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Titel: Berliner Originale
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[622] Berliner Originale. Mit Recht klagt man gegenwärtig darüber, daß die Zahl der interessanten Originale immer seltener wird. Das großstädtische Leben schleift die Charaktere ab und verwischt das eigenthümliche Gepräge leider stark ausgesprochenen Individualität. In früherer Zeit fehlte es auch in Berlin nicht an originellen Erscheinungen, unter denen der berühmte Theolog, Professor Neander, und seine ihm ebenbürtige Schwester einen hervorragenden Rang einnahmen. In den dreißiger Jahren begegnete man häufig unter den Linden dem seltsamen Paare, das allgemein durch seine Kleidung und Haltung Aufsehen erregte. Die zärtlichste, innigste Liebe verband die Geschwister, welche in der That Inseparables waren und sich nie von einander trennten. Der große Gelehrte litt an einer wirklich außerordentlichen Zerstreutheit und war trotz seines Geistes in allen praktischen Verhältnissen des Lebens ein wahres Kind, so daß er ohne seine Schwester keinen Schritt thun konnte. Sie sorgte mit bewundernswürdiger Hingebung und Aufopferung für sein Hauswesen, für seine Nahrung und Kleidung und begleitete ihn auf allen seinen Spaziergängen. Eines Tages hatte Neander es gewagt, ohne Wissen seiner Schwester ein neues Paar Beinkleider anzuziehen und die alten abzulegen. Während er nach der Universität ging, um daselbst sein Collegium zu lesen, fand seine Schwester die abgelegten Hosen ihres Bruders in dessen Studirstube. Sogleich schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß der zerstreute Gelehrte dieses nothwendige Kleidungsstück vergessen und als Sanscülotte ausgegangen sei. Sie beschloß ihm nachzueilen, nachdem sie die zurückgelassenen Beinkleider unter ihrem Tuche verbarg. Athemlos stürzte sie nach der Universität und ließ durch einen gefälligen Studenten ihren erstaunten Bruder aus dem Hörsaale herausrufen, um ihm die vermeintlich vergessenen Beinkleider verschämt zu überreichen.

Neander’s Zerstreutheit war so groß, daß er einmal in Gedanken [623] mit dem einen Fuß auf dem Trottoir ging, während er den andern im Rinnstein nachschleppte, indem er einem ihm begegnenden Freunde klagte, daß er plötzlich lahm geworden sei. Ein andermal beschloß er seine bisherige Wohnung aufzugeben, weil sie ihm von der Universität, wohin er sich täglich begeben mußte, zu entfernt lag. Er wandte sich zu diesem Behufe an den ihm befreundeten Professor Steffens, der ihm eine ganz nahe, seinen Wünschen vollkommen entsprechende Wohnung verschaffte. An dem Tage, wo Neander dieselbe bezog, holte ihn Steffens nach dem Collegium ab, aus Furcht, daß der zerstreute Freund den Weg verfehlen möchte. Unglücklicher Weise hatte Steffens noch eine Besorgung in einer entlegenen Straße zu machen, wohin ihn Neander im eifrigen Gespräche begleitete. Nach einigen Wochen erkundigte sich Steffens, wie er mit seiner Wohnung zufrieden sei. Zu seinem Erstaunen beklagte sich Neander, daß er jetzt noch weiter nach der Universität zu gehen habe, als von seiner früheren Wohnung aus. Bei genauer Nachforschung ergab sich, daß er denselben Umweg, den er zufällig damals mit Steffens gemacht, täglich wiederholte und über jene entfernte Straße nach der Universttät in seiner Zerstreutheit nach wie vor gegangen war.

Derselbe Mann aber, der im gewöhnlichen Leben sich wie ein Kind leiten ließ, nahm in der Wissenschaft nicht nur den ersten Rang ein, sondern zeigte auch bei mehr als einer Gelegenheit eine seltene Charakterfestigkeit und den Muth der Ueberzeugung. Als die preußische Regierung damit umging, das „Leben Jesu“ von David Strauß zu verbieten, und zu diesem Zwecke das Gutachten des berühmten Theologen forderte, erklärte sich Neander trotz seiner wahrhaft christlichen Gesinnung und seiner großen Frömmigkeit gegen jede derartige Beschränkung der Wissenschaft und der freien Forschung als dem Geiste des Protestantismus widersprechend und verfocht sein Urtheil mit solch schlagenden Gründen, daß die Regierung von ihrer beabsichtigten Maßregel Abstand nahm.

Nicht minder originell wie Neander war seine Schwester Johanna, die eben so viel Geist als liebenswürdigen Humor besaß. Sie war keineswegs eine pietistische Kopfhängerin, obgleich sie die religiöse Richtung ihres Bruders vollkommen theilte; sie liebte Scherz und Witz und gefiel sich in der Gesellschaft geistreicher Männer und Frauen. Zu ihren näheren Freunden zählte sie Männer wie Chamisso, Varnhagen, Sieveking, Carl Mayer etc. Gern neckte sie die jungen Theologen, welche sich bei ihrem wahrhaft frommen Bruder durch pietistische Reden, Augenverdrehen und Muckerwesen zu empfehlen suchten, indem sie plötzlich die Frage an sie richtele: „Lieber Herr Candidat! Haben Sie auch eine Braut?“ – Einen jungen anmaßenden Mann, der über ihre Vaterstadt Hamburg sich in absprechender Weise äußerte, unterbrach sie mit den Worten: „Ach, was wissen Sie von Hamburg!“ – Als derselbe darauf entgegnete, daß er selbst in Hamburg geboren und erzogen sei, rief sie rasch: „Geboren, das mag sein, aber erzogen sind Sie nicht.“ Von demselben Mann sagte sie, die menschenfreundlichste Handlung seines Lebens sei, daß er sich nie verheirathet habe.

Als ein sehr langweiliger Herr von ihr Abschied nahm, indem er ihr mittheilte, daß er eine Reise zu seinem Vergnügen antreten wollte, sagte sie: „Er irrt sich, denn er reist nur zu meinem Vergnügen.“ Bei der großen Revue, welche zu Ehren des Kaisers von Rußland in der Nähe von Berlin abgehalten wurde, war auch sie mit einigen Damen ihrer Bekanntschaft hinausgefahren, um dem Schauspiele beizuwohnen. Im Gedränge sprang ein Mann aus dem Volke auf ihren Wagen und pflanzte sich ungenirt so vor ihr und ihren Begleiterinnen hin, daß ihnen jede Aussicht benommen wurde. Ruhig wandte sie sich an den unwillkommenen Gast mit der komischen Frage: „Glauben Sie etwa, wir wären nur deshalb heute so früh aufgestanden und ausgefahren, um Sie anzusehen?“ Der Mann mußte über diese naive Frage lachen und verließ den Wagen sogleich, indem er sich wegen seiner Ungezogenheit höflich entschuldigte.

Nach dem Tode des geliebten Bruders zog sich Johanna Neander gänzlich von der Welt zurück, sie verließ ihre bisherige Wohnung und zog nach einer am Hallischen Thore gelegenen Straße, um dem Kirchhof und seinem Grabe näher zu sein. Seitdem legte sie bis zu ihrem Ende nicht mehr die dunklen Trauerkleider und ihre schwarze Schnebbenhaube ab. Nie mehr erschien sie unter den Linden und im Thiergarten, wo sie täglich am Arme Neander’s ihren gewohnten Spaziergang gemacht hatte. Sie lebte nur noch in der Erinnerung an den Verstorbenen, mit dessen Portraits und Büsten ihr Zimmer ausgeschmückt war. Wohin man sein Auge richtete, sah man nur Bilder und Reliquien des Verewigten. Vier Jahre noch lebte sie voll Sehnsucht nach dem unendlich geliebten Bruder. Als sie erkrankte, sprach sie beständig in ihren Fieberphantasien nur mit ihm, sie sah ihn vor sich und redete ihn an, als ob er noch am Leben wäre. Ihre Nichte machte sie auf ihre Täuschung aufmerksam, indem sie ihr zurief: „Besinne Dich doch! er ist ja schon vor vier Jahren gestorben, nachdem Du ihn wie ein Engel gepflegt hast.“ – „Wie wäre das möglich?“ fragte die Kranke. „Wie hätte ich es wohl so lange ohne meinen Bruder aushalten können? Ich hätte ja darüber den Verstand verlieren müssen. Nein, ich habe nie ohne ihn gelebt!“ – Sie starb und wurde neben ihrem Bruder beerdigt, im Tode wie im Leben mit ihm vereint, das rührendste Beispiel treuester Schwesterliebe, wie sie nur noch selten in der Gegenwart gefunden wird. Auf dem Kirchhof vor dem Hallischen Thore ruht das originelle Paar, der berühmte Gelehrte und seine liebenswürdige Schwester, die gewiß auch im Himmel und unter den Seligen seine zaghaften Schritte leitet und für ihn sorgt.