Textdaten
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Autor: A. Bernstein
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Titel: Aus vollem Menschenherzen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, 43, S. 666–669, 683–686
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[666]

Aus vollem Menschenherzen.

Wissenschaftliche Novellette von A. Bernstein.[1]

In seinem kühlen Gartensaale hatte der Herr Professor zur Feier des zweiundzwanzigsten Geburtstags seiner Tochter Amalie eine kleine Gesellschaft „junger Leute“ um sich versammelt, drei Freundinnen der Tochter, die Fräulein Anna, Florentine und Laura, vor denen drei junge und besonders begabte Privatdocenten der Universität mit dem Leuchtfeuer geistreicher Satire über Verirrungen der Wissenschaft und des Lebens brillirten.

Den üppigsten Uebermuth entfaltete der jüngste derselben, Dr. Schwarzkopf, ein Theologe von, wie er offenherzig gestand, nun einmal verfehlter Carrière, und dieser wollte er, wie er sagte, endlich dadurch „zeitgemäß“ aufhelfen, daß er sich zum Ankläger gegen den Zoologen der Gesellschaft aufwarf, weil dieser ein Vertheidiger der Affenabkunft des Menschengeschlechts sei.

Der Herr Professor, welcher aus dem orthodoxen Consistorium des Staats ausgetreten war, um seinem Rationalismus ohne tägliche Verbitterung der Seele von Amtswegen leben zu können, schien selbst einem Ketzergericht des Scherzes gern aus dem Wege zu gehen. Als er die Bereitwilligkeit der Damen sah, ein Collegium von Richterinnen zu bilden, schritt er freundlich nickend der offenen Thür zu, um sich im Garten zu ergehen.

Und das war gut, denn nur so konnte er den neuen Gast an der Gartenpforte gewahren, dem er mit einer so sichtlichen Freude entgegenging, daß sie auf zartere Beziehungen zwischen ihnen schließen ließ. Der festliche Anzug und die weiße Halsbinde des jungen Mannes, auf dessen ganzer Erscheinung das Auge des Professors mit so innigem Wohlgefallen ruhte, verrieth den Augenblick irgend einer Schicksalswendung, und wirklich erfuhr er sofort, daß er in seinem jungen Freunde einen neuen Collegen vor sich hatte, dem soeben in feierlicher Audienz die Professur der Physiologie zugesichert worden sei. Es muß ein sehr süßes Gefühl gewesen sein, welches dem Glücklichen den Wunsch eingab, daß für die fröhliche Gesellschaft des Gartensaals seine Ernennung zum Professor für den Augenblick noch ein Geheimniß bleiben möge. In der Erinnerung an ein ähnliches Empfinden, das er selbst vor vierundzwanzig Jahren in gleicher Situation durchlebte, vollkommen damit einverstanden, führte der Herr Professor den neuen Gast dem Gartenhause zu, längst schon beobachtet von Fräulein Amalie, welcher bei dem Anblick offenbar eine so liebe Vermuthung im Herzen aufstieg, daß die glühende Röthe der Wangen sie fast verrathen hätte.

Beim Eintritt in die Gesellschaft fanden sie dieselbe über den Eindruck und namentlich den eigentlichen Werth der wenn noch so geistreichen ketzergerichtlichen Anklage- und Vertheidigungsreden der Herren in einem Meinungszwiespalt, der auf den Herrn Professor einen um so besseren Eindruck zu machen schien, je würdiger dabei das Bildungsstreben der Freundinnen seiner Tochter hervortrat und je offener es sich aussprach.

„Die Herren Gelehrten“ – meinte nämlich Fräulein Florentine – und ihre Freundinnen zollten ihr vollen Beifall – „bieten uns wissenshungrigen Schülerinnen statt des barmherzigen Brodes ihres Wissens nur unbarmherzige Steine ihrer Spottsucht. Wie begünstigt dünken wir uns doch, Repräsentanten der Hochschule hier vor uns zu haben, um von Angesicht zu Angesicht ihre Weisheit vernehmen zu können! Wie setzen sie uns auch so gern in Staunen, wenn sie mit den fertigen Resultaten ihrer Forschungen vor uns hintreten und uns zur Bewunderung hinreißen, die wir leider gar nicht zu leicht zollen! Aber wohlerwogen verleiten sie uns doch am Ende nur zum blinden Glauben aller Resultate, so lange sie uns die Probleme verhüllen, aus welchen wir uns selber zu den Ergebnissen hindurcharbeiten könnten, deren sie sich rühmen. Die Herren der Schöpfung“ – schloß sie mit einem Blick auf den Physiker, der lebhaft ihren Worten lauschte – „die Herren der Schöpfung spielen vor uns gar zu gern die Schöpferrolle, wo wir ihre fertige Welt bewundern, um über die werdende recht lange im Dunkel zu bleiben.“

„So wollen Sie Probleme?“ fiel ihr der heiter blickende Physiker in’s Wort.

„O gewiß,“ riefen die Damen aus. – „Wie solltet wir dies nicht, da Sie uns doch Alle für problematische Naturen halten!“ setzte die jüngste der Damen, Fräulein Laura, hinzu, mit halbem Blick dem Dr. Schwarzkopf begegnend.

„Wohlan,“ sagte der Physiker nach einiger Zeit, „so nehmen Sie Platz, meine Damen, und ich will Ihnen ein Problem entwickeln, an dessen Verwirklichung Sie mitarbeiten sollen, ein Problem, das eine Errungenschaft der Zukunft zu werden bestimmt ist.“

Die Gruppen der aufgelösten Gesellschaft ordneten sich gar bald im Halbkreis. Der alte Professor nahm zur Seite Florentinens Platz, der er seinen Dank aussprach für den Ernst, welchen sie in die Unterhaltung bringe. Fräulein Anna ließ sich dem neuen Gast gegenüber nieder, der offenbar zerstreut den Blick umher schweifen ließ, vielleicht um ihn nicht allzu auffallend auf Fräulein Amalie ruhen zu lassen, die seit seinem Eintritt in den Gartensaal befangener als je schien. Der Zoologe rückte seinen Sessel an die Seite der Fräulein Amalie, um über sie hinweg einen gelegentlichen Blick mit Fräulein Anna wechseln zu können. Fräulein Laura endlich schob ihren Sessel weit ab von dem des Herrn Dr. Schwarzkopf, um – wie sie sagte – das gewiß tief philosophische Problem in ungestörter Beschaulichkeit aufnehmen zu können, während der Dr. Schwarzkopf ausrief, er sei auf Alles gefaßt, nur auf kein Perpetuum mobile, das er wegen der Ruhelosigkeit, als die unglücklichste Erfindung der Welt betrachten würde.

Der Physiker, den Halbkreis vor sich, lehnte sich mit einer Professor-Miene im Lehnsessel zurück und begann nach einer Pause seinen Vortrag wie folgt:

„Sie wissen, daß man elektrisches Licht erzeugen kann. Nach den wohlbewährten Theorien der neueren Physik, welche die Lehre aufstellt, daß jede Kraft der Natur durch geeignete Vorrichtungen in eine andere übergeführt werden kann, ist dies in der That nichts anderes, als ein Ueberführen der elektrischen Schwingungen in Schwingungen des Lichtes. Es ist dies nicht eine neu erzeugte, sondern blos eine verwandelte Kraft.

Nicht minder ist es Ihnen bekannt, daß man auf einem Umweg auch aus Licht elektrische Ströme gewinnen kann. Das Licht erzeugt chemische Wirkungen, was wir in der Photographie alltäglich sehen. Chemische Erscheinungen gehen aber immer mit elektrischen Hand in Hand. Lichtschwingungen, chemische und elektrische Schwingungen sind nur verschiedene Aeußerungen einer und derselben Kraft.

In neuester Zeit ist man dem Problem näher gekommen, der Versuch ist gelungen, durch Licht direct elektrische Ströme erzeugen zu lassen. Licht in Elektricität zu verwandeln, wird bald ebenso leicht sein, wie man jetzt Elektricität in Licht verwandelt.

Dürfen wir diesen Fortschritt als bereits errungen ansehen, so liegt ein weiterer Schritt sehr nahe. Licht, das wissen Sie, besteht aus einzelnen Farben, oder richtiger ausgedrückt, jede Farbe ist Licht von eigenthümlicher Schwingung. Können wir aus Licht Elektricität erzeugen, so wird es nicht schwierig sein, auch aus jeder Farbe Elektricität hervorzurufen

Angenommen das Problem sei gelöst – und das kann nicht fehlen, wenn Sie, meine Damen, mit Ihrem feinen Farbensinn nur das Problem ernstlich lösen wollen – so sind wir einer weitern Erfindung nahe, die hoffentlich Ihr Interesse in Anspruch nehmen darf.

Gegenwärtig telegraphiren wir vermittels des elektrischen Stromes, das heißt wir erzeugen auf dem einen Ende der Leitung einen elektrischen Strom, der sich auf dem andern Ende des Drahtes zu erkennen giebt.

Kommen wir aber mit Ihrer thätigen Nachhülfe so weit, [667] aus Farbe Elektricität zu erzeugen, so können wir auf dem einen Ende der Leitung die rothe Farbe auf den Draht einwirken lassen, und es wird sich bis zum andern Ende ein Strom fortpflanzen, der sich dort, in geeigneter Vorrichtung, wieder als rothes Licht sichtbar macht. Ein Gleiches gilt von allen anderen Farben des Lichtes, die auf unser Auge wirken. Legen wir viel Drähte neben einander, so werden gleichzeitig viele Farben auf der einen Station sichtbar, die man in der andern auf die Leitungen hat einwirken lassen. Nun aber besteht unser Sehen in der Nähe doch auch nur in dem Farbenbilde, das die Netzhaut unseres Auges empfängt. Vermittels der Farbe-Elektricität wird man dann eben so gut auch in der großen Ferne sehen können, was an einem Ende der Leitung in Farben sichtbar ist, Will man nun die Sehnsucht nach dem Anblick einer Freundin in weiter Ferne stillen, so hat sie nichts weiter nöthig, als sich auf die Farbe-Telegraphiestation zu begeben, dort sich vor den eingerichteten Apparat hinzustellen, der das Antlitz in all’ den Farben wie in den Bewegungen der Mienen aufnimmt und auf die Leitungen überträgt. Durch diese Leitungen wandern all’ die Farbenströme in die Ferne und werden daselbst wiederum durch Apparate zu sichtbaren Farben verwandelt. Da erblickt denn der Freund die Freundin in lichter sichtbarer Gestalt und liest in den Mienen mit eigenen Augen den besten Commentar zu den sonst sehr trocknen Worten, welche die bisherige Telegraphie uns zuzutragen pflegte, Verbreitet sich diese Fern-Malerei im Privatgebrauch, so dürfen wir sicher sein, daß in den Zimmern aller Liebenden sich gar bald solch’ eine Vorrichtung finden wird, um in jedem Moment einen Blick in ein liebes Antlitz gewähren und die Sehnsucht der Liebe stillen zu können.“

Der Vortragende verbeugte sich mit einem Blick auf Fräulein Florentine, deren kleine Malerei er wegen des feinen Farbensinnes gar oft bewunderte, und lehnte sich im Sessel zurück, zum Zeichen, daß sein Problem nun faßlich genug dargelegt sei.

Für den ersten Moment herrschte eine Stille im Saale, die es zweifelhaft ließ, ob man den Vortrag als Ernst oder als Scherz hingenommen. Bald aber erscholl das Bravo der Herren und der Dank der Damen so bunt und heiter durcheinander, daß man wohl sah, es gelte hier nicht das Problem zu prüfen, sondern nur den Eindruck des Vortrages kund zu geben. Daß dieser ein beifälliger war, ließ sich nicht verkennen, aber ein allgemeiner schien er keineswegs zu sein. Dr. Schwarzkopf war offenbar unzufrieden, obwohl er ein Lächeln über die kühnen Combinationen des Vortrages nicht ganz unterdrücken konnte. Fräulein Florentine aber bekannte sich zur vollen Opposition.

„O,“ rief sie aus, „das ist eine schlechte, sehr schlechte Erfindung, die, wie alle physikalischen Künste, die letzten Spuren der Poesie aus der Welt vertilgt. Ist es Ihnen nicht genug, durch Gas alle Geister, durch Dampfwagen alle Wanderfreuden über Berg und Thal verdrängt zu haben, daß man noch die ‚Sehnsucht‘ bannen will, die stets so herrliche Gedichte ‚an die Ferne‘ hervorgerufen? Gewiß, Herr Doctor,“ rief sie dem Theologen zu, „haben Sie uns ein besseres Problem zu lehren; so etwas von einem tief philosophischen Problem, wonach sich unsere junge Freundin, wie Sie gehört haben, außerordentlich sehnt.“

Da im Fluß der Discussion, die sich nun für und wider diese Erfindung erhob, die Aufforderung Florentinens an den Dr. Schwarzkopf in Vergessenheit zu gerathen drohte, nahm dieser, aufgeregt durch Fräulein Laura’s hartnäckige Begeisterung für die „Fern-Malerei“, in der ersten Pause des Gesprächs die Gelegenheit wahr, die Lösung des „Problems der Probleme“, wie er sagte, den Damen deutlich machen zu wollen. Freilich liege dies nicht auf dem Gebiete der Physik, die jede höhere Idee durch irgend ein experimentelles Kunststück taschenspielerartig verflache und trotz ihrer gepriesenen Allwissenheit mit Kräften hantire, deren Urgrund den Meistern selber ein verschlossenes Geheimniß bleibe. Anderer, ganz anderer Art sei das höhere Problem, ja das höchste der Probleme, das er zu entwickeln bereit sei, wenn die Gesellschaft ihm nicht blos das Ohr leihen, sondern ihn auch mit jener philosophischen Ruhe begleiten wolle, welche die Vorbedingung des Erforschens der höheren Metaphysik, der geweihte Vorhof zum Tempel des Urbegriffs des Geistes sei.

Die glänzende Aussicht und der versteckte Sarkasmus dieser Verheißung war zu verlockend, um wirkungslos im Herzen der jungen Damen zu verhallen, die gar zu gerne Zeugen des Uebermuthes des Sprechenden waren, um hinterher mit ihm wegen seiner ganz „unerträglichen Unzartheit, die Herz und Geist beleidige“, schmollen zu können. Auch die Herren wußten das Geistessprühen des Mannes von der „verunglückten Carrière“, wie er sich als Theologe zu nennen beliebte, zu schätzen, der hinter dem Schein der Frivolität einen tüchtigen Charakter und eine warme Wahrheitsliebe verbarg. Man gab seinem Wunsch um so lieber nach, als er ein Recht darauf behauptete, gehört zu werden. „Habe ich mich doch heute, um Ihrem Uebermuth zu fröhnen, zur verhaßten Rolle des Anklägers in unserem Ketzergericht hergeben müssen, wie soll ich da nicht wünschen, im besseren Lichte des wohlwollenden Lehrers der höchsten Geisteswissenschaft zu erscheinen!“

Nachdem er, auf einen drohenden Wink des freundlichen Hauswirths, treuherzig die Versicherung gab, den Boden des positiven Glaubens so wenig verlassen zu wollen, daß selbst das gesammte Consistorium nichts Verfängliches in seinen Lehren auskundschaften würde, und nachdem er sich ganz besonders von den Damen das Versprechen geben ließ, die philosophische Ruhe wahren zu wollen, die nicht im Vorurtheil des Scheines, sondern nach dem wohlerwogenen Urtheil der Wahrheit richte, begann er den Sitz vor dem Halbkreis einnehmend, wie folgt:

„Wenn jede Wissenschaft ihren Jüngern die Aufgabe stellt, sich des bereits Erforschten zu bemächtigen, um das noch Unerforschte zu enthüllen, so bekundet es die Erhabenheit der Wissenschaft, die sich Philosophie nennt, daß sie nichts Erforschtes darbietet, sondern ihren Jüngern die höhere Aufgabe stellt, erst zu ermitteln, ob in ihr etwas zu erforschen vorhanden sei. Die Jünger aller niedrigern Wissenschaften stehen vor ihrer Gebieterin, wie Joseph vor Pharao, der den Traum erzählte und nur die Deutung wissen wollte. Die Jünger der Philosophie dagegen stehen vor ihrer erhabenen Herrscherin, wie Daniel vor Nebukadnezar, der selber den Traum nicht wußte, welchen er gedeutet haben wollte.“

„O Himmel,“ unterbrach ihn Fräulein Laura, „da stehen wir wieder vor der verfehlten Carrière der Theologie!

„Mein Fräulein,“ entgegnete der Redner in verweisendem Tone, „Sie haben mir feierlichst philosophische Ruhe gelobt, die nicht nach dem Scheine richtet. Sie werden sich überzeugen, wie sehr Sie irren. Ich habe nur des Gleichnisses halber dieser zwei biblischen Philosophen erwähnt, die redlicher als weltliche, in der Rolle der Traumdeuter offen auftreten. Sie sollen gar bald gewahren, daß ich Sie auf das Gebiet des allerclassischsten Alterthums hinüberleiten werde, wo bekanntlich die höhere Philosophie ihren Grund hat!“

„Ich bekenne meine Sünde,“ erwiderte die Verbrecherin. „Ich werde dem weisen Daniel in schweigender Bewunderung folgen.“

„Das Erhabene der Philosophie.“ fuhr der Redner mit philosophischer Ruhe fort, „befindet sich eben in der Thatsache, daß ihre Jünger noch immer über ihren Anfang sinnen. Nichts oder Alles! ist ihr Wahlspruch. Wer des Anfangs sich bemächtigt, hat das Ende des Wissens auch in Händen. Darum hat sie jeder ihrer Jünger entweder ganz oder gar nicht begriffen. Ganz, nach seinem, gar nicht, nach jedem anderen System. Den Anfang des Geistes am richtigen Faden erfassen, heißt, des Problems der Probleme ganz sich bemächtigen. Diesen Faden des Anfangs Ihnen in die Hand zu geben und zwar ohne speculative Entwickelung, sondern in der faßlichen Form einer interessanten Geschichte zu geben, das soll die Aufgabe meines Vortrages sein.“

Nach einem bescheidenen Aufblick auf seine gesammte Zuhörerschaft fuhr der Redner fort:

„Es ist Ihnen wohlbekannt, daß im classischen Griechenland ein Bildhauer Namens Pygmalion existirte, der so weise war, sich in ein Werk seiner Hände, eine Statue, zu verlieben, die er aus Stein gemeißelt; eine Weisheit, die auch heutigen Tages nicht ohne Beispiel in der Künstlerwelt sein soll. Nicht minder ist Ihnen bekannt, daß der Verliebte so lange und eigensinnig anbetend zu Füßen seines Meisterwerkes lag, bis sich Zeus, der Allvater, seiner erbarmte und dem Stein Leben einhauchte, worauf der Glückliche dankesvoll sofort ein eheliches Bündniß mit seinem Kunstwerk einging. Bis hierher führt uns die verbürgte Erzählung der Geschichte. Das Weitere gehört der Tradition an, von welcher ich Ihnen die nähere Kunde darlegen muß. Daß die Flitterwochen [668] im höchsten Rausche des Glücks verflossen, ist leicht begreiflich. Aber nicht minder sicher ist die Nachricht, daß nach Ablauf derselben der glückliche Pygmalion die Entdeckung machte, daß seinem Weibe Eines fehlte. Zeus hatte ihr Leben, aber keinen Geist eingehaucht, und eine Frau ohne Geist, – das werden Sie zugeben – mag in manchen Fällen sehr interessant sein, im ehelichen Leben schien sie selbst dem Künstler unerträglich. Er las ihr Gedichte vor, sie begriff sie nicht. Er führte sie in’s Theater, sie verstand es nicht. Er gab ihr Zeitungen sie las sie nicht. Er abonnirte für sie in der Leihbibliothek und gab ihr die anregendsten Räubergeschichten in die Hand, es unterhielt sie nicht. Er griff zum letzten Hülfsmittel. er ließ Nachbarinnen kommen, die ihr die neuesten Neuigkeiten von Athens schönem und häßlichem Geschlechte erzählten, es zündete nicht. Da faßte den Unglücklichen die wildeste Verzweiflung. Er eilte in Trauer in den Tempel des Zeus. Er stürzte vor ihm nieder und lag da im peinlicheren Schmerze des Ehemanns, wie ehedem an beglückenden Schmerze des Verliebten.

,O Vater der Götter und der Menschen, des Himmels und der Erde‘, rief er aus, ‚habe Erbarmen mit meinem Unglück! Du hast mir ein schönes Weib gegeben und ihr Leben eingehaucht aber Du hast ihr keinen Geist gegeben; ich bin elend!‘

Da schüttelte Zeus das Haupt und sprach in tiefem Ernst: ‚Mein Sohn, Du bist ein Thor! Ein Weib mit Geist! glaubst Du, daß Du Dich glücklicher fühlen wirst?!‘

,O Vater des Alls,‘ rief der Unglückliche, ,es ist nicht zum Aushalten! Gieb ihr, wenn Du Mitleid mit meinem Elend hast, nur Einen, Einen Urgedanken, an den ich, fortbildend, weitere Gedanken anknüpfen kann!‘

‚Thor, sprach Zeus ernst, ,Geist habe ich selber nie gehabt! Ob es Urgedanken giebt, an welche Du die andern anknüpfen kannst, das weiß ich wirklich nicht. Aber einen Rath kann ich Dir erteilen. Dort hinter dem Parnaß, wo die Dichter hausen, ist eine Höhle, woselbst die Philosophen wohnen. Findest Du dort nicht den Urgedanken, so ist Dir nicht zu helfen.‘

Der Arme erhob sich neubelebt in Hoffnung. ,Habe Dank, o Zeus; rief er und stürzte davon, die Philosophen-Höhle auszusuchen.

Er eilte durch den Parnassus von allen Dichtern angehalten, die ihm ansahen, daß er ein herrliches Thema ihrer Kunst sein müsse. Er stand Keinem Rede, wie sie ihn auch in Versen und in Prosa zu weilen baten. Er stürmte davon zum alleruntersten Ende, wo die Recensenten hausen, die mit unbarmherzigem Eifer ihn zu fassen suchten. Er durchbrach das wildeste ordnungsloseste Gestrüppe zwischen dem Gebiete der Poesie und dem der Philosophie, wo Drachen und Unthiere in meilenweiter schauerlicher Oede hausen. Da lag sie endlich vor ihm, die Höhle, die er suchte. An ihrem Eingang traf er einen Mann, der halb über, halb unter der Erde ihn mit hellem Lachen empfing. Er nannte sich ungefragt ,Demokritos‘ und wies ihm lachend und immerfort lachend den Weg hinunter, nachdem er erfahren, daß der arme Sterbliche Urgedanken suche, um sich ein Weib mit Geist zu verschaffen.

Es war ein eigenes Dämmerlicht, das in der Höhle herrschte. Es schien den Köpfen ihrer Bewohner zu entstrahlen, von denen jeder einzelne dahin schritt, nur mit sich selber sprechend, als ob Niemand außer ihm noch existire. Lange irrte er umher, um nur Einen aufzufinden, der nicht tief mit sich selbst beschäftigt schien. Viele schienen ihm selige Geister zu sein, die einst aus Erden gewandelt; Andere wieder solche, die erst noch in spätern Zeiten auf Erden zu wandeln bestimmt sind und hier ihre künftigen Rollen memoriren. Als er aber am Ende angekommen war, ohne daß Einer seiner achtete, da übermannte ihn sein Unglück und laut hinschallend, vom Echo hundertfach wiederholt, ertönte sein Schmerzensruf. ,Meine Herren, ich suche den Urgedanken!‘ –

Kaum war das letzte Echo seines Rufes verhallt,als von allen Seiten her die Seligen und Ungeborenen in weiter Runde sich um ihn sammelten. Pygmalion, im Kreise solcher Zuhörerschaft, schilderte in fliegender Rede seine schreckliche Lage; aber seine Brust athmete in froher Hoffnung auf, als er wahrnahm, daß er nicht blos eine teilnehmende , sondern auch eine eifrige Zuhörerschaft habe, die ihm von allen Seiten Beifall nickte, weil er den Urgedanken suche.

Da winkte ihm ein kleiner schmächtiger Mann von merkwürdig scharfem Blick mit ernster Miene zu und sagte ihm Folgendes:

,Ich heiße Pythagoras. Das wird genügen, Dich zu überzeugen, daß Du an der rechten Quelle bist. Wärest Du nicht verheiratet und gar darauf versessen, ein Weib mit Geist haben zu wollen, so würde ich sagen, daß Du blos ein Jahrzehnt hier bei mir bleiben sollst, um vom Urgrund der Dinge bis zur Unendlichkeit hin auf Alles erfassen zu können. Da Du aber nicht Zeit hast, so will ich Dir das Problem der Probleme in aller Kürze sagen, das Du eigentlich falsch den Urgedanken nennst, und von diesem Urgrund aus wirst Du im Stande sein, Dein Weib zu einem Wesen unseres Gleichen zu machen.‘

Den Dank in den Mienen des Pygmalion lesend, ging der große Philosoph sofort auf die Darlegung des Urgrundes ein.

,Das Erhaltende der Dinge,‘ sagte er, ,ist die Harmonie; denn wäre keine Harmonie der Dinge vorhanden, so würden sie einander zerstören. Das begreifst Du als Künstler doch!‘

,Nun, ja!‘ sagte Pygmalion.

,Gut!‘ fuhr Pythagoras fort. ‚Die Harmonie aber hat – das siehst Du im Versmaß der Dichtkunst, wie in den Tönen der Musik – die Zahl zu ihrer Grundlage. Hieraus folgt mit Evidenz , daß das wahre Wesen aller Dinge in den Zahlen enthalten ist. Das ist Dir doch klar?‘

‚Ja wohl!‘ versetzte Pygmalion sehr erfreut über die leicht faßlichen Lehren.

‚Nun denn,‘ deducirte Pythagoras weiter, ,so lerne die Zahlen in ihrer geheimsten Natur verstehen, so wirst Du den Urgrund aller Dinge in solcher Einfachheit vor Dir haben, daß Du Alles auf’s Leichteste auch Deinem Weibe wirst beibringen können.‘

‚Vortrefflich!‘ rief der glückliche Schüler aus.

Der Lehrer fuhr fort, ,Gewiß wirst Du, wie Viele außer mir, meinen, daß Eins die erste Zahl sei?‘

Der Schüler nickte bejahend; aber der Lehrer fuhr fort: ,Das ist der Hauptirrthum. Die Eins ist keine Zahl. Wenn es nur ein Ding in der Welt gäbe, würdest Du es eben so wenig zählen, so wenig Du ein einziges Geldstück zählst, das Du in der Tasche hast.‘ ,Sehr richtig,‘ fiel Pygmalion ein, ‚daran habe ich noch nie gedacht.‘

,Gut, gut! – wir gehen weiter. Ist Zwei die erste Zahl?‘ ‚So soll ich meinen!‘

‚Nimmermehr!‘ fiel ihm Pythagoras in's Wort. ,Die Zwei ist keine Einheit, aber auch keine Mehrheit, wenn die Eins nicht existirt. Was aber keine Einheit und keine Mehrheit ist, das kann unmöglich eine Zahl sein. Das begreifst Du wohl?‘

,Nun ja,‘ sagte Pygmalion, ,ich kann mir's denken.‘ ,Da bist Du denn so weit, einzusehen, daß die Drei die erste Zahl ist, und darum ist sie auch die heilige Zahl, welche die Nichtzahlen Eins und Zwei in sich schließt. Fassest Du hierzu noch die Vier, so hast Du vollends die allerheiligste der Zahlen gefaßt; denn eins und zwei und drei und vier ist – überzeuge Dich selber – die Zehn. Die zehn Zahlen aber sind die Unendlichkeit, da die unendlichste der Zahlen, welche Du zählen willst, doch nur aus den Reihen der Zahlen bis zur Zehn combinirt ist?‘ –

Da Pygmalion keines Wortes mächtig schien, so fuhr Pythagoras fort. ,Run geh' getrost heim. Ueberdenke fort .und fort, wie „die Zahl das Wesen aller Dinge ist,“ und wie einfach Du aus der Nichtzahl in die Allzahl vom Ursprung bis zur Unendlichkeit gelangst.‘

Pythagoras verließ den erstaunten Schüler und ging in seinen eigenen Gedanken vertieft weiter. Schon wollte Pygmalion den Heimweg antreten, als ein Mann mit breiter Brust und kolossaler Stirn vor ihm stand, den er sofort als Plato erkannte.

,Mein Sohn,‘ redete ihn dieser an, ‚der Dich so eben verließ, ist mein Lehrer; aber offen gesagt, er hat Dich auf einen Irrweg geleitet. Der Urgrund der Dinge, den Du suchst, ist nicht die Zahl, wie er meint. Die Ideen sind es, die den Dingen voraugehen und in ihnen zur Erscheinung kommen, wie Du selber die Ideen des Standbildes früher hattest, ehe Du aus dem Steine, aus der Materie, Dein Weib herausgemeißelt. Willst Du Dein Weib mit denkendem Geist erleuchten, so mache ihr nur klar, wie [669] sie selber nichts als eine Idee ist, verwirklicht in der Materie. Auf diesem Urgrund des Denkens wirst Du sie leicht dahin bringen, die schaffenden Ideen alle zu fassen, die in der Welt der Materie zu wahrnehmbaren Erscheinungen werden.‘

Plato ging davon. Pygmalion, betroffen über diese neue Lehre, stand einen Augenblick still, als unvermuthet Aristoteles ihm nahte und Folgendes zu ihm sprach:

,Ich kann Dich nicht in den Irrthümern des Mannes, der Dir eben seine Lehre vorgetragen, von dannen lassen. Der große Mann – er ist mein Lehrer – ist auf halbem Wege stehen geblieben. Ihm sind die schaffenden Ideen ein Erstes, und die Materie, in welcher sie zur Erscheinung kommen, ein Zweites. Allein, wenn dem so wäre, so müßte er auch die Frage lösen: wie denn die Idee in die Materie hineinkommt? eine Frage, der er stets ausgewichen, weil sein System ein irriges ist. Darum merke auf, was ich Dir sage: Idee und Materie sind Eins und die Identität ist der Urgedanke, den Du suchst!‘

Mit diesen Worten verließ Aristoteles den verdutzten Pygmalion und ein Schwarm von ungeborenen Philosophen, die sich Neu-Platoniker und Aristoteliker nannten, stürmten auf ihn ein, um ihm, in unendlichen Variationen, das bereits Gehörte mit stets neuen Worten zu sagen, bis endlich, nachdem der ungeheure Schwarm sich gleichfalls verzogen, wieder ein Einzelner der Ungeborenen ihm nahte und ihm folgende Lehre gab.:

‚Die Alten, mein Freund, und ihr sinnloser Troß‘ – er wies auf Alle die hin, welche vor ihm den Kopf des Armen ganz irre gemacht hatten – ,sie können Dir nicht geben, was Du suchst. Sie haben über den Ursprung der Dinge philosophirt, ohne ihn zu finden, denn sie gingen über den Kern dessen, was eigentlich Philosophie ist, gedankenlos hinweg. Sie erkannten nicht, daß wir vor Allem uns erst vergewissern müssen, daß wir sind. Dies ist der Urgedanke! Er lautet, merke Dir’s: „Ich denke, folglich bin ich!“ –

Kaum hatte ihn der neue Lehrer verlassen, als ein anderer an ihn herantrat und, mit verächtlicher Miene auf den Vorgänger weisend, Folgendes sagte:

‚Der Thor führt sich und alle seine Schüler in die Irre. Sein vorgeblicher Urgedanke ist schon darum kein Urgedanke, weil er aus zwei Sätzen besteht; und mehr noch, die beiden Sätze enthalten einen Fehlschluß. Denn, gieb Acht: wenn er im ersten Satze sagt, ,ich denke,‘ so setzt er sein ,Ich‘ schon voraus; wenn er nun im zweiten Satz hinzufügt, ‚folglich bin ich,‘ so beweist er Etwas, was er bereits im ersten Satz als bewiesen angenommen! Der Urgedanke, mein Freund, kann nur der einfachste der Gedanken sein. Er besteht nur aus dem Einen Satze, den ich entdeckt habe. Dieser heißt, merke Dir’s: „Ich bin ich!“

Kaum hatte sich dieser Philosoph entfernt, als ein neuer auf ihn zuschritt, der sich mit folgenden Worten ankündigte:

,Mein Freund, ich bin der erste und bin der letzte Philosoph. Weil aber der erste ein relativer Begriff, der noch Nachfolger, und ebenso der letzte relativ ist, indem er Vorgänger voraussetzt, so wirst Du begreifen, daß ich nicht der erste und nicht der letzte, sondern der absolute Philosoph bin. Wenn Du mich nicht verstehst, so wirst Du mich am besten von all meinen Schülern verstanden haben.‘

Nach dieser Einleitung seiner Persönlichkeit fuhr der absolute Philosoph wie folgt fort:

,Der Thor, der Dir eben gesagt hat, „Ich bin ich“ sei ein Urgedanke, hat Dich aus einen Irrweg geführt. Denn so viel wirst Du noch von der Schule her wissen, daß ‚bin‘ ein Zeitwort ist, abgeleitet von ‚Sein‘. Ein abgeleiteter Gedanke kann aber unmöglich ein Urgedanke sein! – Willst Du die Gedanken von dem wahren Urbeginn ihrer Entwicklung fassen, so mußt Du vom ,absoluten Sein‘ beginnen, das heißt: von dem reinen völlig gegenstandlosen Sein, das dasselbe ist wie das Nichtsein. Nur aus diesem Wege wirst Du aus dem Nichts das All begreifen lernen.

Der arme Pygmalion war von all’ dem so bestürzt, daß er nur den einen Urgedanken fassen konnte, so schnell wie möglich wieder aus der Höhle hinaus zu kommen; darum war er unendlich froh, als der erste und letzte Philosoph, der ihm heimlich vertraute, daß er dereinst auf Erden unter dem Namen Hegel erscheinen werde, nunmehr ihn unter den Arm faßte und ihm sagte.: ‚Komm, ich will nicht, daß Dich die kleinen Geister weiter geniren sollen, die nach mir noch existiren werden, blos weil die Universitäten noch dotirte Lehrstühle haben, die sie doch irgend wie besetzen müssen. Darum will ich Dich hinaus begleiten, wo Du nur noch den Demokritos findest, dessen Lachen Dir schon anzeigen wird, daß Du Dich mit ihm nicht weiter einzulassen brauchst.‘

Der arme Pygmalion nahm mit Freuden die Begleitung an. Als er das Lachen des Demokrit und einen Strahl des Tageslichts wahrnahm, empfahl er sich mit einer tiefen Verbeugung von seinem Begleiter, der ihm wohlwollend zuwinkte, und eilte wirbelnden Kopfes auf den Ausgang zu, um mit einer unendlich jammervollen Miene sich dort niederzulassen und von all dem Erlebten einen Augenblick auszuruhen.

Demokritos sah ihn an und lachte und lachte. Und er lachte so lange und so herzlich, daß auch Pygmalion zu lachen anfing, worüber Demokritos erst recht lachen mußte.

Und lachend sagte er zu ihm: ‚Armer Junge, ich habe Alles gehört, was Du willst und was Dir da unten gesagt worden ist; denn die Atome, die ich entdeckt habe, tragen mir im Schall alles zu, was da gesprochen wird. Wenn Du verstehst, daß im Lachen die Lebensweisheit liegt, so werde ich Dir aus aller Noth helfen.‘“

[683] „Demokritos erklärte dem armen Pygmalion nun, daß er blos mit den Beinen in der Philosophenhöhle stecken müsse, weil ihnen am geistlosesten Theil des Leibes das Lachen nicht gegeben ist. Sein Oberkörper, der das Lachen übt, gehöre dem Sonnenlicht und der Welt an, die von außen her den Menschen den Geist einflößen.

‚Die Thoren da unten‘ – fuhr er fort, – ‚meinen, daß die Götter oder die Natur den Menschen eine Portion Geist mitgegeben auf die Welt, die er nach und nach in Gedanken ausgiebt. Wäre dem so, so müßten die Kinder mit der höchsten Portion des Geistes auf die Welt kommen, während wir ja sehen, daß sie da noch dümmer als die Kälber sind. Wann aber merkst Du die erste Spur des Geistes an ihnen? wenn sie das Weinen, ihr erstes Lebenszeichen, überwunden und anfangen Dich anzulächeln. Wenn sie klüger werden und die Mutter anlachen, so ist das ein Zeichen, daß vom Geist ihnen mehr und mehr zugekommen ist. Das Thier kann heulen und jammern und ist geistlos durch sein ganzes Leben. Der lachende Mensch ist der Träger des Geistes.‘

‚Und nun, armer Junge,‘ fuhr der lachende Philosoph fort, ‚merke auf, und Du wirst begreifen, woher das kommt und was Deinem Weibe fehlt, um Geist zu haben.‘

‚Wie kein anderes lebendes Wesen wird der Mensch in Schmerzen geboren. Wie keines sonst tritt er weinend in die Welt. Diese Schmerzen sind die Erwecker seines Lebens. Ihn schmerzt das Athmen. Ihn schmerzt das Tageslicht. Ihn schmerzt die Kälte der Luft. Aber im Schmerz empfängt der Neugeborene die Eindrücke der Welt außer ihm und wird die Welt und die Dinge um ihn nach und nach gewahr. Dieses Gewahrwerden und Erkennen nennen wir Geist, der sich nach jedem neuen auf den Menschen eindringenden Schmerz immer wechselnd und wachsend kund giebt, und der im Schwinden des Schmerzes sich äußert als Geist, im Lachen.‘

‚Und nun,‘ fuhr der Philosoph lachend fort, ‚nachdem Du selber Deinen Schmerz von da unten überwunden hast und ein lachender und geistbegabterer Mensch geworden bist, nun setze Dich näher her zu mir und höre, was Deiner Frau fehlt.‘

Pygmalion gehorchte; und da er wieder eine traurige Miene annahm, stieß ihn Demokritos mit den Ellenbogen an die Seite und lachte so herzhaft, daß der Geist und das Lachen auch seinem Schüler wiederkehrte.

‚Deine Frau, mein guter Junge, ist eine geborene von Stein. Sie ist nicht in Schmerzen zur Welt gekommen, das Licht der Sonne hat sie nicht geblendet, das Athmen der Luft hat ihr nicht weh gethan, die Kälte war sie als Marmorblock gewohnt. Sie war kein Wickelkind, dem jedes Band weh thut, Du hast ihr Zähne gemacht ohne Schmerzen. Sie ist nie aus der Wiege gefallen. Sie hat sich niemals den Kopf am Stuhl, am Tisch gestoßen. Sie hat niemals die Gefahren des Gehenlernens zu überstehen gehabt. Sie hat keinen Keuchhusten, keine Masern, keinen Scharlach bekommen. Sie hat nie über Schularbeiten geweint. Sie hat nie im halberwachsenen Zustand, gleich anderen Mädchen, in schmerzlicher Liebeseinbildung geschwärmt. Sie hat nie als Jungfrau die große Sorge empfunden, wo sie einen Mann herbekommen soll. Du hast sie Dir als Stein, der keine Empfindung von der Außenwelt hat, fix und fertig gemeißelt. Auf Dein Bitten hat sie Zeus belebt und da hast Du sie auf dem Fleck geheirathet. Lieber Junge, das war ein dummer Streich! Wie sollte da wohl der Geist in sie hineingekommen sein?!‘

Da Pygmalion in richtiger Würdigung des Gesagten den Kopf traurig sinken ließ, stieß ihn der Philosoph wieder mit dem [684] Ellenbogen in die Seite und lachte und lachte so lange, bis auch Pygmalion ein Gleiches that.

‚Und nun, mein Junge,‘ sagte Demokritos, ‚soll Dir geholfen werden! Du mußt mit einem Male gut machen, was Du an Deinem guten Weibe verfehlt. Frisch auf, thu, was ich Dir sage, Du wirst Dein Wunder sehen, wie vollkommen dies helfen wird. Renne schnell heim, spring in’s Zimmer hinein und sage: Guten Morgen, liebes Weib! und gieb ihr eine derbe Ohrfeige.‘“

„O Himmel,“ schrieen die Zuhörerinnen, die bisher dem Vortrage mit Spannung gefolgt. „O Himmel!“ – „Entsetzlich!“ - „Schändlich!“ – „Schmachvoll!“ – „Barbarisch!“ - „Wie roh!“ - „Wie sündhaft!“ - „Welche Blasphemie!“ - rief’s durcheinander, während die Zuhörer des Lachens sich nicht erwehren konnten. Fräulein Laura sprang auf, bereit, dem Entsetzlichen zu entfliehen, was sie nicht mehr anhören mochte. Aber Dr. Schwarzkopf erhob sich gleichfalls und rief ein so gebieterisches „Ruhe!“, daß für den Moment eine Stille entstand, jedoch eine so gespannte Stille, daß man dem sofortigen Ausbruch eines ernsten Sturmes entgegensehen mußte.

Der Sturm folgte nicht. Der Vortragende machte eine Armbewegung in so milder Schönheitslinie, um deren Effect ihn jeder Kanzelredner, der seine Carrière nicht verfehlt, hätte beneiden können; und auch den andern Arm wie zur zarten Bitte harmonisch bewegend, sprach er mit heiterer Sanftmuth: „Wohlgefällig ist jeglichem Ohr die Stimme Ihrer christlichen Entrüstung gegen die heidnische Barbarei! Wohl wußte ich, welch' ein hohes Gelöbniß Sie in meine Hand abgelegt, als Sie mir philosophische Ruhe versprachen. Aber dem höheren Bewußtsein der Civilisation, die sich ihrer vollen Glaubens-Errungenschaft bewußt ist, ziemt diese Ruhe gegenüber dem heidnischen Wesen; zumal das Ende meiner Erzählung Ihnen ein ganz anderes Ergebniß zeigen wird, als Sie es wohl erwarten möchten.“

Es ist schwer zu entscheiden, ob die Civilisation des Christenthums, oder das Gelöbniß der philosophischen Ruhe, oder die Verheißung eines ganz unerwarteten Ergebnisses die Geister der Zuhörerinnen beschwichtigte. Die Damen, noch voll von Entrüstung, schwiegen wirklich; selbst Fräulein Laura, die am mißtrauischsten schien, unterdrückte den Ausruf, daß sie nur noch etwas Barbarisches werde hören müssen. Sie begnügte sich, ihren Unglauben mit einer lebhaften Bewegung ihrer Finger kund zu geben, die Dr. Schwarzkopf schon öfter für das einzige Perpetuum-Mobile erklärte, welches ihm wohlgefalle.

„Lassen Sie mich,“ begann der Vortragende wieder im Lehrstuhl wie demüthig gebeugt dasitzend – „Lassen Sie mich flüchtigen Wortes hinwegeilen über die That des barbarischen Heidenthums. Pygmalion kam. Er fand sein edles Weib in ihrer Lieblingsstellung, in derselben nämlich, welche er selber ihr gegeben, als er sie aus dem Stein zum Kunstwerk ausgebildet. Jetzt war ihm gerade diese Stellung die entsetzlichste geworden. Das ganze Unglück übermannte ihn mit einem Male. Er stürzte auf sie zu und – es geschah das Entsetzliche.“

„Was aber folgte?“ fügte der Vortragende schnell hinzu und machte jetzt erst eine Pause, in der richtigen Gewißheit, daß sie nicht unterbrochen werden würde. – Sodann fuhr er fort: „Es entwickelte sich in wenig Augenblicken das Problem der Probleme. Mit unnennbarem Schmerz sprang Frau Pygmalion drei Schritte zurück. Hier richtete sie sich in einer Stellung auf, die der Gatte sie nie gelehrt, und mit einer Stimme, wie er sie nie von ihr gehört, rief sie aus: ,Ha, Tyrann, mir versetzest Du Eins ins Angesicht! O, warum nicht lieber gleich drei Ohrfeigen mit Einem Male, Du Barbar! – Welche Idee hast Du von mir, wenn Du meinst, daß ich mir dergleichen gefallen lassen muß! Bin ich etwa noch eine empfindungslose Materie wie der Stein, in dem Du Deine thörichten Künstler-Ideen zur Erscheinung bringst? Elender, lebe ich nicht Eins in mir und für mich selbst! Ich denke, daß Du wissen solltest, wer ich bin und was ich bin! Oder bin ich nicht ich? Ha! welche Verzweiflung packt mich über solch ein Sein, das ich nicht fassen kann!‘ – Und sie schlug sich selber verzweifelnd die Hände in’s Antlitz und neigte sich und beugte sich in schmerzlichem Weinen.

Und der unglückliche Gatte!?

Er hatte kaum die That begangen, als ein Zittern seine Seele faßte, da vernahm sein erstauntes Ohr, wie sie von Eins, von Drei, von Idee, von Materie, von Identität in sich, von Denken, daß sie sei, sogar von ich bin ich und vom Sein sprach, und er stürzte vor ihr nieder und umklammerte ihre Kniee und rief vor Begeisterung weinend aus: ‚O herrliches Weib! himmlisches Wesen, Du bist der Inbegriff alles Geistes, wie Du der Inbegriff alles Schönen stets gewesen! O, blicke herab auf Deinen armen Gatten, der in Schmerz vergeht bei Deinem großen Schmerze und wiederum in Lust aufjauchzet, wenn er die Weisheit Deiner Urgedanken hört! O, daß ich Dich so verkennen konnte, wo ich den Inbegriff aller philosophischen Systeme in Dir, Du Himmlischste der Himmlischen, habe! Ach, sei gütig und laß mich die Hände Dir vom holden Antlitz nehmen, an dem ich zum elendesten Verbrecher wurde.‘ Er ergriff ihre Arme und zog sie sanft nieder. Er blickte weinend auf zu ihr und sie weinend, nach und nach in milderen Thränen, zu ihm nieder, bis sie sich beugte in Schmerz und Wehmuth über ihn und endlich schluchzend ihn gar zum ersten Male anlächelte. Als er nun auch dieses sah, da richtete er in einer Andacht – so weit sie ein Heide haben kann – den Blick nach oben und rief jubelnd aus: ‚O Zeus, Du hast mir das geistreichste Weib gegeben! Nun bin ich ganz, ganz, ganz glücklich!‘ –

„Und er war glücklich!“ fügte der Vortragende nach einer Pause hinzu, „auf wie lange? - die Tradition schweigt darüber.“

Da sich Dr. Schwarzkopf verneigte und zum Zeichen, daß er fertig sei, langsam vom Sessel erhob, brach der langverhaltene Sturm mit einem Male los. Die Herren lachten, selbst der stille Psychologe lächelte und der alte Professor ging auf den Redner zu und sagte ihm lachend, daß er es doch gar zu arg mit der Philosophie treibe. Die Damen aber versicherten einstimmig, daß sie nie etwas Anderes von ihm erwartet hätten und nur das interessante Phänomen, ihm in den Irrgängen seiner „verfehlten Carrière“ zu folgen, habe ihnen Geduld, oder richtiger schweigendes Mitleid, auferlegt. „O,“ rief Fräulein Laura, „der Herr Doctor hat uns ein Problem der Probleme gelöst. Wir wissen“ – und sie streckte ihre kleinen Hände wie abwehrend gegen den Redner aus – „daß dies in der weiblichen Nachsicht liegt, die nicht ermüdet, immer auf’s Neue nach einem Zuge edleren Gefühls dort zu lauschen, wo uns die Erfahrung lehrt, daß wir nur Blasphemie zu erwarten haben!“

„O, nicht doch,“ rief Fräulein Anna dazwischen, „weshalb sollten wir einen Lehrvortrag schmähen, der uns nur zeigen wollte, wie die stille Duldsamkeit der Frauen durch die Brutalität der Männer gemißbraucht wird?“

„Nein,“ fiel Fräulein Florentine ein, „nicht dieser Schlag in’s Antlitz des Weibes ist das Empörendste; der Schlag gegen alles Ideale, das die Gedankenwelt aus der innersten Natur des eingeborenen Menschengeistes aufzuerbauen suchte, ist es, der uns Entrüstung einflößt! Und daß die Herren hier lachen,“ sagte sie mit einem Blick auf den Physiker, „beweist uns, daß sie in der That ihren Platz neben Demokritos, dem Vater ihrer gepriesenen Atom-Theorie, verdienen, obwohl sie alle stolz darauf sind, Doctoren der Philosophie zu heißen.“

Entschuldigungen der Herren, Einreden, Vertheidigungen des so hart Angegriffenen und dazwischen die entfesselte Erregung der tief empörten Zuhörerinnen, die sich in erbitterte Bemerkungen gegen die ganze realistische Weltanschauung der jetzigen Männerwelt Luft machte, ließ die Wechselgespräche zu einem so tumultuarischen Grade steigern, daß Fräulein Amalie, die schweigsame Heldin des Tages, schon die Bitte an die Damen richtete, die Milde des hereinbrechenden Abends in einem Spaziergang durch den Garten zu genießen, wo man heiteren Geistes die schwere Debatte fortsetzen könne. Doch der alte Professor trat dazwischen und gab der Scene ein andere und günstigere Wendung.

„Unser junger Freund,“ sagte er auf den Psychologen zeigend, „gehört einer Wissenschaft an, die – Sie wissen es, meine Damen – der realistischen Richtung noch niemals gehuldigt. Er hat sich heute so schweigend verhalten, daß wir ein Anrecht haben auf ein Wort der Milde aus dem Schatz seiner Disciplin. Vereinigen Sie, meine Damen, Ihre Bitte mit der meinigen, und wir dürfen auf ein lehrreiches und beschwichtigendes Wort inmitten dieses wirren Principienstreites rechnen.“

Die Damen baten nicht, nein, angeleitet von Fräulein Laura’s kleinen Händen, klatschten sie jubelnd Beifall, einen Beifall, so stürmisch, wie ihn nur der Protest gegen alles Vorhergegangene [685] mit der Hoffnung auf eine triumphirende Genugthuung erzeugen konnte. Die Herren stimmten mit einem „Bravo“ ein, dem sich eine kleine Ironie beimischte. Als ein Blick aus Fräulein Amaliens Auge dieselbe Bitte ausdrückte, nahm der mit übermüthigem Beifall Begrüßte auf dem erledigten Lehrstuhl Platz, und sein sonst blasses Antlitz mit dem lebhaften Auge und der herrlichen Stirn, von einer flüchtigen Röthe geschmückt, neigte sich freundlich der Zuhörerschaft zu, die sich im Halbkreis um ihn ordnete.

Noch einmal, ehe der Redner begann, klatschte Fräulein Lauras kleines Perpetuum-Mobile lauten Beifall, nachdem sie mit zu merklicher Absicht ihren Stuhl weit von dem des Dr. Schwarzkopf rückte. Die anderen Freundinnen widerstanden dem Zuge des Beifalls nicht und verliehen so der Scene eine höhere Weihe, in welcher der Vortragende mit weicher, aber klangvoller Stimme wie folgt begann:

„Mein Wort soll in der That nur dem Worte gelten. So oft ich im Faust die Scene las, wo der Dichter seinen Helden noch einmal von dem gefährlichen Pact zu dem Grundtext seines heiligen Originals zurückkehren läßt, wandelt mich stets der Gedanke an, daß die von ihm unbemerkte Anwesenheit des Verächters des Menschengeschlechts bereits den Sinn des unglücklichen Faust von der rechten Bahn abgelenkt habe. ‚Im Anfang war das Wort.‘ Das will ihm nicht das Rechte scheinen. Er kann das Wort so hoch unmöglich schätzen. Er meint, es sollte lauten: ‚Im Anfang war die Kraft.‘ Aber auch bei der Kraft mag er nicht stehen bleiben. Ihm hilft der Geist, auf einmal sieht er Rath! Er schreibt getrost: ‚Im Anfang war die That.‘ Das Wort, die Kraft, die That, das dünkt dem im Fallstrick bereits gefesselten Forscher die rechte Steigerung. Ich glaube, mit Unrecht. – Aber wie der große Dichter selber im Wendepunkt zweier Jahrhunderte stand, so charakterisirt auch diese irrthümlich aufgefaßte Steigerung die Wendepunkte unseres forschenden Geistes seit seiner Zeit. Auch in der Wissenschaft war im Anfang das Wort der Kernpunkt des Forschens. Nicht nur das Wort des Glaubens, sondern auch das Wort der Geistesregung, die wir Philosophie nennen. Da trat in gewaltigem Zuge siegreich die physikalische Weltanschauung auf, welche das Geheimniß der Kraft enthüllte und in staunenden Experimenten vor unseren Augen entfaltete. Aber auch hierbei bleiben wir nicht stehen. Die Wissenschaft wurde von der hypothetischen Kraft auf die Thatsache des Stoffes hingetrieben. Wir finden uns jetzt stärker als je auf die reale Ermittelung der thatsächlichen Erscheinungen hingewiesen. Die Devise unserer Forschung ist nunmehr: die That. Gleichwohl dünkt mich, daß darin die rechte Steigerung nicht liege.

Es wäre vermessene Blindheit, wollten wir die That mißachten. Die Beobachtung der thatsächlichen Erscheinungen hat uns in der Astronomie und in der Geologie ein gewaltiges Weltbild aufgerollt von einer ungeahnten Weite und Ferne in Raum und Zeit. Das Studium der unsichtbaren Kräfte der schaffenden Natur erschloß uns das Licht in der sonst unerkannten geheimnißvollsten Werkstatt des Werdens. Wer vor diesen Eroberungen seinen Sinn verschließt, dem bleibt der Sinn verschlossen. – Aber ist es der Menschengeist allein, der die Thatsachen zu sammeln, die Kräfte zu erforschen sucht, so kann ich dem Worte, dieser höchsten Eigenschaft der menschlichen Begabung, eine untergeordnete Stellung doch nicht anweisen. Die That spricht zu unserem Verstande, der sie zu combiniren, die Kraft zu unserer Vernunft, die ihre geheimen Räthsel zu enthüllen sucht; aber das Wort richtet sich an unsere Seele, die allein in der großen Natur eines Verständnisses und einer vernünftigen Auffassung des Weltbildes außer uns fähig ist. Versetzen wir uns in eine Natur, der noch die Menschenseele fehlt, so fehlt auch der Mittelpunkt, der die Thatsachen einigt, und der Brennpunkt, der der Kräfte Spiel zum Verständniß bringt. Fehlt die Menschenseele, die der einzige Sitz einer Erkenntniß ist, so fehlt dem Weltbilde der Einklang des Verständnisses und die Harmonie der Gesetze erforschenden Vernunft.

Ist aber das Wort die Brücke von Geist zu Geist, von Seele zu Seele, welche zur Erkenntniß und zum Verständniß des einen Menschen zu dem andern führt, so möchte ich des Dichters ‚Wort vom Wort‘ doch als das richtige nicht betrachten. Ich möchte statt des seinen sagen: ‚Ich kann das Wort zu hoch nie schätzen.‘ Wenn dies stets mir so erschien, so hat mich die Stunde unseres heutigen Beisammenseins hierin ganz besonders bestärkt. Welch’ spannende Macht des Wortes haben wir so eben im scherzenden Spiel der Rede wahrgenommen! - Wie wußte der Mann der That“ - der Redner blickte auf den Zoologen - „durch sein leichtes Wort die Geister zu fesseln, um die Thatsachen, die er erforscht, in scheinbaren Einklang mit Glaubensworten zu setzen! – Welch’ anderer Leitung als der des Wortes bediente sich der Mann“ – er blickte auf den Physiker – „der die Kräfte der Natur zu seinem Studium macht, um eine neue Telegraphie, die vieler materieller Leitungen bedarf, vor Ihrer Seele entstehen zu lassen! Und gar im Vortrage des letzten Redners, der all’ unser Empfinden zu einer Höhe so zu spannen und zu erregen wußte, daß er im kühnen Griff in die Saiten unserer Seele wie auf einem Instrumente spielte, war es das Wort und nur das Wort, das über uns seine Urthat, seine Urkraft erwiesen. Darum erfaßt mich nicht Kleinmuth, wenn ich mit meiner Wissenschaft und ihrer bescheidenen Stellung vor den gewaltigen Fortschritten stehe, welche der beobachtende Geist im Gebiete der That errungen, darum fühle ich mich nicht entmuthigt, wenn ich die Eroberungen des Geistes betrachte, der die Kräfte der Natur aus ihrer geheimnißvollen Hülle an’s Licht unserer Erenntniß zieht. Ich fühle nur, daß ich, nach That und Kraft der Menschenseele forschend, vor einem höheren Probleme stehe. Darum wenden wir uns wohl auch oft von dem unendlichen Gebiet der Thatsachen des Stoffes und von den scharfsinnigen Combinationen des Ineinanderwirkens der Kräfte in stiller Stunde dem Worte großer Dichter zu, die das höchste der Probleme, die Menschenseele in ihrem Wollen und Empfinden, vor uns enthüllen. Denn überwältigt uns die Fülle der Thatsachen in der Natur und spannt der Einklang ihrer Kräfte unseren Geist zu kühnen Combinationen, so empfängt die Seele ihre tiefere Harmonie doch immer noch im Problem der Probleme, im liebevollen Wort aus vollem Menschenherzen.“

Der Redner verbeugte sich leicht vor seiner Zuhörerschaft und erhob sich, begrüßt von einem Beifall der Damen, an dem der Protest gegen alle anderen Sprecher nur einen kleinen Antheil hatte. Und nicht bloß der alte Professor, der ihm in aufrichtigem Dank die Hand schüttelte, sondern auch die anderen Zuhörer, wenn auch weniger überzeugt, zollten dem redlichen Collegen, dessen Wahrheitsstreben sie achteten, ihren Beifall und suchten sich dadurch wieder in Harmonie mit den Zuhörerinnen zu setzen, die selbst der Dr. Schwarzkopf als Repräsentantinnen des Seelenlebens zu verehren versicherte.

So begab sich denn, als eben die Sonne unterging und die Milde des Abends zur Promenade im Garten einlud, die Gesellschaft aus dem Gartensaal hinaus. Nur Fräulein Amalie machte sich daselbst noch mit der eingetretenen alten Hausdienerin am Tisch zu schaffen, wo die Gesellschaft einen leichten Imbiß zum Abend einnehmen sollte. Der Professor schritt mit dem Psychologen in freundlichem Gespräch vor dem Gartensaal auf und nieder. Die Freundinnen eilten mit einiger Ostentation, um der Herrengesellschaft zu entgehen, in gemeinsamer Gruppe voran, denn Fräulein Laura mußte ihnen eine zu interessante Prophezeiung darlegen, die in den wenigen Worten bestand. „Ich verwette meinen Kopf darauf, daß sie sich noch heute verloben!“

„O,“ rief Fräulein Anna, wenn auch nicht überrascht, so doch lebhaft aus, „so hat er auch die Professur!“

„Sie entgeht ihm jedenfalls nicht,“ versetzte Fräulein Florentine, „und daß er dann um sie anhält, ist ein allbekanntes Geheimniß.“

Inzwischen nahten die Herren in gemeinsamer Gruppe, der man nicht gut mehr ausweichen konnte. Fräulein Laura drückte nur noch heimlich beiden Freundinnen mit dem Finger auf dem Munde das Gelöbniß des tiefsten Schweigens aus, das diese mit feierlichem Blick auch ihrerseits bestätigten. Als die Freunde nahe genug waren, bekamen sie nur das ungetheilte Lob des Psychologen zu hören, der allein der edlen und höheren Wissenschaft obliege.

Unter freiem Himmel, so schien es, sollte sich die Discussion erneuern, die im Saale keineswegs zum Abschluß gebracht war. Allein der Eifer der zum Zwiegespräch sich gestaltenden Debatte führte unerwartet zu einer Trennung in Paaren. Der Zoologe und Fräulein Anna, die stattlichsten Gestalten der heutigen Gäste, waren so vertieft im Streite, daß sie einen Seitenweg einschlugen, ohne zu merken, daß die Anderen ihnen nicht dahin folgten. Auch [686] dem Physiker begegnete es, daß Fräulein Florentine gar ernstliche Fragen an ihn wegen des Problems der Fern-Malerei zu richten hatte, und er belehrte sie gern in einem eigenen Cursus vor dem kleinen Teich, der den schönen Abendhimmel widerspiegelte. So mußte sich denn auch Fräulein Laura in das Schicksal fügen, allein und ohne thätige Nachhülfe der Freundinnen vor der Rosenhecke dem Dr. Schwarzkopf zu beweisen, daß er unverbesserlich sei, wenn heute die herrliche Rede des Psychologen nicht sein allem Edlen abgewendetes Gemüth gebessert habe. Auf des „Unverbesserlichen“ Geständniß, daß nur eine kleine verbessernde Hand im Stande sei, dies Wunderwerk zu vollbringen, streckte sie wieder beide Händchen abwehrend gegen ihn aus – ob zu seinem Heil? das wissen wir nicht anzugeben.

Inzwischen war auch Amalie aus dem Gartenhause getreten. Der Vater ging ihr entgegen, strich ihr mit liebevoller Hand über ihre glühende Wange und schritt gedankenvoll dem Weingang, seiner Lieblings-Promenade, zu. Der Psychologe blieb allein mit ihr.

„Ich wollte,“ sagte er leise, „mich bei Ihnen nur entschuldigen, wegen meines späten Erscheinens. Ich hatte einen wichtigen Gang, den ich nicht aufschieben konnte. – Ich mußte zu einer Audienz.“

„Ich ahnte es,“ fiel sie pochenden Herzens ein.

„Sie ahnten es?“ rief er lebhaft aus. „Sie ahnten es, o, so ahnten Sie wohl auch, daß sie einen erfreulichen Ausgang hatte?“

„Ich ahnte es,“ sagte sie bewegt und senkte den Blick zu Boden.

Es entstand eine Pause, in der Beide langsam dahin schritten. Wohin? Sie wußten’s nicht. Ihm, der dem Worte eben ein beredtes Lob gesprochen, fehlte es jetzt. Er fühlte lebhafter als bei seinem Vortrage, daß wohl auch dem Worte eine Kraft vorangehen müsse, wenn es eine That einleiten sollte.

Endlich, als sie aufblickte und ihm ihr ahnungsvolles, glühendes Antlitz halb zuwendete, da faßte es ihn, eine That und Kraft zugleich. „So ahnt,“ sprach er bebend, „so ahnt dieses Herz auch den heißesten meiner Wünsche?“ –

Er sah den Busen wogen, die Wangen einen Augenblick erbleichen und dann in flammender Röthe strahlen. Er fühlte das Herz, seines, ihres, pochen, und sah in ihrem Auge, das sie senkte, das Zeugniß tiefster Seelenregung aufsteigen, und – nicht mehr Herr des Wortes – hauchte er leise die Bitte hin: „O sprich!“

Was war’s, das in die Eine, Eine Silbe das Geheimniß zweier Herzen legte?

Es war ein Wort aus vollem Menschenherzen! – Seine zitternde Hand streckte sich Verzeihung flehend nach ihr aus. Die ihrige legte sich bebend in die seine – und in dem Einen Händedruck, der Alles, Alles sagte, war Wort und Kraft und That in zwei Seelen zu Eins geworden.




Der Abendtisch im Gartensaale vereinigte die Gesellschaft in heiterer Stimmung wieder. Es ordneten sich die Paare wie zufällig. Nur der Professor am oberen Ende des Tisches saß einsam und blickte wehmuthvoll in die Zeit zurück, wo er vor Jahren, an der Seite seiner Unvergessenen, ganz dasselbe erlebte, was er ahnend auch an seinem Kinde zu entdecken glaubte. In alter guter Sitte, die er auch nach dem Austritt aus dem Consistorium hoch hielt, sprach er vor dem Mahle mit milder Stimme:

„Es segne der Herr Alle, die in seiner Liebe wandeln! Er speise uns mit dem Brode seines Geistes! und lasse leuchten sein Licht in jedem Herzen, in dem da lebt und wirkt ein liebevolles Wort aus vollem Menschenherzen!“

Ein Händepaar drückte sich heimlich ein stilles „Amen“ zu.



  1. Wir erlauben uns die Leser der Gartenlaube auf obige wissenschaftliche Novellette des geistreichen Verfassers der bekannten Leitartikel der Berliner Volkszeitung noch besonders aufmerksam zu machen. freilich ist es keine oberflächliche, dafür aber eine blendend-witzige und geistig anregende Lectüre. Um sie unsern Lesern in zwei Nummern vollständig zu liefern, haben wir mit Genehmigung des Herrn Verfassers die Einleitung um einige Sätze gekürzt und zusammengezogen.      D. Red.