Aus meinem Leben/Nr. 1. Ein Concertabend am Hofe des Herzogs von Cumberland

Textdaten
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Autor: Heinrich Dorn
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Titel: Ein Concertabend am Hofe des Herzogs von Cumberland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 681–683
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[681]
Aus meinem Leben.
Vom Capellmeister Dorn in Berlin.
Nr. 1.0 Ein Concertabend am Hofe des Herzogs von Cumberland.

„Wollen Sie mit der Catalani reisen?“ fragte mich Concertmeister Möser im April 1827; „Madame hat mir aufgetragen, für einen Accompagnateur zu sorgen, der sie begleiten soll auf ihrer Tour nach Dänemark, Schweden und Norwegen.“ Angelica Catalani, Marquise de Valabrégue (geb. 1780 oder 1784, denn hierüber sind die Angaben verschieden) hatte bereits die Linie passirt, als sie zu jener Zeit nach Berlin kam, um sich wieder öffentlich hören zu lassen. Man wußte nicht, ob ihr zweimaliges Directorat der italienischen Oper in Paris oder das zweifelhafte Marquisat des Herrn Gemahls die Schuld trug, daß, bei allem [682] Geiz, den man ihr vorwarf, die von 1801 bis 1814 in Lissabon und London gesammelten Schätze nicht mehr ausreichen wollten, und daß sie es für nöthig befand, noch im Jahre 1827 ihren europäischen Ruf auf’s Spiel zu setzen. Indeß wurde die Kühnheit durch guten Erfolg gekrönt. Sie sang viermal im k. Opernhause, den 6., 12., 22. April und am Bußtage den 8. Mai – außerdem einmal in der Garnisonkirche – im Ganzen sechszehn Arien, darunter zwei aus Händel’s Messias und zwei von Mozart (die Sextusarie „parto“ und auffallender Weise Figaro’s Baßarie „non piú andrai“), die übrigen Nummern von meist unbekannten wälschen Componisten, und als Zugabe einmal das „Rule, Britannia!“ Sie gehörte durch und durch der alten italienischen Schule an, ohne jedoch alles das vollendet machen zu können, was diese ausgeführt haben will; so zum Beispiel war ihre Kehlfertigkeit nicht bis zu dem Grade gebildet, um Mozart’s Coloraturen brillant hervortreten zu lassen; aber die wunderbar sympathische und noch immer – obgleich minder als ehedem – kräftige Stimme übte einen hinreißenden unwiderstehlichen Zauber aus, der zum Theil auch begründet war in dem Stylvollen ihres Gesanges. In solcher Weise hatte man seit Jahren nicht mehr singen hören; es war eine ausgesprochene und abgeschlossene Individualität mit einer absonderlichen und grandiosen Methode, die hier dem Publicum anfänglich vielleicht befremdend, dann aber immer gewinnender gegenüber trat. Das englische Volkslied „Rule, Britannia!“ schlug selbst ohne alle politische Veranlassung in einer Weise durch, wie man es in Deutschland nicht für möglich halten sollte; in London hatte die Catalani es bekanntlich immer zur Ermuthigung vortragen müssen, wenn die Nachrichten von neuen Napoleonischen Siegen auf dem Continent eine zaghafte Stimmung unter den Insulanern Platz greifen ließen.

Am Concertabend des 22. April, als sie das Lied im königlichen Opernhause singen sollte, begab sich ein komisches Intermezzo, dessen Hauptacteur heute noch Mitglied des Berliner Hoftheaters ist. Das Publicum war durch die öffentlichen Blätter schon mehrmals auf das God save the king der Catalani hingewiesen worden, und so wurden Wünsche laut, die auch zum Ohr des Intendanten Grafen Brühl drangen. Dieser fühlte sehr richtig, daß ein reglementmäßig vorgeschriebenes „Heil Dir im Siegerkranz“, wenn auch ohne deutschen Text, doch im Hoftheater, mit Ausnahme an den bezüglichen Festtagen, und namentlich bei dem allen Demonstrationen abgeneigten Sinn des alten Königs, leicht Anstoß erregen könnte. Es wurde aber verabredet, daß die Catalani eine italienische Arie mit begleitendem Männerchor als vorletzte Nummer des Programms, und hinterher das auf dem Zettel angekündigte Finale „Rule, Britannia!“ vortragen sollte. Die Herren vom Chor erhielten in der Probe die Ordre, ruhig während des englischen Volksliedes stehen zu bleiben, damit für den Fall, daß gleich darauf die preußische Nationalhymne vom Publicum verlangt würde, die Wiederholung des zweiten Theils mit vollem Chorus gesungen werden könnte. Zu größerer Sicherheit probirte man Vormittags dies Arrangement, und Abends ertönte a tempo regolato aus Parquet und Logen der Ruf: „Heil Dir im Siegerkranz.“ Nun gab es schon damals in Berlin, wie jetzt noch, unter den Theatersängern sogenannte Bratenbarden, und einer derselben hatte für den Vormittag Urlaub zu einer Festivität nach Charlottenburg bekommen, aber des Abends sollte er zur italienischen Arie wieder zurück sein. Er kam auch, jedoch etwas angeheitert und zu spät; denn die Arie war vorüber, und „Rule, Britannia!“ war vorüber, und eben sollte das Ritornell zur quasi improvisirten Schlußnummer beginnen. Da erblickt der auf der Bühne inspicirende Director Leidel den mit einer riesenmäßigen Baßstimme begabten, zwischen den Coulissen rathlos umherwankenden Spätling, und um dessen kräftige Unterstützung nicht entbehren zu müssen, ruft er ihm zu: „Hierher, mein Junge, Heil Dir im Siegerkranz!“ Gesagt, gethan; während das Orchester unter Möser’s Leitung die ersten sechs Tacte als Ritornell spielt, hat sich der weiter nicht instruirte junge Mann zu seinen Collegen herangedrängt, und in dem Augenblick, da Angelica den Mund öffnen will, schnappt er ihr den Bissen fort, und mit seinem bärenhaften Organ intonirt er plötzlich aus dem Fond der Bühne ganz solo: „Heil Dir im …“; weiter kam er nicht, denn schon merkte er den Fauxpas und verflüchtigte sich eben so rasch, als er sich versammelt hatte. Es dauerte eine Weile, bis die erschrockene Catalani, im weißen Atlaskleide und eine schwankende Reiherfeder auf dem Haupte, sich wieder so weit erholte, um mit gewohntem königlichem Anstand ihr God save the king vortragen zu können.

Zu ihr nun wurde ich vom Concertmeister Möser geführt und als derjenige vorgestellt, welchen er für fähig und willig befunden, die skandinavische Kunstreise anzutreten. Nachdem ich mich auf Verlangen sofort an den Flügel gesetzt und aus vergilbten Partituren zwei alte italienische Arien (von Cordella und Cianchettini) accompagnirt hatte, schien die Primadonna mit ihrem künftigen Correpetitor und Capellmeister zufrieden, denn ich wurde gleich für einen der nächsten Abende zum Concert im Sommerpalais des Herzogs von Cumberland, des spätern Königs Ernst August von Hannover, beordert, wozu sie mir vertrauensvoll jede Probe erließ, da sie selber noch nicht wußte, was die königliche Hoheit commandiren würde. Schon am Morgen des folgenden Tages erhielt ich vom Kammerjunker des Herzogs, dem späteren Hofmarschall von Linsingen, eine officielle Einladung, um acht Uhr in Schönhausen zu erscheinen. Berlin selbst kannte ich sehr genau, aber die Umgegend war mir damals sogar bis auf die Namen eine terra incognita. Mit vielem Behagen schlürfte ich auf dieser Tour zum Hoflager im Vorgefühl künftiger Reiseabenteuer die laue Maienabendluft ein und ergötzte mich daran, zum ersten Mal die Potsdamer Chaussee in nähern Augenschein zu nehmen, welche ich bis dahin immer nur bei Gelegenheit der Schulgarten- und Kemperhof-Concerte dicht vor dem Thore betreten hatte. (Auch der Kemper Hof, wie so viele andre Höfe, existirt nicht mehr; vor etwa zehn Jahren mußte er mit seinen schönen alten Bäumen der Victoriastraße weichen, und wo sonst die Orchestertribüne stand, erhebt sich jetzt ein hohes palastähnliches Gebäude, und in ihm als Ersatz für all die verscheuchten, ehemals dort heimischen Singvöglein hat Pauline Lucca ihr Nest aufgeschlagen.)

Endlich hält meine offne Mieths-Equipage vor einer großen Mauer; ich frage den Kutscher, wo denn das Schloß liege – aber er bestreitet, daß in Schöneberg ein Schloß existire, hier gebe es nur den botanischen Garten, sonst nichts. „Und das Schloß des Herzogs von Cumberland?“ „Ja, du lieber Himmel, das ist gar nicht in Schöneberg, das ist in Schönhausen.“ In der Geschwindigkeit hatte ich Süden und Norden verwechselt! Die Pferde wurden getränkt, und nun ging’s in möglichster Eile durch die ganze Stadt zurück, zum entgegengesetzten Ende wieder heraus und nach dem eine Meile von Berlin hinter Pankow gelegenen Schönhausen, wo ich denn möglichst bestaubt vor dem königlichen Palais abstieg.

Die Gesellschaft saß im Garten um einen großen runden Tisch versammelt; die Catalani lebhaft sich unterhaltend zwischen dem Herzog und dessen Gemahlin, einer Schwester der Königin Louise von Preußen. Als ich von einem Kammerdiener durch das Schloß geführt in’s Freie hinaustrat, bemerkte mich die Catalani zuerst und theilte mein Vorhandensein einer der jüngern Damen mit, welche sehr verbindlich mir entgegenkam und mich ohne weitere Vorstellung an den kleinen Theetisch brachte, auf welchem die Maschine brodelte. Dieses junge hübsche Fräulein, eine Prinzessin von Solms-Braunfels und Tochter der Herzogin aus deren erster Ehe, bediente mich auch selber und sprach über die projectirte Reise nach Kopenhagen etc., wofür ich ihr meine so eben überstandene Irrfahrt nach Schöneberg erzählte; dann aber ging sie zu dem großen Tisch zurück, und ich blieb nun mutterseelenallein, ohne mich in nächster Nähe des Hofes selbstständig bewegen zu können.

Diese erbarmungswürdige Existenz weckte das Mitleid eines schönen achtjährigen Knaben, der bis dahin abwechselnd auf dem Schooß der Catalani gesessen oder sich auf den Knieen seines Vaters, des alten Herzogs, geschaukelt hatte. Er kam auf mich zu und sagte: „Folgen Sie mir, ich werde Ihnen den Park zeigen.“ Mein kleiner Führer nahm mich bei der Hand, und that, wie er verheißen. Aber der Park war, und ist noch heutigen Tages, sehr unbedeutend; es gab nicht viel zu sehen … und so fing denn das Kind an von seinen Reisen zu erzählen, das heißt der junge Prinz beschrieb mir die Costüme aller Postillone in den kleinen deutschen Staaten, welche er kürzlich mit seinem Papa besucht hatte. Dabei aber ließ er jene interessanten Menschen in dreifacher Erscheinung – in Stalljacke, gewöhnlichem Dienstanzug und Paradeuniform – vor meine Phantasie treten; und das ging nun durch die anhaltiner Länder: Dessau, Cöthen, Bernburg, durch Reuß: Greiz, Schleiz und Lobenstein, durch Coburg, Gotha, Hildburghausen und durch Altenburg immer tiefer hinein in’s heilige römische Reich, vom Stiefel mit Sporn bis zum Hut mit Federbusch. [683] Mir schwindelte vor diesem echt königlichen Gedächtniß, welches zwar mitunter um einen Knopf oder um eine Schnalle und farbige Litze irrte, aber sich dann auch sofort verbesserte.

„Doch Sie hören ja gar nicht mehr zu,“ sagte plötzlich Mentor zum Telemach, „und ich erzähle das Alles nur um Sie zu unterhalten.“

„Bitte um Verzeihung, königliche Hoheit, ich war ganz Ohr!“ und mit wahrer Wollust stürzte sich der Knabe wieder in die postalische Tiefe.

Endlich schlug die Stunde der Erlösung, ein herzoglicher Lakai beorderte uns nach dem Schlosse zurück. Die Gesellschaft, welche sich unterdeß um einige ältere Herren vergrößert hatte, war bereits im oberen Saale versammelt. Die Catalani stellte mich dem martialischen Cumberland vor, und nun ging’s direct an das Pianoforte, ich in der Mitte – an meiner rechten Seite saß der hohe Wirth und genirte mich beim Blattumwenden um so mehr, da er sich, trotz seiner Einäugigkeit, darauf capricirte in die Noten zu sehen – an meiner Linken saß die Sängerin – und zwischen ihr und mir stand der kleine Herzogssohn, abwechselnd der Catalani in den Mund oder mir auf die Finger blickend. Er schaute mit den klaren Augen so lustig drein, daß wohl Niemand auf die Idee gekommen wäre, wie ein unerbittliches Geschick diese beiden hellen Sterne so bald in ewige Nacht tauchen sollte! Meine Position war in solcher nächsten Umgebung nicht eben beneidenswerth und sie wurde es noch weniger, als nach einigen Messiasnummern der alte Herr den Einfall kriegte, Duette aus der „Semiramis“ zu verlangen, weil er es für ganz selbstverständlich hielt, ein junger Musiker, der Clavier spiele, müsse auch Stimme haben und singen können. Zufällig traf diese Voraussetzung bei mir ein, und ich mochte mich als Assure wie als Arsace wohl leidlich genug aus der Affaire gezogen haben – wenigstens kargte die Catalani nicht mit mezza voce zugerufenem Bravo. – Nach jedem der vorgetragenen Musikstücke wurde eine Pause gemacht, während welcher sich der Herzog, ohne den Platz zu verlassen, in englischer Sprache, von der ich nicht ein Wort verstand, mit der Sängerin hinter meinem Rücken unterhielt, so daß wir alle drei eine volle Stunde lang nicht vom Clavier aufgestanden sind; unterdessen tippte der kleine Cumberland langsam prüfend auf den Contratasten umher, und da ich nichts zu thun hatte, begleitete ich seine zufälligen Bässe mit improvisirter Harmonie, die seine volle Aufmerksamkeit erregte; auch hat sich später bei dem jungen Mann wirklich musikalisches Talent entwickelt. – Die Catalani schloß mit den Rode’schen Variationen.

Als das Concertino beendet war, trat die Frau Herzogin auf mich zu, sagte mir allerlei Schönes und zeigte sich als eine so enragirte Freundin kirchlicher Musik, daß ich gleich und nicht vergeblich um die Erlaubniß bat, ihr eine geistliche Cantate (der Erlösete opus 6) dediciren zu dürfen. Zuletzt folgte stehenden Fußes ein ziemlich einfaches Souper, bei welchem ich die Bekanntschaft des auf Urlaub in Berlin anwesenden, am dänischen Hofe accreditirten preußischen Gesandten (ich glaube von Rheden) machte, der sehr ungenirt den Souverain in Kopenhagen nicht einen hohen, sondern einen rohen Herrn nannte, auch der schwedische Gesandte, Herr von Brendel, eine in musikalischen Kreisen allgemein beliebte Persönlichkeit, war unter den Gästen und sprach sehr ausführlich über die künstlerischen Verhältnisse in Stockholm. Leider sollte ich mich von denselben nicht durch eigene Anschauung überzeugen können, denn schon zwei Tage später überraschte mich Möser mit der Nachricht, daß die Catalani, in Folge schlimmer Botschaften aus Italien, ihre nordische Expedition abgegeben, und Hals über Kopf in dolce patria zurückgekehrt sei. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Sie starb 1849 in Paris an der Cholera, und zwei Jahre später bestieg, Der im Mai 1827 auf ihrem Schooß gesessen, den Königsthron von Hannover.

Und wo sah ich ihn wieder? Am 7. Januar 1861 wurde Friedrich Wilhelm der Vierte in Potsdam zu Grabe getragen. Die zunächst der Leiche Folgenden waren der jetzt regierende König von Preußen und von ihm geführt sein blinder Vetter, Georg der Fünfte von Hannover. Vor ihnen Beiden im Sarge lag der Mann, welcher 1848 die deutsche Kaiserkrone zurückgewiesen hatte.