten im Gedränge, und dieses lauernde Augenpaar hier gleich links neben uns –“

„Ah, es ist dasselbe Gesicht, vor dem der brave Graf mich warnte.“

„Es läßt uns nicht aus den Augen. Mir graut beinahe vor ihm.“

„Ja, ja, meine Liebe, das ist sicher ein sehr gefährlicher Mensch. Aber ich möchte doch nur einmal – Die Rockschöße kommen mir so außerordentlich, so sonderbar leicht vor.“

„Aber fasse nur nicht hin.“

„Ah, Theure, ich habe sie doch noch?“

„Du bist ja kein Gardelieutenant, mein lieber Baron.“

„Aber ich muß wahrhaftig –“

„Himmel!“ schrie auf einmal der Baron von Goddentov mit einer so lauten und schrecklichen Stimme, daß in der weiten Eisenbahnhalle sicher kein Herz war, das nicht über den Schrei fast erstarrt wäre. „Himmel, liebe Frau! Diebe! Räuber! Ich bin bestohlen! Meine Uhr fort, meine Börse!“

Ein wohlgekleideter Herr stand an seiner Seite. Es war derselbe, vor dessen lauerndem Augenpaar ihn vorhin der Graf Schimmel und so eben seine Gemahlin gewarnt hatte. „Sie sind bestohlen, mein Herr?“

Der Baron war wie wahnsinnig vor Wuth, vor Schreck. Er sah nur Diebe, Räuber. „Das ist der Dieb!“ rief er. „Herr, Sie haben mir mein Geld, meine Uhr gestohlen!“

Er hielt mit seinen Hinterpommerschen Fäusten den wohlgekleideten Herrn fest. Der aber sagte ruhig: „Gemach, gemach, mein Herr; ich bin der Polizeihauptmann. Aber ich sah mit Ihnen aus dem Coupé einen Menschen steigen?“

„Das war der Herr Graf Schimmel. Wäre er nur noch hier!“

„Graf Schimmel hat er sich Ihnen genannt?“

„Graf Schimmel von Hengst auf Füllendorf.“

„Teufel, eine ganze Reihe von Namen! Und Ihr Name, mein Herr?“

Aber den Baron faßte wieder seine Wuth. „Sie frecher Mensch wollen hier noch gar den Inquirenten machen? Ein schöner Polizeihauptmann mögen Sie sein! Mit solchen verbrauchten Kniffen dummer Berliner Diebe kommen Sie bei mir nicht durch.“

Der Herr hatte unterdeß ruhig nach mehreren Seiten hingewinkt. In einem Augenblicke war eine Compagnie Gensd’armen, Polizeisergeanten, Schutzmänner um ihn, Alle in ihren Uniformen.

„Was befehlen der Herr Hauptmann?“

„Halten Sie alle diese Beamten für Diebe und Räuber?“ fragte der Polizeihauptmann den Baron.

Das konnte der arme Baron freilich nicht. „Aber Einer muß mir doch meine Uhr und Börse gestohlen haben!“ rief er.

„Gewiß, mein Herr, und wenn mich nicht Alles trügt, war es jener Graf Schimmel –“

„Wie, dieser charmante junge Mann? Von so altem Adel? Nimmer!“

„Erzählen Sie mir von ihm, mein Herr.“

Der Baron mußte erzählen. Der Polizeihauptmann lächelte. „Ah, mein Herr Baron, Sie werden jetzt überzeugt sein, daß die Berliner Diebe doch nicht so dumm, wie frech, sondern im Gegentheile eben so klug, wie frech sind.“

Aber der Baron sah es nicht ein. „Ein so charmanter junger Mann, und von so altem Adel! Nimmer!“ Dabei blieb er.

[110]
III.

„Ich bleibe doch dabei, meine Gemahlin,“ sagte der Baron von Goddentov zu seiner Gemahlin, „daß der Graf Schimmel mir nicht Uhr und Börse gestohlen hat.“

„Wie könnte ein Graf ein Dieb sein, lieber Baron?“

„Richtig, und ich glaube, zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß am Ende die Polizei in Berlin nicht klüger ist, als die Berliner Diebe. Wie hätte sonst jener Polizeihauptmann – ? – Aber mein Gott, Verehrteste, was fällt mir da ein?“

„Was fällt Dir ein?“

„Wenn dieser Polizeihauptmann selbst ein Dieb, wenn er doch der Dieb meiner Sachen gewesen wäre!“

„Aber, mein theurer Gemahl, bedenke, alle diese Gensd’armen, Schutzmänner und so weiter gehorchten ihm.“

„Das können lauter verkleidete Spitzbuben gewesen sein.“

„Aber diese Frechheit, mein theurer Baron, wäre zu groß.“

„Ja, ja, eben frech sind die Berliner Diebe! Und ich möchte beinahe darauf schwören! Wir lassen uns kein X für ein U vormachen. Der Mensch war in unserer Nähe. Du selbst warntest mich vor seinen Spitzbubenaugen. Wir waren im dichtesten Gedränge. Alle jene Helfershelfer waren um ihn!“ Er ließ diesen neuen Gedanken nicht fahren. „Ich werde morgen mit dem Polizeipräsidenten darüber sprechen,“ fuhr er fort. „Fahren wir jetzt aus, uns die Stadt zu besehen, ob es denn wirklich der Mühe werth ist, von diesem Berlin so viel Wesen zu machen. Stolpe und Cöslin sind schöne Städte!“

Der Baron und die Baronin von Goddentov waren des Morgens um elf Uhr in Berlin eingetroffen. Sie waren im Gasthofe zur Stadt Rom unter den Linden abgestiegen. Das britische Hotel war damals noch nicht Mode für die Hinterpommern in Berlin. Da sie längere Zeit in der Residenz sich aufhalten wollten, so hatten sie gleich nach ihrer Ankunft einem Commissionair den Auftrag gegeben, ein Quartier für sie zu miethen.

„Nur nicht zu ebener Erde,“ hatte der Baron ihm empfohlen; „denn die Berliner Diebe sind sehr frech und könnten da zu einem einsteigen. Aber auch nicht zwei Treppen hoch; das wäre nicht nobel.“

Der Commissionair hatte ihm ein schönes Quartier, Bel-Etage, am Gensd’armenmarkte besorgt. Der Baron und seine Gemahlin hatten es besichtigt; es hatte ihnen gefallen und sie hatten sofort Besitz davon genommen. Sie waren dann zu dem Gasthofe zurückgekehrt, hatten dem Bedienten und der Kammerjungfer den Befehl ertheilt, die Sachen in das neue Quartier zu schaffen, sich dabei aber ja vor den frechen Berliner Dieben zu hüten, und fuhren nun mit einem Lohnbedienten aus, um sich die Stadt zu besehen.

Der Bediente und die Kammerjungfer schafften die Sachen in das neue Quartier. Sie hatten zwei Droschken dazu nöthig.

Mamsell Justine, die Kammerjungfer, war hager, häßlich, schon einige dreißig Jahre alt, und keifte und commandirte; der Bediente, Monsieur Joachim, hatte grobe Knochen, war fett und träge und gehorchte, aber schläfrig; Alles, wie es in einem Hause von gutem Adel in Hinterpommern sein muß.

[111] „Monsieur Joachim,“ commandirte die Kammerjungfer, „ich fahre in der ersten Droschke und Er wird in der zweiten fahren.“

„Wenn Sie es so meinen, Mamsell Justine.“

„Er hält sich aber immer ganz dicht hinter mir, damit Er auf die Sachen in meiner und in Seiner Droschke achten kann.“

„Ich werde schon aufpassen, Mamsell Justine.“

„Daß Er mir nur ja die Augen offen hat; die Berliner Diebe sind sehr frech.“

„Ah, Mamsell, mir sollte so ein frecher Bursche kommen!“

„Meint Er denn,“ daß ich mich vor solchem Gesindel fürchte?“

Die beiden Droschken fuhren ab. Sie hielten sich, wie Mamsell Justine befohlen hatte, immer dicht hintereinander. Sie erreichten das neue Quartier am Gensd’armenmarkte.

„Monsieur Joachim, helfe Er mir aus dem Wagen – ah, wie hart sitzt man in diesen Berliner Droschken! Na, wenn sie keine weitere Bildung hier haben, von der die gnädige Frau so viel spricht –! – So, Joachim, jetzt trage er die Sachen hinauf; ich werde unterdeß hier Wache halten, damit nichts gestohlen wird.“

Der fette, träge Joachim sah sich mit einigem Schrecken die vielen Koffer, Kisten und Schachteln an, die er hinauftragen sollte.

„Ich allein, Mamsell Justine?“

Mamsell Justine sah fragend die Droschkenkutscher an; diese schüttelten die Köpfe.

„Mamsellken, wir haben Sie hierher gefahren mit Ihrer Bagage da; wir haben unser Geld. Adieu, Mamsellken.“

Sie fuhren ab.

Auf dem Gensd’armenmarkte hatten an einer Straßenecke zwei Menschen gestanden, ein Mann in den dreißiger und ein Bursche von etwa achtzehn Jahren. Aber der Mann sah verlebt aus, wie ein Sechziger, und der Bursche so unreif, als wenn er kaum funfzehn Jahre zählte. Ihre Röcke waren abgeschabt; ihre Stellung und Mienen waren die der Trägheit. Nur ihre verschleierten Blicke flogen rastlos, als wenn sie fortwährend etwas suchten, auf dem weiten Platze hin und her.

Berliner Eckensteher waren sie nicht. Diese Species der Berliner Bildung war damals schon ausgegangen. Wer mit anderen Sorten der Berliner Intelligenz vertraut war, wäre auch über ihren Stand nicht lange zweifelhaft gewesen. Die verschleierten Augen hatten mit ihren lebhaften Blicken bemerkt, was sich vor dem neuen Quartiere des Barons von Goddentov begab. Mit einem gegenseitigen leisen Zunicken verfügten sie sich hin.

„Madame, können wir Ihnen nicht helfen?“ sagte der jüngere Bursch sehr höflich zu Mamsell Justine.

„Ah, ah, Madame!“ sagte Mamsell Justine für sich. „Das ist ein höflicher junger Mensch. – Wird es Ihm wirklich allein zu schwer, Monsieur Joachim?“ fragte sie den Bedienten.

„Man ist doch angegriffen von der Reise, Mamsell Justine.“

Der ältere der beiden Männer hatte schon einen Koffer auf seine Schultern geladen; er hatte sich gar den schwersten ausgesucht. Dem Monsieur Joachim lachte das Herz im Leibe. – „Wohin?“ fragte ihn der Mann.

Aber Monsieur Joachim war doch auch ein vorsichtiger Mann.

„Mamsell Justine,“ flüsterte er in das Ohr der Kammerjungfer, „ich denke, wir accordiren vorher mit den Menschen, damit sie uns nicht später überfordern.“

Mamsell Justine sah die Richtigkeit dieser Bemerkung ein. Sie wandte sich an die beiden Männer. „Wie viel bekommt Ihr, wenn Ihr die Sachen hinauftragen helft?“ fragte sie.

„Wie hoch geht es, Madame?“

„Eine Treppe.“

„Zwanzig Silbergroschen wäre wohl nicht zu viel, Madame.“

„Zwanzig Silbergroschen!“ rief die Kammerjungfer entsetzt.

„Für den Mann, Madämken.“

„Madämken! Er ist ein Flegel.“

„Zusammen denn einen Thaler, liebe Madame,“ sagte höflich der jüngere Mensch.

„Noch keinen halben Thaler,“ rief die Mamsell.

„Na, zwanzig Silbergroschen denn, liebe Madame!“

Monsieur Joachim warf der Mamsell einen Wink zu.

„Nun, so sei es,“ sagte sie. „Aber es ist ein Sündengeld. Für zwanzig Silbergroschen hat man in Hinterpommern vier solche Burschen drei Tage lang im Tagelohn.“

„Das ist in Hinterpommern auch, Madämken!“ sagte der ältere Mensch.

„Was will Er mit Seinem „auch in Hinterpommern“?“ fuhr Mamsell Justine auf.

Der Bediente aber sagte: „Für die zwanzig Silbergroschen müßt Ihr aber die Sachen allein tragen.“

„Ganz allein, Herr, das versteht sich.“

Aber der junge Bursche hatte noch ein Bedenken.

„Beste Madame, wären Sie nicht von der Güte, das Geld uns vorauszugeben?“

Mamsell Justine wurde trotz der Höflichkeit des jungen Menschen dunkelroth vor Zorn.

„Seht einer die Frechheit!“ rief sie, auf’s Höchste aufgebracht.

„Wir haben es so nöthig, beste Madame.“

„Aber zum Donner–, gehe ich Euch denn mit dem Gelde durch?“

„Das gewiß nicht, liebe Madame. Aber es arbeitet sich besser, wenn man schon etwas in den Taschen fühlt.“

Monsieur Joachim warf der Mamsell einen bittenden Blick zu. Sie zahlte keifend den Manschen zehn Silbergroschen aus.

„Es ist eine Schande. Nun tragt schnell, ohne weitere Umstände.“

„Sie sollen mit uns zufrieden sein, Madämken. Also eine Treppe?“

„Monsieur Joachim,“ sagte Justine, „Er ginge wohl dem Menschen nach?“

Aber der träge Diener war auch dazu zu träge. „Ich bleibe doch lieber zu Ihrem Schutze hier, Mamsell Justine.“

Auch der jüngere Bursch belud sich. Er hatte sich den zweiten schweren Koffer ausgesucht. Er war flink damit die Treppe hinauf, seinem älteren Begleiter nach. Joachim machte es sich bequem, indem er sich auf eine Kiste setzte. Dann stellte er Betrachtungen an.

„Was das Volk hier mager ist, Mamsell Justine.“

„Aber doch flink!“

„Ich glaube, die bekommen hier nicht halb so viel zu essen, wie bei uns in Hinterpommern.“

„Und arbeiten doch das Doppelte.“

„Meinen Sie, Mamsell Justine?“

„Gewiß meine ich das, und Er sollte sich nur ein Muster daran nehmen, Er, Monsieur Joachim. Sitzt Er da und rührt keinen Knochen, und die beiden Menschen kommen nicht wieder –“

„Ich wundere mich auch darüber, Mamsell Justine. Sie waren so flink hinauf, und herunter – zurück kommen sie nicht. Es ist curios.“

Ein Dienstmädchen kam aus dem Innern des Hauses zu ihnen.

„Ah, Sie lassen wohl die Sachen hinaufbringen?“

Mamsell Justine war einmal am Keifen. „Sind die Dienstmägde in Berlin so neugierig?“

Aber das Mädchen war ein Berliner „Mädchen für Alles“, sie hatte also auch auf Alles eine Antwort. „Sehe einer die alte magere Schachtel!“

Mamsell Justine wurde wüthend, „Ich eine Schachtel?“ rief sie. „Ich alt?“

„Meinetwegen können Sie auch eine junge Meerkatze sein.“

„Ei, Sie freche Person!“

„Na, hören Sie ’mal, ein so grobes Maul brauchen Sie auch nicht zu haben, wenn man mit gutem Herzen zu Ihnen kommt. Was haben Sie denn da für ein paar verdächtige Menschen mit den Sachen hinaufgeschickt?“

„Das ginge Sie, naseweise Person, wohl etwas an?“

„Aber es geht Sie wohl nichts an, daß die beiden Menschen über Hals über Hopf mit Ihren zwei Koffern von oben her die Hintertreppe hinuntergerannt sind und jetzt schon längst in der Taubenstraße und über alle Berge sein werden? Ich wollte sie aufhalten, aber der Eine stieß mich auf die Seite, daß mir noch die Knochen wehe thun, und da liefen sie alle Beide an mir vorüber.“

Das war ein Donnerschlag, wenigstens für Mamsell Justine. Monsieur Joachim blieb noch sehr gleichgültig auf seiner Kiste sitzen.

„Es wird so schlimm nicht sein,“ sagte er, „Die werden ihren halben Lohn nicht im Stiche lassen.“

„Na, wenn das kein Hinterpommer ist!“ bemerkte das Dienstmädchen.

[112] Mamsell Justine aber rief wüthend: „Wird Er bald Beine bekommen, Er fauler Schlingel! Im Augenblicke folge Er mir, den beiden Menschen nachzusetzen. Himmel, Himmel! Beide Koffer weg! Mit den besten Sachen der Herrschaft! Das ist mein Tod! Diese Berliner Diebe! Diese Berliner Diebe!“

Sie rannte in das Haus, die Treppe hinauf. Und auch der träge Monsieur Joachim hatte Beine bekommen; er folgte ihr. Um die Sachen, die noch vor dem Hause lagen, bekümmerten sie sich in Wuth, Schreck und Eile nicht. Aber die Berliner „Mädchen für Alles“ haben auch für Alles ein gefühlvolles Herz.

„Ich muß ihnen doch wohl die Sachen hier verwahren, bis sie wiederkommen,“ sagte das Dienstmädchen für sich, „sonst werden die ihnen auch noch gestohlen.“ Und sie setzte sich zu den übrig gebliebenen Kisten und Schachteln des Herrn Baron und der Frau Baronin von Goddentov und hütete sie.

[130]
IV.

Es war beinahe Mitternacht. An der Ecke der Weinbergsgasse trafen sich zwei Personen. Es waren, so viel man in dem halben Scheine der in jener Gegend von Berlin schlecht genug brennenden Straßenlaternen unterscheiden konnte, ein paar junge Menschen, schlecht gekleidet, übrigens nicht ungewandt, und von leidlich hübschem Aussehen. Sie blieben, als sie zusammentrafen, bei einander stehen.

„Bist Du es, Fritz?“

„Ja. Hast Du Alles beisammen?“

„Ja.“

„Gehen wir.“

Sie schlugen den Weg nach dem Monbijouplatze ein, überschritten diesen, passirten dann die Herkulesbrücke, darauf die Friedrichsbrücke, gingen an dem neuen Museum vorbei, über die Schloßbrücke, über den Opernplatz, nach dem Gensd’armenmarkte zu. Sie hielten sich so viel als möglich außer dem Lichte der Gaslaternen. Wenn sie hörten, daß ihnen Jemand entgegenkam, so trennten sie sich, der Eine ging auf die eine, der Andere auf die andere Seite der Straße. War der Entgegenkommende vorüber, und wußten sie sich wieder unbemerkt, so vereinigten sie sich wieder, um in Gesellschaft ihren Weg fortzusetzen. Wenn sie beisammen gingen, sprachen sie leise mit einander. Der Eine von ihnen hatte offenbar das Uebergewicht über den Andern. Er blieb meist auf derselben Seite der Straße, und der Andere mußte auf seinen Wink nach der andern Seite springen und sich dann wieder mit ihm zusammenfinden. Nach seinem Schritte mußte dieser Andere den seinigen einrichten. Er sprach weniger, kürzer, mehrfach befehlend. Es war der, den der Andere Fritz genannt hatte.

„Ich hatte schon auf Dich gewartet, Fritz,“ sagte der Andere.

„So?“

„Wir werden heute Nacht ein gutes Geschäft machen.“

„Lobe es nachher.“

„O, es kann nicht fehlen. Dreitausend Thaler hat der Alte noch vorgestern Abend eingenommen. Die Nachschlüssel habe ich zu allen Thüren. Es hat mir Mühe genug gekostet, die Wachsabdrücke zu nehmen. Ich habe drei Tage lang darnach schleichen und laufen müssen. Sie müssen aber auch passen, wie das Werk einer Dampfmaschine.“

„Du bist sicher, daß der Alte nicht zu Hause sein wird?“

„Er ist auf einem großen Souper. Eine sehr fromme Missionsgesellschaft gibt es. Morgen früh mit dem ersten Zuge geht ein Transport Missionäre ab. Die Gesellschaft will die Nacht mit ihnen beisammen bleiben – im Gebet, sagen sie.“

„Und in der Wohnung ist nur seine Magd?“

„Nur seine alte Magd. Sie schläft hinten nach dem Hofe zu. Das Geld hat er in seinem Secrctair in der Wohnstube.“

„Diese liegt nach vorn?“

„Sie geht auf den Gensd’armenmarkt.“

„Im zweiten Stockwerke?“

„Ja.“

„Wer bewohnt die andern?“

[131] „Der Wirth ist Zimmervermiether; er selbst wohnt in den Mansarden.“

Sie gingen eine Weile schweigend, dann fing der Andere wieder an: „Du hast mir noch nichts von Deiner Stettiner Reise erzählt, Fritz.“

„Wozu?“

„Hast Du gute Geschäfte gemacht?“

„Es ist nicht viel zu machen.“

„Ja, ja, jeder Fremde ist jetzt wie ein Polizeidiener. Wenn man auf so einen Eisenbahnhof kommt und die Leute aussteigen sieht, Jeder sieht den Andern an, als wenn er nur Spitzbuben sähe, vor denen er sich zu hüten habe, die er einfangen müsse. – Aber hast Du denn gar nichts gemacht?“

„Es war zum Glück ein hinterpommerscher Landsimpsl da.“

„Der hat wohl Haare lassen müssen?“

„Seine Uhr –“

„Eine goldene?“

„Sie haben arme Bauern genug, um goldene Repetiruhren tragen zu können.“

„Und was weiter?“

„Seine Börse.“

„Gut gespickt?“

„So ziemlich.“

Sie hatten den Gensd’armenmarkt erreicht und blieben in der Nähe eines großen Hauses stehen. Es hatte drei Etagen. Alle drei waren dunkel. Nur ein Fenster in der Bel-Etage war erleuchtet.

„Das ist das Haus, Fritz.“

„Wo ist die Stube des Alten?“

„Gerade über dem erleuchteten Fenster.“

„Schlimm.“

„Es wohnen nur Chambregarnisten da.“

„Wer?“

„Fremde, die am Nachmittage eingezogen sind. Ich hörte es, als ich am Abend noch nachsah, ob die Luft rein bleiben werde.“

„Wiederhole mir, wie es im Hause aussieht.“

„Wir kommen durch die Hausthür auf einen geräumigen Flur. In diesem ist gleich links die Treppe. Sie führt an dem abgeschlossenen Flur der Bel-Etage zum zweiten Stock. Auch der Flur des zweiten Stocks ist abgeschlossen. Ich habe den Nachschlüssel zu der Thür. Der Flur ist schmal. Gleich links ist die Küche. Die Thür weiter ist die zu der Stube des Alten. Es liegt Alles ganz bequem.“

„Du hast also vier Schlüssel?“

„Vier: zur Hausthür, zur Flurthür, zu der Thür des Alten, zum Secretair.“

„Du wirst sie mir einen nach dem andern geben; meine Hand schließt leichter, wie die Deinige. Komm! – Noch Eins. Wenn ich ertappt werde, so kostet es mich zwanzig Jahre; merke Dir das. Ick habe ein Messer bei mir, das in diesem Falle zuerst für Dich bestimmt wäre.“

„Was fällt Dir ein, Fritz?“

Sie gingen vollends an das Haus. Vor der Thür blieben sie stehen und horchten nach allen Seiten. Es war überall still.

„Den Schlüssel her!“

Die Hausthür schloß sich leicht, ohne Geräusch auf. Die Diebe traten in das Haus. Sie legten die Thür in das Schloß, zogen den Nachschlüssel heraus und stiegen die Treppe hinauf. Alles leise; eine Katze hätte sich nicht leiser bewegen können. Sie gingen an dem ersten Stock vorüber und erstiegen die Treppe zum zweiten Stock. An der Flurthür des zweiten Stocks blieben sie wieder stehen. Sie horchten wieder, vernahmen aber nichts.

„Den zweiten Schlüssel!“

Auch diese Thür wurde ohne das mindeste Geräusch aufgeschlossen. Sie traten in den Flur, die Thür hinter sich anlehnend. Es war hier eben so still, wie dunkel. Sie gingen an der Küchenthür vorbei und standen an der Thür der Wohnstube, in welcher der Diebstahl ausgeführt werden sollte.

„Den dritten Schlüssel!“

Die Thür schloß leicht und leise, wie die beiden anderen. Die Nachschlüssel paßten in der That, wie die verschiedenen Stücke in dem Getriebe einer Dampfmaschine. Die Diebe traten in die dunkle Wohnstube.

„Hier ist der Secrctair.“

„Gib den vierten Schlüssel her. – Teufel, was ist das? Was hast Du mit dem Schlüssel gemacht? Er schließt nicht.“

„Laß mich probiren.“

„Hier.“

„Wahrhaftig, der Schlüssel will nicht öffnen. Der verdammte alte Geizhals muß ein Geheimniß an dem Schlosse haben.“

„Wir müssen es mit Gewalt sprengen. Gib Bohrer und Stemmeisen her.“

„Hier.“

„Du bohrst; ich breche auf. Dort! Nur leise, kein Geräusch.“

Sie arbeiteten mit Bohrer und Stemmeisen an dem Secretair.

„Das ist Alles verflucht fest und hart.“

„Da ist der Teufel im Spiele.“

„Man muß die Geduld nicht verlieren.“

„Wenn uns nur Niemand hört.“

„Schwätze nur nicht.“

„Da unter uns wird es lebendig; ich höre Schritte.“

„Es sind ja Fremde, sagtest Du.“’

„Ja.“

„Sie werden denken, der Alte sei zurückgekommen.“

„Aber wenn nun auf einmal der Alte käme?“

„Mein Messer träfe ihn oder Dich.“

„Teufel, Mensch!“

„Schwätze nachher. Arbeite.“

„Das Holz fängt schon an nachzugeben.“

„Hier auch.“

„Gleich sind wir am Ziele.“

„Hoffentlich.“

„Horch!“

„Was hörst Du?“

„Sind das nicht Schritte vorn im Flur?“

„Deine Angst hört sie wohl!“

„Gewiß.“

„Alle Teufel, da geht Jemand im Flur.“

„Er kommt näher.“

„Er ist vor der Thür.“

„Was fangen wir an?“

„Ruhig!“

Der Dieb, den der Andere Fritz nannte, derselbe, der aufder „Stettiner Reise“ einem „hinterpommerschen Landsimpel“ Uhr und Börse abgenommen hatte, sprach ruhig das Wort „ruhig!“ und ging dann leise zu der Thür, an deren anderer Seite man unmittelbar die Schritte hörte, suchte an der Thür nach einem Schieber, fand diesen und schob ihn ohne Geräusch vor.

„Vor einem plötzlichen Ueberfall wären wir sicher. Nun weiter!“

„Aber was nun weiter?“

„Es kommt darauf an. Vielleicht ahnt man uns gar nicht einmal hier.“

„Dann?“

„Dann arbeiten wir einfach weiter.“

„Wenn man uns aber ahnt?“

„So horchen wir, ob der Mensch allein ist. Ich höre bis jetzt nur Schritte eines Einzelnen. Ist er allein, so wird er zunächst uns hier oben einschließen wollen, um Hülfe zu holen; dem müssen wir dann zuvorkommen.“

„Wodurch?“

„Wodurch? Wir reißen die Thür auf, werfen ihn nieder und stürzen über ihn fort. Es wäre nur ärgerlich, daß wir hier alles im Stiche lassen müßten.“

„Aber wenn er nun schon für Hülfe gesorgt hätte? Schon unten? Er fand die Hausthür offen.“

„Es wäre schlimm.“

„Dann? Was machten wir dann?“

„Still! Die Schritte entfernen sich.“

„Sie gehen hinten in den Gang; da schläft die alte Magd.“

„Es ist also doch der Alte, der zurückgekommen ist?“

„Er wird die Magd wecken wollen.“

„Sieh durch das Fenster.“

„Wonach?“

„Ob Platz und Straße frei sind.“

„Ich sehe keinen Menschen.“

„Dann fort!“

„Wohin?“

„Zum Teufel, aus dem Hause, aus der Wohnung, ehe der [132] Mensch von der Alten zurückkommt! Vorwärts! Oeffne die Thür! Spring rasch hinaus!“

„Gehe Du voran.“

„Feige Memme!“

Auch diese Worte sprach jener Fritz. Er schob den Schieber an der Thür zurück, riß sie eben so schnell wie leise auf, stürzte in den Flur, an der Küchenthür vorbei, fand die Flurthür offen, flog hinaus, die Treppe hinunter, an dem ersten Stock vorüber, zu der Hausthür, um dann durch diese in’s Freie zu springen. Aber die Hausthür war verschlossen, und als er an dem Schlosse drehte, flüsterten von außen mehrere Stimmen durch das Schlüsselloch:

„Die Gensd’armen kommen da schon. Wie viele Diebe sind es denn?“

Der Dieb flog entsetzt zurück.

„Wohin nun?“

In demselben Augenblicke hörte er oben einen Schrei, dann ein kurzes Balgen und darauf zwei Stimmen triumphirend rufen:

„Ah, haben wir Dich, Bursche!“

„Gefangen!“ schlug der Dieb sich vor den Kopf. „Gefangen in einer nichtswürdigen Mausefalle! Zwanzig Jahre Zuchthaus! Was nun? Was nun?“

[146]
V.

Es war auch in den Zimmern, die der Baron von Goddentov am Gensd’armenmarkte zu Berlin gemiethet hatte, beinahe Mitternacht. Der Baron und die Baronin saßen, ein trauerndes edles Paar, unter den Trümmern ihrer Reiseeffecten.

„Ach, Theure, kein Schlaf will in meine Augen kommen!“

„Auch nicht in die meinigen, theurer Freund!“

„So ohne Schlafrock hier sitzen zu müssen!“

„Und mein sämmtliches Nachtzeug ist fort, Verehrtester!“

„Und fast unser sämmtliches Geld!“

„Und alle meine Pretiosen!“

„Ach, Theure, diese Berliner Diebe!“

„Sie sind doch nicht so dumm, wie wir sie glaubten.“

„O doch, Verehrte, sie haben ja nicht uns, sondern nur unsere Domestiken betrogen. Siehe, das ist mein großer Trost. Ich sage Dir, die Berliner Diebe sind dumm.“

„Aber jener Graf Schimmel, theurer Freund, ich fürchte doch beinahe –“

„Er war nicht der Dieb, meine Gemahlin, Du wirst es erfahren. Morgen werden wir uns nach ihm erkundigen, und ich bin überzeugt, daß wir ihn nächstens bei Hofe wiedersehen werden. Aber jener Polizeihauptmann! Oder vielmehr jener Mensch, der sich dafür ausgeben wollte! Ihn halte ich am Ende noch immer für den Dieb. Du selbst sprachst von seinen Spitzbubenaugen –“

„Aber er gehörte zur Polizei, Verehrtester, da müssen sie solche Augen haben.“

„Aber ich bleibe bei meinem Verdachte.“

„Woher hätten alle die Polizeibeamten um ihn her kommen sollen?“

„Meine Verehrteste, von solchen Spitzbubenverkleidungen, auch in Masse, hat man viele Beispiele. – Aber horch, welch’ ein seltsames Geräusch läßt sich da vernehmen!“

„Wo, mein theurer Baron?“

„Es war mir schon einige Male, als wenn ich flüstern und hin- und hergehen gehört hätte.“

„Aber wo, Theuerster?“

„Und jetzt höre ich es wieder.“

„Aber wo, mein Gemahl?“

Die Dame war ungeduldig geworden.

„Auf der Treppe, über uns, unten an der Hausthür, überall, Verehrteste.“

„Es werden Hausbewohner sein, die zurückkehren.“

„Es ist möglich, auch daß sie aus Achtung vor uns so leise gehen und sprechen. Aber sollten die Berliner so rücksichtsvoll sein? Ich habe andere Gedanken, Theure.“

„Und welche?“

„Wenn es da ein Liebesabenteuer gäbe?“

„Wie kommst Du auf den Gedanken, theurer Freund?“

„Dieses Gehen ist so zart, dieses Flüstern lautet so süß.“

„Aber wie kommst Du zu dieser lebhaften Einbildungskraft, lieber Baron?“

„Ach, meine Verehrteste, als wir heute durch die Straßen fuhren und ich überall die feinen hübschen Gesichter und die schlanken Taillen sah –“

„Wie? Ich hoffe nicht, daß die Deine Phantasie in solchem Grade entzündet haben –“

„Ich muß Dir nur gestehen, Theure –“

„Was, Du gestehst es ein?“

„Aber gib es selbst zu, meine Gemahlin, Hinterpommern, und besonders Kassuben, ist ein schönes Land und es gibt nirgends in der Welt fettere Gänsebrüste. Aber solche anmuthige Gesichter, solche reizende Taillen –“

„Himmel, mein theurer Freund! Anmuthige Gesichter, reizende Taillen, Liebesabenteuer! Und das Alles soll es nicht in Hinterpommern geben?“

„Daß es dort keine Liebesabenteuer gebe, habe ich nicht gesagt, meine Liebe.“

„Du hast wohl selbst schon welche gehabt?“

„Ei, ei, Du wirst doch nicht eifersüchtig? Aber ich leugne nicht, daß ich hier wohl so ein kleines Liebesabenteuerchen haben möchte.“

„Mit den anmuthigen Gesichtern und reizenden Taillen?“

„Hm, hm! Aber ich muß wahrhaftig das Licht nehmen und nachsehen, was da draußen auf der Treppe schleicht.“

„Du unterstehst Dich nicht.“

„Aber, meine Gemahlin –!“

„Du stellst im Augenblick das Licht wieder hin.“

Plötzlich vernahm man oben im zweiten Stock des Hauses einen lauten Schrei.

„Meine Verehrte, was ist denn das?“ Dann hörte man ein augenblickliches Balgen. „Was mag das sein?“ Dann rief es oben laut: „Ah, Bursch, haben wir Dich!“

„Meine Gemahlin, jetzt habe ich es.“

„Was hast Du, lieber Baron?“

„Ich hatte Recht; es ist ein Liebesabenteuer. Sie haben den Seladon gefangen. Gewiß ein alter Brummbär von Ehemann oder Vormund oder Onkel! Ah, ich muß den armen Menschen doch sehen.“

„Mein Freund, wohin willst Du? Begib Dich in keine Gefahr.“

„Ich werde mich doch nicht fürchten!“

Der Baron hielt das Licht, das er schon vor einer Weile genommen hatte, noch immer in der Hand. Er ging damit an die Thür und öffnete diese, freilich leise und vorsichtig genug. Auf einmal prallte er zurück; das Licht wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen. Ein junger Mensch in einem alten, abgetragenen Rocke stand in dem Flur, unmittelbar vor ihm. Auch der junge Mensch flog zurück, als so unerwartet und leise neben ihm die Thür sich öffnete und ein helles Licht ihn beschien. Und als er gar den Baron von Goddentov aus Hinterpommern erkannte, mußte er unwillkürlich zwischen den Zähnen murmeln: „Jetzt bin ich vollends verloren!“ Aber auch der Baron hatte den jungen Mann erkannt, und er hatte ihn erkannt mitten in seinen Gedanken an freundliche Gesichter, schlanke Taillen, Liebesabenteuer, süßes Flüstern, und der Baron sammelte sich wieder.

„Ah, ah, Graf! Ein kleines Liebesabenteuer? Ei, ei!“

Hätte der Baron gehört, wie der Graf Schimmel sich jetzt innerlich für einen Dummkopf erklärte, daß er auf den Einfall eines solchen klugen hinterpommerschen Edelmannes nicht von selbst gekommen sei, wie würde er über die Dummheit der Berliner Diebe – freilich wohl nicht triumphirt haben!

„Ja, mein lieber Baron,“ sagte der Graf Schimmel von Hengst auf Füllendorf, „aber ein verunglücktes Abenteuer. Und wenn der Himmel mir nicht Sie als einen rettenden Engel gesendet hat, so bin ich verloren.“

„Ah, Graf, der Vater!“ sagte der Baron listig.

„Ein Barbar von Vater! Er macht mich unglücklich! Meine Ehre! Die Ehre der Dame!“

„Treten Sie ein, lieber Graf. Schnell, schnell, damit Niemand Sie sieht.“

Der Graf Schimmel sprang in das Zimmer. Der Baron schloß rasch und leise die Thür hinter ihm zu.

„Ah, Baron, wie danke ich Ihnen! – Gnädige Frau, Sie zürnen mir doch nicht? Sie kennen ja auch die Macht der Liebe!“

„Ja, ja,“ lachte der Baron. „Schlanke Taillen! Reizende Gesichter!“

„Mein Gemahl!“ rief die Baronin zornig.

„Ah, meine Frau wird eifersüchtig! Ich gestehe, hier in Berlin – Aber, lieber Graf, wie sehen Sie aus! In welchem Anzuge sind Sie!“

„Ah, lieber Baron, zu welchen Verkleidungen nimmt die Liebe nicht ihre Zuflucht!“

„Ah, ah! Liebe und Diebe. – Apropos, lieber Graf, hatten Sie mich nicht schon beim Aussteigen auf dem Bahnhofe vor einem lauernden Spitzbubengesichte gewarnt?“

„Allerdings.“

„Denken Sie sich, der Mensch wollte sich mir gegenüber für einen Polizeihauptmann ausgeben!“

„Aber Sie erriethen ihn, Baron?“

„Leider zu spät. Der Spitzbube hat mir meine Uhr und meine Börse gestohlen.“

„Dieses Berliner Diebsgesindel ist sehr frech, Baron.“

[147] „Sehr, lieber Graf! – Aber welch’ ein entsetzlicher Tumult entsteht da im Hause!“

„Bekümmern wir uns nicht darum. Man wird mich suchen.“

„Aber, lieber Graf, wer schrie denn vorhin so entsetzlich da oben?“

„Ah, Baron, mein Tölpel von Bedienten. Ich halte den Menschen auf Wache gestellt, um nicht überrascht zu werden. Auf einmal läßt er sich fangen. Ich konnte kaum noch von oben entspringen. Unten fand ich die Hausthür besetzt. Denken Sie sich meine Verzweiflung. Da kamen Sie, mein rettender Genius. Sie werden mich doch nicht ausliefern, verrathen?“

„Aber, Graf, was denken Sie denn von mir? Ich bin Cavalier!“

„Man wird Ihnen von Dieben sprechen.“

„O, ich kenne das, Graf!“

„Mein Gemahl, Du kennst das?“ rief entrüstet die Baronin. „Ich hoffe nicht –“

„Meine Verehrteste, nur aus Romanen und aus dem Theater zu Stolpe.“ Es wurde von außen mehrmals heftig an die Thür des Zimmers geklopft.

„Ah, ah, Graf, da sind sie schon. Aber seien Sie unbesorgt. Eilen Sie in das Schlafcabinet meiner Gemahlin dort. Ich werde Ihre Ehre und die der jungen Dame zu vertheidigen wissen. Die Herren werde ich abfertigen; sie sollen an mich denken.“

Der Graf Schimmel eilte in das Cabinet. Der Baron öffnete die Thür des Zimmers. Ein alter Herr und ein paar Gensd’armen standen vor der Thür. „Meine Herren, was wäre Ihnen gefällig?“ fragte der Baron sie stolz.

„Mein Herr, hier ist –“

„Ich bin der Baron von Goddentov auf Goddentov in Hinterpommern.“

„Herr Baron, hier im Hause ist ein frecher Einbruch verübt worden.“

„Ah, ah, ein Einbruch!“ lächelte der Baron listig. „Bei mir nicht, meine Herren.“

„Aber da oben –“

„Sie halten mich doch nicht für den Dieb?“

„Keineswegs. Aber es waren zwei Diebe –“

„Ah, Zwei?“

„Und wir haben erst einen.“

„Und suchen den zweiten?“

„Er muß noch im Hause sein.“

„Ah, da suchen Sie ihn bei mir?“

„In der That.“

„Sehen Sie sich gefälligst in dem Zimmer um.“

„Sie haben also nichts gehört?“

„Einen Schrei da oben.“

„Sonst nichts?“

„Sonst nichts.“

„Auch nichts gesehen?“

„Gar nichts.“

Die Gensd’armen sahen sich einander an. Bei dem Baron sah Alles so unverdächtig aus, und er hatte seine Rolle so natürlich gespielt. „Entschuldigen Sie, Herr Baron.“

„Ich bitte, meine Herren, Sie haben Ihre Pflicht gethan.“

Der alte Herr und die Gensd’armen gingen. Der Baron verschloß die Thür wieder.

„Die habe ich angeführt!“ triumphirte er.

Der Graf Schimmel war aus dem Cabinete zurückgekommen.

„Ah, lieber Graf,“ triumphirte der Baron weiter, „jetzt begreife ich, wie die Berliner Diebe dumm sein können. Die Berliner Polizei ist noch dümmer. – Nun, Sie bleiben die Nacht hier bei uns. Das Sopha ist bequem. Morgen sehen wir, was weiter zu thun ist.“

[155]
VI.

Es war schon heller Tag. Der Baron von Goddentov war so eben erwacht; rings um ihn herrschte noch tiefe Stille. Er rieb sich die Augen, sah in den hellen Morgen und wollte, um nach der Stunde zu sehen, nach seiner Uhr langen, die er immer an seinem Bette liegen hatte; da fiel ihm ein, daß sie ihm gestern gestohlen worden war. Es fiel ihm zugleich Mehreres ein, nämlich alle seine gestrigen Abenteuer, bis zu dem letzten mitten in der Nacht.

[156] „Ah, ah, der arme Graf wird noch schlafen,“ sagte er dann. „Es war schon spät, und nach so einem verliebten Abenteuer bedarf man der Ruhe; die Gemüthsbewegungen greifen an, ich darf ihn noch nicht wecken. – Meine Gemahlin!“ rief er darauf sehr leise. –

Die Wohnung des Barons am Gensd’armenmarkte zu Berlin war so eingerichtet, daß zunächst an dem Wohnzimmer, in welchem für diese Nacht der Graf Schimmel auf dem Sopha schlief, das Schlafgemach der Baronin, und neben diesem, durch eine Thür damit verbunden, sein Schlafzimmer lag. Die Thür stand offen. Durch die offene Thür rief er seiner Gemahlin leise zu. Sie antwortete ihm eben so leise:

„Mein theurer Baron?“

„Es ist so still, hast Du nicht gehört, ob der Graf schon aufgestanden ist?“

„Ich habe noch keine Bewegung gehört.“

„Er schläft also noch?“

„Er muß noch schlafen.“

„Meine Gemahlin, welche Zeit haben wir? Du weißt, meine Uhr hat mir der freche Dieb gestohlen, der sich für den Polizeihauptmann ausgab. Wärst Du so gütig, nach der Deinigen zu sehen?“

Er erhielt erst nach einer Weile Antwort, noch immer leise:

„Ich weiß nicht, mein theurer Freund, wie das ist. Ich finde meine Uhr nicht!“

„Du hattest sie doch noch vergangene Nacht?“

„Allerdings; ich legte sie erst ab, als ich mich zu Bette begab. Ich legte sie auf den Stuhl hier vor meinem Bette.“

„Und sie ist nicht mehr da?“

„Ich finde sie nicht.“

„Ich finde das sonderbar.“

„Und – was ist denn das?“

„Was, Verehrteste?“

„Auch meine Ringe, mein Collier und meine Broschen sind fort. Ich hatte Alles gestern Abend hier vor mein Bette gelegt.“

„Ich finde das sehr sonderbar.“

„Mein lieber Freund“ – die Baronin sprach das noch leiser – „ich komme da auf einen eigenthümlichen Gedanken.“

„Auf welchen, Theure?“

„Wenn der da drinnen doch kein – doch kein –?“

„Doch kein Graf wäre, wolltest Du sagen?“ sagte wieder noch leiser der Baron.

„Das wollte ich sagen, mein Freund. Wenn er doch ein Dieb wäre!“

„Aber ich bitte Dich, Verehrteste, man kann doch einen Graf von einem Diebe unterscheiden!“

„Sein Abenteuer vergangene Nacht! Sein Eindringen in dieses Haus –“

„Es war ein Liebesabenteuer.“

„Und wie ordinair sah er aus! Wie war er gekleidet!“

„So muß man zu Liebesabenteuern gehen, ich weiß das.“

„Du weißt nichts!“ rief zornig und lauter die Baronin.

„O, o, Theure! Aber horch, da schlägt eine Uhr.“

Eine Uhr auf den Thürmen des Gensd’armenmarktes schlug. Sie schlug neun Uhr.

„Himmel, meine Gemahlin, hast Du gehört?“

„Schon neun Uhr, lieber Freund.“

„Und der Graf rührt sich noch immer nicht?“

„Noch immer höre ich nichts.“

„Ob ich mich einmal stark räuspere?“

„Wäre es nicht besser, wenn Du aufständest und nachsähest? Du brauchst ja blos Deinen Schlafrock anzuziehen.“

„Ah, Verehrteste, Du vergißt, daß die Spitzbuben mit meinem Schlafrocke durchgegangen sind.“

„Diese Berliner Diebe nehmen einem Alles.“

„Ja, sie sind sehr frech, liebe Gemahlin, und ein Glück bleibt es immer, daß sie so dumm sind. Sonst, zumal bei dieser dummen Polizei –“

„Horch, es regt sich etwas.“

„Wo?“

„Vorn im Zimmer.“

„In dem der Graf schläft?“

„Ich höre die Thür aufgehen.“

„Die Thür, Theure?“

„Gewiß.“

„Wer könnte das sein? Ich hatte sie von innen abgeschlossen. Sollte der Graf schon aufgestanden sein?“

„Hülfe, mein Gemahl! Hülfe!“ rief auf einmal laut die Baronin.

„Was gibt es?“

„Ein Kerl, eine Mannsperson tritt in mein Schlafzimmer.“

„Befiehl ihm, zurückzugehen.“

„Aber komm Du zu meiner Hülfe.“

„Ah, der Schreck hat mich gelähmt.“

So mußte es in der That sein, denn er kroch tiefer unter die Decke seines Bettes, und dann rührte er sich nicht mehr. Aber er sollte dort nicht lange unbeweglich bleiben.

Die Thür, die aus dem Wohnzimmer in das Schlafgemach der Baronin führte, hatte sich wirklich plötzlich geöffnet und ein Mensch war darin erschienen. Und dieser, sobald er vor dem Hülfegeschrei der Baronin zu Worte kommen konnte, sagte sehr höflich:

„Gnädige Frau, ich habe Sie und Ihren Herrn Gemahl dringend zu sprechen. Dürfte ich Sie bitten, daß Sie Beide schnell aufständen? Ich warte unterdeß hier im Zimmer.“

Er trat in das Wohnzimmer zurück und machte die Thür zu. Aber der Baron hatte die Stimme erkannt.

„Meine Theure, das war der Dieb vom Bahnhofe, der sich für den Polizeihauptmann ausgab. Er wird uns den Rest unserer Sachen stehlen.“

Er sprang auf, rannte nackt, wie er war, an das Fenster seines Schlafgemachs und riß es auf.

„Diebe! Mörder! Zu Hülfe!“ rief er hinaus.

Die Thür des Wohnzimmers öffnete sich.

„Mörder, Mörder!“ rief der Baron lauter.

„Aber zum Teufel, mein Herr,“ sagte der Mann, der sich für einen Polizeihauptmann ausgegeben hatte, „schreien Sie nicht den ganzen Gensd’armenmarkt zusammen. Es kommt doch Niemand zu Ihnen. Kleiden Sie sich nur rasch an.“

Die Thür verschloß sich wieder. Zu dem armen Baron kam wirklich Niemand. Er kleidete sich zitternd und bebend an. Die Frau Baronin that desgleichen.

„Mein theurer Baron, was ist das Alles?“

„Meine Liebe, welch’ eine Polizei in diesem Berlin! Ich rufe, daß man es in Hinterpommern bis zu drei Dörfern gehört hätte, und Niemand kommt uns zu Hülfe. Der Mensch leert unterdeß alle Zimmer aus. Und dann wird er uns zuletzt noch hier überfallen!“

„Und selbst unsere Domestiken kommen nicht zu uns, lieber Baron.“

„Wie sollten sie es können, Verehrteste? Sie werden gefangen sein, wie wir.“

„Sollte denn das ganze Haus in den Händen der Räuber sein?“

„Muß man es nicht fürchten?“

„Mitten in Berlin?“

„Es ist Alles möglich.“

Die Thür öffnete sich wieder.

„Ah, ah, endlich,“ rief der Baron. „Joachim, mein Joachim, lebst Du noch? Wo kommst Du her?“

„Ew. Gnaden, dieses Berlin ist ein schreckliches Nest. Wären wir doch wieder in Goddentov!“

„Aber, Joachim, wie siehst Du aus? Du trägst ja die Kleidung des Grafen Schimmel, nicht Deine Livree.“

Joachim erschien wirklich in dem Rocke des Grafen Schimmel, aber in dem abgetragenen, mit dem dieser Graf in der Nacht zu dem Baron gekommen war. Der arme Joachim mußte weinen.

„Ach, Ew. Gnaden, was muß man hier in Berlin Alles erleben! Als ich heute Morgen aufwache, ist meine Livree fort und dieser alte schmierige Rock liegt an seiner Stelle vor meinem Bette. Und nicht blos mein Zeug war fort, auch meine Uhr und mein bischen Geld. Die verdammten Spitzbuben!“

„Hattest Du denn Deine Stube nicht verschlossen, Joachim?“

„Wer konnte an so etwas denken, Ew. Gnaden?“

„Aber ich begreife nicht, diesen Rock trug doch heute Nacht der Graf Schimmel.“

„Einen solchen Rock, Ew. Gnaden? Das mag ein schöner Graf gewesen sein.“

[157] „Mein theurer Baron, sollte der Graf Schimmel doch kein Graf sein?“

„Joachim,“ rief der Baron mit einer aufwachenden Ahnung, „wie bist Du hier zu uns in das Zimmer gekommen?“

„Der Herr Polizeihauptmann hat mich hereingelassen, Ew. Gnaden.“

„Der Polizeihauptmann? Gehörte der Mensch wirklich zur Polizei?“

„Das ganze Haus, Ew. Gnaden, ist voll von Gensd’armen und Polizeibeamten.“

Der Baron stand einen Augenblick sprachlos. Die Baronin aber fragte:

„Joachim, wo bleibt denn Justine?“

„Mamsell Justine, Ew. Gnaden, Frau Baronin? Ach, die arme Person!“

„Lebt sie nicht mehr, Joachim?“

„Sie lebt noch, Ew. Gnaden, aber wie!“

„Wie denn?“

„Splitternackt, Ew. Gnaden, im bloßen Hemde.“

„Allmächtiger Gott!“

„Die Diebe sind auch in ihrer Stube gewesen und haben ihr Alles mitgenommen.“

„Das ist entsetzlich!“

Die Thür des Wohnzimmers öffnete sich nochmals. Der Polizeihauptmann sah herein.

„Herr Baron, sind Sie angekleidet?“

„Ja.“

„Auch die gnädige Frau?“

„Ebenfalls.“

„Dürfte ich dann Sie Beide hierher bitten?“

„Ist wirkliche Polizei im Hause, Joachim?“ fragte der Baron leise seinen Bedienten.

„Gewiß, Ew. Gnaden.“

„Weißt Du es ganz sicher?“

„Das ganze Haus ist voll. Der Wirth und alle die Leute kennen sie.“

„Dann wäre dieser Mensch doch kein Dieb, sondern ein Polizeihauptmann?“

„Gewiß ist er das, Ew. Gnaden.“

„Ach, Verehrteste, wie man hier in Berlin sich in den Leuten irren kann! Und – was fällt mir da ein!“

„Was fällt Dir ein, lieber Freund?“

„Der Graf Schimmel war also doch vielleicht ein Dieb.“

„Nicht blos vielleicht.“

„Und die Polizei hat ihn gesucht, und wir haben ihn verleugnet! Und – der Herr Staatsanwalt von Stolpe hat es mir einmal gesagt, nach dem neuen Strafgesetzbuche wäre das Begünstigung des Diebstahls, und wir könnten als Diebeshelfer, als Hehler, zur Untersuchung gezogen werden. Ein Baron und eine Baronin von Goddentov! Ich überlebte es nicht.“

„Mein Gemahl, ich habe Dir zu bemerken, daß ich meinerseits den Menschen nicht verleugnet habe.“

„Ach, meine Theure, das ist eine entsetzliche Lage.“ Der Baron mußte mit seiner Gemahlin in das Wohnzimmer gehen, wo der Polizeihauptmann auf sie wartete. Er ging wie ein armer Sünder. In der Thür faßte er jedoch wieder bessern Muth.

„Es ist ein Glück dabei,“ flüsterte er seiner Gemahlin in das Ohr, „diese Berliner Polizei ist sehr dumm, noch dümmer, als die Diebe hier. Auf den rechten Gedanken wird man nicht kommen.“

Der Polizeihauptmann war sehr höflich. „Herr Baron, erlauben Sie mir einige Fragen.“

„Was wünschen Sie?“

Der Beamte zog eine feine goldene Uhr hervor. „Ist Ihnen diese Uhr bekannt?“

Der Baron fuhr auf. „Es ist die meinige.“ Aber auf einmal ergriffen ihn wieder die alten Gedanken. „Herr,“ rief er wüthend, „so haben Sie sie mir doch gestohlen!“

Der Polizeibeamte blieb ruhig. Er zog eine Börse hervor. „Und diese Börse, Herr Baron?“

„Sie haben mir auch sie gestohlen.“

„Sie ist also gleichfalls die Ihrige. Ich bedaure nur, daß wahrscheinlich der Inhalt zur Hälfte fehlen wird. Darf ich fragen, wie viel Geld sie enthielt, als sie Ihnen gestohlen wurde?“

„Es mußten noch an hundert Thaler darin sein.“

„Also die Hälfte fehlt. Es sind jetzt noch funfzig Thaler darin. – Aber, meine gnädige Frau, gestatten Sie mir jetzt ein paar Fragen. Diese Damenuhr mit Kette –?“

„Ist mein Eigenthum!“ rief die Baronin.

„Und dieses Collier, diese Brosche?“

„Alles, Alles war mir gestohlen.“

„Wann und wo? wenn ich fragen darf.“

„Heute Nacht, hier aus meinem Schlafzimmer, unmittelbar an meinem Bette.“

Der Polizeibeamte wandte sich an den Bedienten Joachim.

„Hier, Monsieur, das ist ja wohl Seine Uhr?“

„Wahrhaftig, das ist sie. Herr – Herr Hauptmann, sind Sie ein Hexenmeister?“

Auch der Baron hätte das fragen mögen. Aber seine Gedanken sollten sich noch mehr verwirren. Der Polizeihauptmann öffnete die Thür nach dem Flur und winkte hinaus. Gensd’armen und Schutzmänner trugen zwei große Koffer in das Zimmer.

„Unsere Koffer!“ riefen der Baron und die Baronin.

„Ja,“ sagte der Polizeihauptmann. „Aber mehr kann ich Ihnen nicht zurückerstatten. Namentlich sind die Sachen Ihrer Kammerjungfer, gnädige Frau, wenigstens bis jetzt noch, spurlos verschwunden. – Doch noch eins können Sie auf der Stelle wieder erhalten, die Livree Ihres Bedienten.“

Der Beamte winkte nochmals in den Flur hinaus. Ein Gensd’arm trat mit – dem Grafen Schimmel herein. Der Graf Schimmel trug die Livree Joachims.

„Sie kennen doch den Menschen, Herr Baron?“ fragte der Polizeihauptmann.

Der Baron konnte nur mit dem Kopfe „Ja“ nicken.

Der Beamte ließ den Dieb wieder hinausführen. Der Baron fand die Sprache wieder, aber er begriff noch nichts.

„Aber wie ist das Alles zugegangen?“

„Sehr einfach, Herr Baron. Den Herrn Grafen Schimmel – er heißt eigentlich Schwarz und ist ein berüchtigter Berliner Dieb – hatte ich gestern erkannt, als Sie auf dem Bahnhofe ausgestiegen. Es war mir keinen Augenblick zweifelhaft, daß er Ihnen Uhr und Börse gestohlen habe. Ich ließ ihn auf der Stelle verfolgen; aber er war schon fort, spurlos fort. Es kam darauf an, seiner habhaft zu werden, und zwar mit den gestohlenen Sachen. Es war schwierig. Daß er nicht nach Hause ging, war klar, denn er hatte auch mich gesehen. Berlin ist groß. Wo ihn finden? Der Zufall mußte zu Hülfe kommen, und es kam auch so. Heute früh wurde mir die Anzeige, daß hier in diesem Hause ein Einbruch verübt sei. Der zu Bestehlende hatte bei seiner unvermuthet früheren Rückkehr die Diebe in voller Arbeit gefunden. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Er war leise an ein Seitenfenster des Hauses getreten, unter dem er vorhin einen Schutzmann bemerkt hatte, und hatte diesem seine Entdeckung mitgetheilt. Der Schutzmann hatte auf der Stelle Hülfe herbeigeholt. Man war in das Haus gedrungen, hatte aber leider nur einen Dieb gefangen; der zweite war auf unbegreifliche Weise plötzlich verschwunden. Es blieb nur ein Verdacht, und zwar der, daß er hier, in diesem Zimmer, bei Ihnen eine Zuflucht gefunden habe. Sie leugneten das ab. Man glaubte Ihnen und begnügte sich damit, die Ein- und Ausgänge des Hauses zu besetzen.

„Der gefangene Dieb war zu keinerlei Geständniß zu bewegen gewesen. Er war verschwiegen und seinem Cameraden treu, wie alle Berliner Diebe, und hatte auch die gewöhnliche Ausrede derselben, ein Unbekannter habe ihn in Haus und Zimmer geführt, um ihm seine Commode öffnen zu helfen, zu der er den Schlüssel verloren und aus der er noch in der Nacht etwas holen müsse. Als bald darauf Leute herbeigekommen, sei der Mensch ohne Weiteres aus dem Fenster auf die Straße gesprungen und habe ihn im Stiche gelassen.

„Leider war mir die Anzeige des Vorfalles nicht sogleich in der Nacht, sondern erst heute Morgen gemacht worden. Ich erwog alle Umstände, auch den Verdacht, daß der entkommene Dieb in Ihrem Zimmer müsse Aufnahme gefunden haben. Ich erfuhr Ihren Namen. Auf einmal fiel mir der Dieb Schwarz ein, den Sie für einen Grafen Schimmel hielten. Wenn der Zufall gewollt hätte, daß er gerade in demselben Hause, in welchem Sie Ihre Wohnung genommen, ein neues Verbrechen versucht hatte! Wenn er Sie noch einmal getäuscht hätte! Es war das Alles auf einen [158] Zufall gebaut. Aber wie oft muß der Zufall helfen! Und einen völlig Unbekannten hätten Sie der Polizei nicht abgeleugnet. Schwarz mußte der zweite Dieb sein. Und mir blieb kein Zweifel mehr, daß er auch aus dem Hause entkommen war. Dieses war fortwährend besetzt geblieben, man hatte nur unverdächtige Leute hinausgelassen, allein unter diesen auch Ihren Bedienten, Herr Baron; man hatte den Mann nicht gekannt, aber Ihre Livree. Und dieser Bediente war – früh ausgegangen und nach einer Stunde noch nicht zurückgekehrt. Schwarz mußte in der Livree Ihres Bedienten das Haus verlassen haben. Und nun hatte ich auch seine weitere Spur. Er mußte sich vor allen Dingen der Livree entledigen, denn er konnte nicht zweifeln, daß sie sofort sämmtlichen Polizeibeamten Berlins signalisirt wurde; sein nächster Weg hatte ihn daher zu seinem gewöhnlichen Hehler führen müssen. Er hatte deren zwei; zu dem einen schickte ich Leute, zu dem andern begab ich mich sofort selbst. Und ich traf ihn da. Nicht nur ihn, sondern auch alle Sachen, die er Ihnen gestohlen hatte, mit Ausnahme derer der Kammerjungfer; wo er diese gelassen hat, weiß ich noch nicht. Bei dem zweiten Hehler hatten meine Leute die beiden Ihnen am gestrigen Nachmittage entwendeten Koffer gefunden.“

Der Baron begriff nun auch.

„Und was sagt dieser freche Dieb jetzt?“ fragte er.

„Er leugnet vorläufig Alles. Später wird er schon Ausreden genug haben, denn dumm sind die Berliner Diebe nicht.“

„Hm, hm,“ sagte der Baron.

Der Polizeihauptmann entfernte sich wieder. Der Baron und die Baronin waren wieder allein. Sie sahen sich an.

„Ich glaube beinahe, er hat Recht, meine Gemahlin. So dumm sind diese Berliner Diebe doch nicht.“

„Aber auch die Berliner Polizei ist nicht so dumm, mein lieber Freund.“

„Hm, meine Liebe, da könnte man doch noch einige Bedenken haben. Was hat denn dieser Polizeihauptmann, der freilich kein Dieb, sondern ein wirklicher Polizeihauptmann ist, eigentlich gethan? Ueberall ist ihm der Zufall zu Hülfe gekommen. Und, bei Lichte besehen, bin ich es, der ihm diesen Zufall zu Hülfe geschickt hat. Denn hätte ich nicht den klugen Einfall gehabt, den Dieb, der sich für einen Grafen Schimmel ausgab, die Nacht über hier bei uns aufzunehmen, jener Polizeihauptmann mit der ganzen Berliner Polizei würde nie darauf gekommen sein, daß er in diesem Hause den Einbruch verübt hatte. Also mir allein verdankt man den Erfolg.“

„Du hast Recht, lieber Baron. Kehren wir aber möglichst schnell nach Hinterpommern zurück.“