BLKÖ:Krochmal, Nachman Kohen

Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Krocker, Johann
Band: 13 (1865), ab Seite: 239. (Quelle)
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Krochmal, Nachman Kohen (israelitischer Gelehrter, geb. zu Brody 17. Februar 1785, gest. 31. Juli 1840). Sohn des Kaufmannes Salomon Krochmalnik in Brody. Der Sohn war von schwächlicher Leibesbeschaffenheit und sehr früh zeigte sich bei K. jene contemplative Geistesrichtung, die später sein ganzes Wesen und Wirken charakterisirte. Mit dem Unterrichte war es in jenen Tagen wohl schlecht bestellt. Erst im Alter von acht Jahren lernte K. deutsch lesen und nicht durch einen geregelten Unterricht, sondern, wie sein Biograph Dr. Zunz erzählt, durch die Zeitung; hingegen war er sorgfältig in der Kenntniß des Talmud erzogen. Erst vierzehn Jahre alt, heirathete er die Tochter eines wohlhabenden Kaufmannes und lebte nun bei seinen Schwiegereltern, dort sich ausschließlich und ziemlich ungestört seinen Studien hingebend. Diese beschränkten sich aber nicht, wie es die orthodoxen Juden wollten, bloß auf den Talmud; die Mendelssohn’sche Uebersetzung des Pentateuch, wie das Maimonides’sche Werk „More“, zwei von den unwissenden polnischen Juden gleich verketzerte Schriften, zogen ihn viel mehr als der von Thorheiten und Abgeschmacktheiten strotzende Talmud an. Zugleich studirte er mit Eifer, aber auch mehr verstohlen, deutsche Sprache und Literatur, später das Französische und Lateinische, und ließ auch Mathematik und Naturwissenschaft nicht unbeachtet. Den Mittelpunct seines Denkens bildete jedoch die Speculation in der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, wobei er sich zunächst an Mendelssohn hielt und die Ergebnisse seines Denkens vor allem auf die ältere jüdische Literatur in Anwendung brachte. Im Jahre 1808 Befand er sich – aber in einem sehr leidenden Zustande – in Lemberg. Sein Siechthum, durch anstrengende Studien veranlaßt und gesteigert, war so bedeutend, daß er bereits todt gesagt wurde. Doch dem war nicht so, nur seine Genesung ward bezweifelt und ging endlich, aber höchst langsam vor sich. Nun mußte er seine speculativen, ihn aufreibenden Studien für längere Zeit unterbrechen, hingegen war ihm Lectüre gestattet und zu dieser wählte er die ältere jüdische Geschichte. Nachdem er durch sorgfältige Pflege die Genesung erlangt, kehrte er zu den einstweilen aufgegebenen Studien wieder zurück, sammelte aber zugleich einen Kreis junger strebender Männer um sich, welche mit Begeisterung den Worten des Meisters horchten, der eine Sprache redete, die sie bisher nicht gehört. Den Gegenstand seiner eigenen Studien bildeten um jene Zeit Kant – hauptsächlich die Kritik der Urtheilskraft – Fichte, Schelling; aber Maimonides und seine [240] strenge Methode hatten auf K.’s denkenden Geist bereits zu nachhaltigen Einfluß geübt, als daß er mit der Naturphilosophie sich vollständig hätte befreunden können. Aus diesem ihn so beseligenden Wandeln im Reiche des Geistes und der Geister wurde K. mit einem Male durch eine Aenderung seiner materiellen Verhältnisse herausgerissen. Vorerst verlor er seinen Schwiegervater und die Vermögensverhältnisse seines vordem wohlhabenden Vaters hatten sich zu gleicher Zeit so sehr verschlimmert, daß K. die Verwaltung seines Vermögens selbst zu übernehmen und also Kaufmann zu werden gezwungen war. In diesem Vorsatze ward er noch durch das folgende Ereigniß mächtig bestärkt. Unweit Zolkiew ist eine Gemeinde Karäer ansässig. Die Karaiten oder Karäer werden von den orthodoxen Israeliten allgemein für Ketzer gehalten und ein engerer Verkehr mit ihnen ist dem rechtgläubigen Juden ein Gräuel. Im Jahre 1815 wurde K. bei einem Besuche Zolkiews mit dem Chacham der Karäer bekannt und, von dem schlichten Manne sich angezogen fühlend, fand zwischen ihm und K. bald ein Verständniß Statt, aus welchem ein freundschaftlicher Briefwechsel sich entwickelte. Der den orthodoxen Juden schon längst verdächtige K. wurde durch diesen Umstand nur noch verdächtiger und nur noch mehr verketzert. Durch eine List gelang es seinen Feinden, mehrere Briefe K.’s, die er an den Chacham der Karaer geschrieben, zu erhalten. So wenig der Inhalt dieser Briefe vor besonnenen Denkern anfechtbar war, den jüdischen Zeloten genügte er, um K. allen jüdischen Gemeinden in Galizien und Russisch-Polen zu denunciren, ihn als dem rechtgläubigen Judenthume bereits entfremdet und als einen Abtrünnigen darzustellen, der die Absicht habe, den Karäern sich anzuschließen. Als K. von dieser Nichtswürdigkeit Kunde erhielt, so erließ er wohl auch seinerseits ein Schreiben, in welchem er die gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen widerlegt. Aber wenn es vielleicht damals und schon lange früher sein Plan war, als Lehrer zu wirken, einen Kreis junger empfänglicher Denker um sich zu sammeln und eine Schule, wie er sie sich dachte, zu bilden, so gab er unter solchen Verhältnissen den Gedanken auf, dessen Verwirklichung bei dem herrschenden Zelotismus seiner Glaubensgenossen für ihn eine unversiegbare Quelle von Leiden und Unannehmlichkeiten geworden wäre. So beschloß er denn Kaufmann zu werden. „Rührend war es“, wie Zunz schreibt, „K. mit einer Arbeit sich abmühen zu sehen, der er nicht gewachsen war. Strenge Moralität, Gutmüthigkeit und eine nicht gewöhnliche Leichtgläubigkeit bildeten einen zu schroffen Gegensatz gegen die Grundsätze, die seine Umgebung hegte.“ Nun aber, K. unterzog sich dem Unvermeidlichen und zwanzig Jahre, von 1816 bis 1836, betrieb er dieses Geschäft, freilich in seiner inneren Entwickelung und geistigen Läuterung nie innehaltend und die Muße, die ihm blieb, seinen Forschungen widmend. Im Jahre 1826, in welchem er auch seine Frau durch den Tod verlor, dafür aber in seinen Vermögensverhältnissen nur neue Widerwärtigkeiten gewann, lernte er die Schriften Hegel’s kennen, welche auf sein Denken für die Zukunft bestimmend einwirkten. Hingerissen von dem Tiefsinne dieses Forschers, nannte er dessen System „die Philosophie der Philosophien“. Es näher dem essäischen Judenthume als dem Christenthume verwandt haltend, versuchte er die Grundlage des Hegel’schen Systems im alten [241] Judenthume aufzufinden, um auf diese Art die Harmonie zwischen der jüdischen Theologie und wahren Philosophie, wie sie seiner Zeit Maimonides dargestellt, wieder herzustellen und zwar mit Durchführung einer historischen Entwickelung der Erscheinungen des Judenthums. Wie Hegel philosophischerseits, so war der berühmte Historiker Asaria de Rossi[WS 1] historischerseits sein Geleitsmann auf dem Pfade seines Denkens. Bis zum Jahre 1836 lebte K. in Zolkiew; in diesem Jahre beschloß er seinen bisherigen Wohnort mit einem andern zu vertauschen. „Hier“, lautet es in einem seiner Briefe, „hab’ ich nichts mehr zu suchen, noch werde ich von Jemand gesucht“. Sein Wunsch, nach Brody in eine kleine Privatanstellung zu kommen, um daselbst die eine Hälfte seiner Zeit der Unterweisung Erwachsener aus dem Kreise der ihn berufenden Familien, die andere Hälfte seinen wissenschaftlichen Studien zu widmen, ging glücklicherweise in Erfüllung, und so zog er nach Brody, dort sein in Zolkiew, als er noch Kaufmann war, begonnenes philosophisches Werk, das er sich zur Lebensaufgabe gemacht, fortsetzend. Ein paar Jahre blieb er in Brody; aber schon 1838 nöthigten ihn physische Leiden, nach Tarnopol zu seiner dort verheirathet lebenden Tochter zu übersiedeln. Dort lebte er zurückgezogen, mit der Vollendung seines Werkes beschäftigt. Aber sein Zustand verschlimmerte sich immer mehr und im Mai 1840 fühlte er bereits selbst sein nahes Ende. Er sprach seinen Kindern noch den Willen aus, daß seine Schriften an Dr. Zunz – den er übrigens persönlich nicht kannte – gesendet würden, damit dieser sie ordne und dann herausgebe. K. selbst hat wenig durch den Druck veröffentlicht, u. z. nur einige kleinere Aufsätze im „Sulamith“ (1818), in der „Zefirä“ (Zolkiew 1824) und im Herbste 1838 trat er im vierten und fünften Theile des Kerem Chemed für Maimonides und Eben Esra[WS 2], die beide von einem berühmten Gelehrten aus dogmatischem Standpuncte angegriffen worden waren, in die Schranken. K. war durch und durch ein Charakter und nicht bloß Philosoph in der Theorie, sondern auch in der Praxis. Was seine Gewissenhaftigkeit und Uneigennützigkeit anbelangt, war er als Jude ganz aus der Art geschlagen. Als Beleg für erstere diene die folgende Thatsache. Im Frühjahre 1840 trug man sich in Berlin mit der Idee, Krochmal als Rabbiner dahin zu berufen. Als K. Kunde davon erhielt, konnte er sich gar nicht beruhigen. „Nie“, schreibt er in einem Briefe an seinen Schwiegersohn, „war mir in den Sinn gekommen, jemals ein Amt als Gewissensrath zu bekleiden oder sich mit Leitung der religiösen Angelegenheiten einer Gemeinde zu befassen; ein solcher Zweck wäre weder mit der Weise meiner theologischen Forschungen, noch mit meinem ganzen Wesen übereinstimmend. Ich bitte Sie demnach ernstlich und inständig, diese meine unbedingte Ablehnung dem Menschen, der sich an Sie gewendet, kundzuthun und dieß ja schleunig und in den bestimmtesten Ausdrücken“. Hingegen war K. nie abgeneigt gewesen, ein Lehramt zu bekleiden, wenn sich ein passendes für ihn gefunden hätte; auch sagte er in früheren Jahren seine Mitwirkung zu, als eine Pflanzschule für Rabbiner und Religionslehrer in Aussicht gestellt wurde. Dr.Zunz entledigte sich der von K. ihm letzwillig übertragenen Aufgabe und gab seine gesammelten Schriften (Lemberg 1851) heraus. Eine zweite Auflage erschien im Jahre 1861. Für die Schüler Hegel’s und für alle Anhänger [242] seines Systems dürften K.’s Schriften ein nicht geringes Interesse bieten; denn der polnische Jude K. beobachtete mit scharfem Blicke die Entwickelung des Hegel’schen Systems und schrieb vorurtheilsfrei seine Ansichten über die Heglianer und ihre Gegner nieder. Aber die Herren müßten vorerst hebräisch lernen, denn K. schrieb nur in hebräischer Sprache[WS 3]. Die jüdische Literatur aus der Zeit der Maurischen Herrschaft – also das goldene Zeitalter derselben – nahm sein Interesse hauptsächlich in Anspruch. Sie übte auch auf seine philosophische Richtung wie auf die Gestaltung seines hebräischen Styls einen nicht geringen Einfluß. In den Schriften des Maimonides sprach ihn vornehmlich der Aristotelische Tiefsinn an, in jenen Eben Esra’s der Platonismus, den er aus ihnen herauszufinden verstand. Die Kabala, auf deren Studium er Sorgfalt verwendete, hatte für ihn bloß in der Gestalt, in welcher sie bei Nachmanides und dessen unmittelbaren Vorgängern und Nachfolgern auftritt, einiges wissenschaftliche Interesse. Von den vielen Nachbetern des Maimonides aber war es einzig Moses Narboni[WS 4], dessen er mit Lob zu gedenken pflegte. Von den vier Kindern Krochmal’s ist der eine Sohn Joseph (geboren Ende April 1812) praktischer Arzt im südlichen Rußland. Er schrieb auch eine ausführliche Biographie seines Vaters. Die eine Tochter Kunigunde aber ist an den Arzt Dr. Horwitz in Tarnopol verheirathet.

Zunz (L. Dr.), Nachman Krochmal [Eine Lebensskizze, zu welcher Dr. Zunz eine ausführlichere Biographie Krochmal’s, die sein ältester Sohn verfaßt hatte, benützen konnte.] – Slovník naučný. Redaktor Dr. Fr. Lad. Rieger, d. i. Conversations-Lexikon Redigirt von Dr. Franz Lad. Rieger (Prag 1859, Kober, Lex. 8°.) Bd. IV, S. 1017.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Azaria dei Rossi (Wikipedia).
  2. Abraham ibn Esra (Wikipedia).
  3. Vorlage: Srache.
  4. Mose ben Josua von Narbonne (Wikipedia).