Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
korrigiert
Band: 50 (1884), ab Seite: 121. (Quelle)
[[| bei Wikisource]]
in der Wikipedia
Julius Verhovay in Wikidata
GND-Eintrag: [1], SeeAlso
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Linkvorlage für Wikipedia 
* {{BLKÖ|Verhovay, Julius|50|121|}}

Verhovay, Julius (Mitglied des Abgeordnetenhauses des ungarischen Reichstages, Ort und Jahr seiner Geburt unbekannt), Zeitgenoß. Wir sind über Lebens- und Bildungsgang des in Rede Stehenden, der seinem Namen nach slavischer Abstammung ist, nicht näher unterrichtet. Er sitzt als Abgeordneter der Stadt Czegléd im ungarischen Repräsentantenhause, ist einer der Führer der äußersten Linken, einer der heftigsten Clubredner und Gegner des gegenwärtigen Ministers Tisza und zu gleicher Zeit Journalist. Er redigirt als letzterer das ungarische Oppositionsblatt „Egyetértés“, d. i. Die Eintracht, welches gerade das Gegentheil von dem bezweckt, was sein Titel besagt. In einen düsteren Vordergrund, der an die schlimmsten Tage des Jahres 1848 in Pesth und Wien – an Lamberg und Latour – erinnerte, trat er am 16. December 1877, an welchem eine Volksversammlung in die Nationalreitschule einberufen worden war, um gegen die von der Regierung eingeschlagene Politik, welche den Anschein einer russenfreundlichen und türkenfeindlichen angenommen hatte, zu demonstriren. Es ist bekannt, daß die Magyaren, welche sich rühmen, das älteste constitutionelle Volk des Continents zu sein, für die Türken, diese Vertreter des asiatischen Despotismus, eine geradezu unheimliche Sympathie hegen, daß sie dieselben, obwohl deren Horden wiederholt die Kaiserstadt, ja ganz Europa in entsetzenerregender Weise bedrohten und nahezu zwei Jahrhunderte lang das Land Ungarn unter ihrem eisenen Joche hielten, doch immer zu ihren Bundesgenossen erwählten, wenn es wieder einmal galt, gegen ihren rechtmäßigen König zu rebelliren oder die in ihrem Lande vertheilten übrigen Nationen, wie die Deutschen und Slaven, gegen alle Gesetze des Völkerrechtes systematisch zu bedrücken. Bei dieser Idiosynkrasie der Magyaren konnte die damals im Ganzen russenfreundliche Haltung des Ministeriums denselben nichts weniger als willkommen sein, und um seiner Ansicht nachhaltigen Ausdruck zu geben, hielt das Volk die oberwähnte Versammlung ab. Es wurden heftige Reden in derselben vom Stapel gelassen, welche endlich zu folgender Resolution führten: „Die von der Bürgerschaft der Hauptstadt und den mit ihr verbündeten Provinzdeputationen am 16. December 1877 abgehaltene Volksversammlung erklärt einstimmig: 1. daß die Ausbreitung der Macht Rußlands, die Bildung neuer slavischer Staaten längs der unteren Donau, die Verletzung der staatlichen Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Türkei für Ungarn und Oesterreich gefährlich ist. 2. Sie erachtet die Zeit für gekommen, daß die ungarische verantwortliche Regierung mit allen in ihrer Macht stehenden Mitteln, auch mit Anwendung der Waffengewalt, ohne Verzug intervenire zur Verhinderung der Ausbreitung der freiheits- und völkerrechtsfeindlichen russischen Macht. 3. Sie begrüßt jederzeit und mit lebhafter Freude die Inanspruchnahme der Opferwilligkeit [122] der Nation für diesen Zweck“. Hierauf wurde beschlossen, diese Resolution durch eine Deputation von 25 Mitgliedern dem Ministerpräsidenten Tisza sofort zu übergeben. Da machte Redacteur Verhovay den verhängnißvollen Vorschlag, die Anwesenden möchten alle die Deputation begleiten. In Folge dessen strömte die ungeheuere Masse der Versammelten gegen den vorderen Ausgang des Versammlungslocales, die ganze Mittelwand, alle Scheiben und Möbelstücke zertrümmernd. Die auf der Straße stets wachsende Menge wälzte sich über die Kettenbrücke nach dem Palais des Ministerpräsidenten. Dieser verlor keinen Augenblick die Geistesgegenwart, auch dann nicht, als die Massen die Thoreinfahrt seines Palais zu stürmen begannen. Der Versuch eines Bürgers, der aus dem Volke hervortrat und es anrief: man möge doch die Heiligkeit des Hausrechtes ehren, war vergeblich. Tausend Stimmen heulten ihm entgegen: „Man muß uns anhören!“ Plötzlich flog ein Stein in ein Fenster des ersten Stockwerkes. Allgemeines Gejohle begrüßte diese Heldenthat! Zwar forderten ein paar Abgeordnete, welche das Ganze in Scene gesetzt hatten, die Menge auf, sich nach Hause zu begeben. Allein da trat Verhovay vor, sprang auf einen Eckstein und rief: „Das Volk hat heute Tisza abgesetzt, man will uns nicht hören, gehen wir auf den Calvinplatz, dort wollen wir unserer Gesinnung Ausdruck verleihen“. Und nun brach der Hexensabbath los. Unter furchtbarem Pfeifen und Kreischen wurden die Laternen und mehrere Fenster des Palastes eingeschlagen. Jetzt erschienen Polizeileute und suchten die Menge auseinanderzutreiben, vergebens, sie mußten vor dem fanatischen Haufen, der auf sie eindrang, in die Thoreinfahrt flüchten. Erst als zwei Bataillone des mittlerweile herbeigerufenen Militärs mit gefälltem Bajonnete gegen die Massen vorrückten, begannen diese sich zu lichten und unter dem beständigen Rufe: „Pereat Tisza-Andrássy!“ wogte die Menge durch die Albrechtsstraße nach dem Calvinplatze, auf welchem Studenten politische Reden hielten, wonach das Volk sich allmälig verlief. Das war die erste große That in Verhovay’s politischem Leben. Das Nachspiel, welches Tags darauf im Parlamente stattfand, wo die Ausschreitungen des vorigen Tages zur Sprache kamen und Tisza in Aussicht stellte, ähnliche Volksversammlungen zu verbieten, gipfelte in der Beschuldigung, welche der Abgeordnete Madarasz gegen den Ministerpräsidenten erhob, indem er daran erinnerte, daß derselbe im Jahre 1872 selbst eine derartige Demonstration arrangirt habe, wo die Volksmenge unter dem Rufe: „Éljen Kossuth!“ vor die Königsburg gezogen sei. Damals hätte Herr von Tisza unter dem Beifalls des ganzen Hauses zugegeben, daß „der Volkswille sich durch derartige Versammlungen kundgeben dürfe“. Heute aber meine Herr Ministerpräsident von Tisza: „Er werde künftig wohl genöthigt sein, solche Versammlungen zu verbieten“. Im Uebrigen verlief die ganze Angelegenheit im Sande. Verhovay und die übrigen Abgeordneten, welche sie in Scene gesetzt hatten, waren durch die Immunität der Abgeordneten gefeit. – Kein Jahr war über dem eben erzählten Vorfall ins Land gegangen, als Verhovay in den Ruhmeskranz seiner parlamentarischen Gewaltthaten ein neues Blatt einfügte. Den Anlaß dazu bot der Trinkspruch, welchen der König von Ungarn im September 1878 zu Kaschau auf den Czaren ausbrachte. In seinem [123] Blatte „Egyetértés“ veröffentlichte Verhovay hierüber einen Brandartikel, in welchem er in magyarischer Gemüthlichkeit den Trinkspruch einen Faustschlag ins Gesicht der Nation nannte und selbst nicht vor Beleidigung der Majestät zurückscheute. Nun sah sich der Ministerpräsident genöthigt, gegen das Blatt gerichtlich einzuschreiten. Aber wie vorauszusehen war, wurde Verhovay von dem Geschwornengerichte in der Hauptfrage mit dem günstigen Stimmenverhältnisse von acht zu vier, aller Anstrengungen ungeachtet, welche der Staatsanwalt machte, um die Verurtheilung zu erwirken, freigesprochen. – Und wieder war ein Jahr vorübergegangen, als er in der Scandalaffaire des Volks-Bodencreditinstitutes die Hauptrolle übernahm. Paul Graf Festetics, Präsident dieser Anstalt, war nämlich durch eigenhändig geschriebene Briefe, welche Verhovay in einem anderen, „Függetlenség“, d. i. Die Unabhängigkeit, genannten Blatte veröffentlicht hatte, arg bloßgestellt worden. Isidor Majthény, ein Schwager des Grafen, erschien in Folge dessen bei Verhovay und erklärte diesen für einen Verleumder. Verhovay jedoch zeigte zur Erhärtung seiner Behauptungen jene Briefe des Grafen Festetics den beiden von Majthény abgeschickten Cartellträgern, E. Grafen Batthyányi und K. Almásy. Ungeachtet dessen erschienen am 8. Jänner 1880 Letztere wieder bei Verhovay und lasen demselben das an sie gerichtete Schreiben Majthény’s vor, das so lautete: „Da mich die auf die Person des Grafen Festetics bezugnehmenden Daten des Herrn J. Verhovay nicht davon überzeugt haben, daß derselbe zu den niedrigen Angriffen in seinem Blatte in welcher Weise immer berechtigt gewesen wäre, ersuche ich Euch, vor Herrn Verhovay zu erklären, daß ich seine Ausbrüche für Verleumdungen unfläthigster Sorte, ihn selbst aber für einen böswilligen charakterlosen Verleumder halte. Wäre in Herrn Verhovay noch so viel Ehrgefühl, um wegen dieser meiner Erklärung persönliche Genugthuung zu verlangen, so bitte ich Euch, meine Sache und meine Person zu vertreten“. Zur Erklärung des Schreibens Majthény’s sei nur bemerkt, daß Verhovay in seinen Artikeln gegen den Grafen Festetics den leidenschaftlichsten Ton angeschlagen und dieselben mit der Ueberschrift: „Banditen im Frack“ hatte erscheinen lassen. Auf Majthény’s Brief hin blieb ihm nichts übrig, als für den ihm angethanen Schimpf Genugthuung zu verlangen, um zu beweisen, daß er sich nicht terrorisiren lasse. Das Duell fand am 10. Jänner auf dem alten Rennplatze statt: 25 Schritte Distanz mit fünf Schritten Avance für jeden Duellanten. Verhovay wurde in der rechten Brustseite schwer verwundet. Die Aufregung in Pesth über diesen Vorfall war eine ungeheuere. Natürlich stand die Revolverpresse auf Seite des Verwundeten. „Man wolle es“, hieß es, „den Herren schon heimzahlen, wenn sie noch so stolz sein sollten, den kecken Federfuchs wie einen Hund niedergeschossen zu haben“. Große Volkshaufen, meist Studenten und Handwerker, erschienen vor dem adeligen Casino, und die Rufe: „Es lebe Verhovay“, „Nieder mit den Banditen im Frack“, „Nieder mit dem Casino“, ertönten aus der Menge, die sich zuletzt, ohne daß von den Waffen Gebrauch gemacht worden wäre, wieder zerstreute. – Und noch war Verhovay von dieser schweren Verwundung nicht genesen, so verkündeten im August desselben Jahres die [124] Journale einen neuen Scandal, welchen Verhovay im eigenen Lager provocirt hatte. Zwischen ihm und Bartok, dem Redacteur eines Pesther Witzblattes der äußersten Linken, also der eigenen Partei, bestand seit Wochen eine Polemik, welche Mitte August 1880 ihren Höhepunkt erreichte. Beide beschimpften einander in ihren Blättern maßlos. Besonders hart kam Bartok davon. Verhovay verweigerte ein Duell. In Folge dessen fiel Ersterer am 16. August Letzteren auf offener Straße an und schlug den ohnehin Kränklichen dermaßen, daß derselbe in sehr gefährlichem Zustande ins Spital gebracht werden mußte. – Das neueste Lebenszeichen, welches Verhovay von sich gab, war die Sprengung einer Wahlversammlung am 15. März 1884 in Szegedin, welche die Abgeordneten Ugron, Hozedon und Hermann einberufen hatten. Verhovay’s Anhänger erregten einen Tumult, Ugron ward verwundet und Militärhilfe requirirt. Die Aufregung, begleitet von bedauernswürdigen Ausschreitungen dauerte mehrere Tage. Im Vorstehenden wurden die Zustände in der magyarischen Hauptstadt geschildert, in welche nach des großen Maklers Recept der Schwerpunkt des österreichischen Kaiserstaates verlegt werden soll!! Die öffentliche Meinung glossirte oder apostrophirte dieselben in folgender Weise: „Die verrotteten und unglückseligen Zustände in Ungarn und Vorschläge zu ihrer Sanirung bilden tagtäglich den Gegenstand von Besprechungen in der cis- und transleithanischen Presse. Daß etwas geschehen müsse, wird allseitig anerkannt. Nichts kennzeichne drastischer den trübseligen Niedergang alles geistigen, sittlichen und politischen Lebens in Ungarn, als die Rolle, welche Verhovay und der ganze Typus, den er repräsentirt, in diesem Lande gespielt. Verhovay ist der Typus eines radicalen Journalisten: immer extrem in seinen Ansichten, appellirt er stets an die Leidenschaften und ist mit sich nur dann zufrieden, wenn er im Stande gewesen, die öffentliche Meinung gehörig aufzuregen. Ohne Bildung, ohne Wissen, ohne Kenntniß von Welt und Leben, ohne besonderes Talent, ohne eigenen sittlichen Gehalt, aber immer das leuchtende Schild der Sittlichkeit als Oriflamme vor sich tragend, um den eigenen schmutzigen Egoismus durch ihr Licht überstrahlen zu lassen, hat er es leider zuwege gebracht, eine Art Terrorismus über das ganze öffentliche Leben geltend zu machen, gegen welchen Niemand anzukämpfen wagte. Die Wahlen in den Reichstag verschlingen enorme Summen, und da die Mandate nur in einem bestimmten engen Kreise der mittleren Classe sozusagen von Hand zu Hand gehen, so sind die kleinen Grundbesitzer, Advocaten und Industriellen, die sich an das Mandat herandrängten, materiell zu Grunde gegangen. Die schlechten Ernten einiger Jahre und die verschiedenen Krisen, die über das Land kamen, vollendeten den Ruin, und es entstand in den Kreisen, welche die Politik zu leiten haben, jener Pauperismus, von welchem Széchényi sagte: dieser allein könne die Ursache des Unterganges der ungarischen Nation werden. Nun seien die Dinge in der That dahin gediehen, daß es sehr wenige integre materielle Existenzen im Lande gebe. Mit dem abnehmenden Wohlstande habe aber auch die bessere Gesinnung und die Scheu vor financiellen Geschäften abgenommen, und es gebe nur wenige Männer im Reichstage und außerhalb desselben, die vor einander nicht gegenseitig etwas zu verheimlichen hätten. Die radicale Partei [125] aber, welche die fortgeschrittenste sein sollte, ist in der That die zurückgebliebenste. Ihre Presse befindet sich in einem Zustande der Verwilderung, der in Europa nicht seines Gleichen hat; wenn irgend eines der oppositionellen Blätter der extremen Partei, oder selbst der gemäßigten Opposition in einer Sprache erschiene, die außerhalb der Grenzen Ungarns verständlich wäre, die Welt würde den Eindruck empfangen, dieses Land sei zur Hälfte von Tollhäuslern, zur Hälfte von Verbrechern bevölkert. Und der Hohepriester dieser Presse, der Vortänzer dieses politischen Hexensabbaths ist Verhovay“.

Allgemeine Zeitung (Augsburg, Cotta, 4°.) 1877, Nr. 353, S. 5309: „Correspondenz aus Oesterreich 17. December“; Nr. 354, S. 5325: „Correspondenz B. Pesth. 17. December“; – 1878. Nr. 1, S. 6: „Correspondenz B. Pesth. 29. December“; – 1880, Nr. 13, S. 173: „Aus Pesth“; Nr. 14: „Aus Pesth“; Nr. 23: „Aus Ungarn“; Nr. 231: „Aus Wien“.