Aus den Zeiten des „Brigantaggio“

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Autor: Isolde Kurz
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Titel: Aus den Zeiten des „Brigantaggio.“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–42, S. 710–714, 730–733, 746–747
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[710]

Aus den Zeiten des „Brigantaggio“.

Von Isolde Kurz.
I.

Es lautet wie eine Mär aus fernen verklungenen Tagen, wenn man heute noch vom „Brigantaggio“ redet, und mancher unserer Leser kann sich den Briganten mit Kalabreserhut und schwarzen Sammethosen, das Messer im Gürtel, nur noch auf der Bühne heimisch denken. Aber der merkwürdige Proceß wegen Sequestrirung des Herrn Notarbartolo, der im vorigen Sommer vor den Assisen von Palermo seinen Abschluß gefunden, hätte der Welt beweisen können, daß jene Tage doch nicht so fern und verklungen sind, wenn sein Widerhall nicht vom Lärm zweier riesiger Skandalprocesse, die gleichzeitig die Tagespresse in Athem hielten, verschlungen worden wäre.

Die Art und Weise, wie diese Sequestrirung in Scene gesetzt worden, zeigte klar, daß die alten echten Ueberlieferungen des Brigantenthums nicht erloschen sind. Während Herr Notarbartolo mit zweien seiner Pächter bewaffnet vom Lande nach Palermo zurückkehrte, wurde er unterwegs von vier Bersaglieri und einem Karabiniere im Namen des Gesetzes mit angelegtem Gewehr aufgehalten, nach dem Waffenschein gefragt und nebst seinen Begleitern entwaffnet. Dann erst gaben sich die Angreifer als verkleidete Briganten von der Bande des gefürchteten Barone zu erkennen; sie entließen die beiden Pächter, um die Familie des Gefangenen zu benachrichtigen, und schleppten Herrn Notarbartolo nach einer Höhle im Gebirge, aus welcher er erst nach langen Verhandlungen gegen ein Lösegeld von 51.000 Franken entlassen wurde.

Dieser Fall steht keineswegs vereinzelt da, und wenn er ein besonderes Aufsehen erregt hat, so war es nur wegen der angesehenen Stellung des Betroffenen, denn ich kann kaum eine italienische Zeitung zur Hand nehmen, in der nicht von irgend einem bewaffneten Ueberfall, von der Sequestrirung begüterter Personen oder einem Treffen zwischen Briganten und Karabinieri die Rede wäre, und keineswegs bloß in den halbwilden südlichen Provinzen, selbst in dem wohlgeordneten ruhigen Toskana pflegen sich Banden von Uebelthätern zusammenzurotten und eine Zeit lang die Gegend zu terrorisiren. Der „Brigantaggio“ ist ausgetilgt, aber man muß bekennen, daß der Brigant geblieben ist; nur hat er seinen romantischen Nimbus verloren und ist von einer politischen Macht zum gemeinen Straßenräuber herabgesunken.

Aufgefordert, die denkwürdigsten Erinnerungen aus den sagenhaften Tagen des Brigantaggio zu sammeln, habe ich aus den privaten Mittheilungen von Augenzeugen und officiellen Berichten zusammengestellt, was ein Bild von den damaligen Zuständen zu geben vermag, und werde die gleichzeitigen politischen Vorgänge nur so weit berühren, als nöthig ist, um die Fülle von Anekdoten, die mir zu Gebote steht, an einem losen Faden aufzureihen und verständlich zu machen.

Aber „da des Liedes Stimmen schweigen von dem überwund’nen Mann“, verlangt es die Billigkeit, daß ich wenigstens einige Worte voranschicke über die unerhörten socialen Zustände, die so unerhörte Gräuel ausgebrütet haben.

Ausgezeichnete Nationalökonomen haben es längst ausgesprochen, daß das Brigantenwesen lediglich eine agrarische Frage sei. Wie aus der Bedrückung der städtischen Bevölkerung die Camorra, so ist aus dem Elend des Landvolks der Brigantaggio hervorgegangen. Es ist bekannt, daß der Süditaliener der nüchternste und anspruchsloseste Arbeiter ist, den Chinesen vielleicht ausgenommen; gründliche Kenner versichern, daß es auch keinen fleißigeren gebe, als ihn. Aber welches Loos ist ihm bereitet? Seine Landsleute mögen die Frage beantworten.

„Die Feldarbeiter, welche die oft weit entlegenen Güter bebauen,“ erzählt ein berühmter italienischer Gelehrter, Pasquale Villari, in seinen bekannten „Briefen aus dem Süden“ („Lettere [711] meridionali“), „halten sich fast das ganze Jahr dort auf und kommen nur alle vierzehn bis zwanzig Tage in die Stadt, um Frau und Kinder zu sehen. Auf dem Lande schlafen sie in einem Gelaß zu ebener Erde in Nischen, die ringsum in die Wand gehöhlt sind, auf einem Strohsack. Ihr Vorgesetzter ist ein ‚Massaro‘ (Verwalter), der ihnen täglich auf Kosten des Gutsherrn ein Kilo Schwarzbrot verabreicht. Diese Bauern arbeiten von der Morgendämmerung bis Sonnenuntergang; um zehn Uhr Vormittags ruhen sie eine halbe Stunde aus und essen ein wenig von ihrem Brot. Abends, wenn die Arbeit zu Ende ist, setzt der ‚Massaro‘ einen großen Kessel aufs Feuer und siedet Wasser mit ein klein wenig Salz darin. Die Bauern stellen sich in der Reihe auf, zerschneiden ihr Brot und legen es auf einen Holzteller, auf den ihnen der Massaro etwas gesalzenes Wasser nebst ein paar Tropfen Oel gießt. Das ist das ganze Jahr über ihre Suppe, und nie genießen sie andere Kost, als zur Erntezeit, wo sie überdies einen bis zweieinhalb Liter Tresterwein erhalten, um sich auf die härtesten Strapazen vorzubereiten. Jeden Tag sparen sie noch ein Stück von ihrem Schwarzbrot auf, um es zu verkaufen oder nach Hause zu bringen. Damit und mit einem Jahreslohn von 132 Lire sowie einem halben Tomolo[1] Mehl und einem halben Tomolo Bohnen, die sie nach der Ernte erhalten, müssen sie ihre Familie ernähren. Ueberdies haben die Grundbesitzer noch aus feudalen Zeiten her ein Recht auf unentgeltliche Arbeit ihrer Bauern für bestimmte Tage. Und nicht selten geben sie, statt den Lohn in Cerealien oder Geld zu zahlen, den Arbeitern ein bestimmtes Maß desjenigen Produkts, das gerade in Ueberfülle vorhanden ist, wie Citronen oder etwas Aehnliches, das wegen mangelnden Exports verfaulen müßte.“

Diese wenigen Züge mögen genügen, um den Zustand der ländlichen Bevölkerung in den südlichen Provinzen Italiens zu kennzeichnen. Aus den Reihen dieser Enterbten lösen sich jeder Zeit stärkere und gewaltthätigere Naturen oder solche, denen außer der socialen Unbill noch eine private zugefügt ist, ab, um das Recht des Stärkeren, das sie so lange erlitten haben, nun ihrerseits auf eigene Faust an der Gesellschaft zu üben. Durch die Lage ihrer heimatlichen wenig bereisten Gebirgsgegenden geschützt, schließen sie sich in Banden zusammen, fangen reiche Gutsbesitzer und vornehme Reisende weg, deren Familien ein stattliches Lösegeld zu entrichten haben und häufig durch ein eingesandtes Ohr des Sequestrirten an prompte Bezahlung gemahnt werden. Dabei darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß manche Briganten aus Menschenfreundlichkeit stets einen Vorrath abgeschnittener Leichenohren bei sich führen sollen. Das ist das Brigantenwesen in den gewöhnlichen Zeitläuften, und es ist gar nicht lange her, daß die italienische Regierung der englischen das Lösegeld heimzahlen mußte, welches die letztere für einen britischen Unterthan entrichtet hatte, dessen Zahlungsfähigkeit von den Banditen bei Weitem überschätzt worden war. Der gemeine Mann nimmt den Briganten mit offenen Armen auf und feiert in ihm den Verfechter der Unterdrückten; der Besitzende zahlt ihm gutwillig eine Steuer, um ihn nicht zum Feinde zu haben – auch die Ortsbehörde wählt häufig von zwei Uebeln das kleinere, indem sie sich lieber dem Unwillen der Regierung als der Rache der Briganten aussetzt, und das Beispiel jenes Syndikus steht wohl nicht vereinzelt da, welcher nach vollbrachter Plünderung den Räubern sagte: „So, nun macht, daß Ihr fort kommt; denn ich muß jetzt meine Pflicht als Staatsbeamter thun und die Soldaten rufen, damit sie Euch vertreiben.“ Dieser treue Staatsdiener rühmte sich dann bei Ankunft der Soldaten, die Briganten selbst in die Flucht gejagt zu haben.

Traten nun aber früher noch politische Wirren hinzu, in denen es eine gefallene Regierung sich nicht zur Schande anrechnete, ihr Banner in die Hände von Straßenräubern zu geben, so fraß das Feuer schnell auf dem ganzen Süden der Halbinsel um sich, und alsdann begann der eigentliche „Brigantaggio“, der wohlorganisirte militärische.

Das Bourbonenthum, das aus Furcht vor Bildung und Aufklärung den Bürgerstand unterdrückte und dem gemeinen Mann durch die Finger sah, war zu allen Zeiten bei den niederen Volksschichten beliebt und ist es vielleicht noch heute. Im Süden Italiens giebt es nur zwei Stände: den „galantuomo“ und den „cafone“, das heißt den Besitzenden und den Proletarier, und sehr scharfsinnig bemerkt ein geistreicher französischer Schriftsteller, der viel über den „Brigantaggio“ schrieb, daß schon um seines Ehrentitels willen der „Rè galantuomo“ (Viktor Emanuel) dem Südländer verdächtig war, denn er witterte in ihm einen König der Reichen, während Franz II. ein König der „Cafoni“ gewesen. Kein Wunder also, daß von Fra Diavolo bis auf die sechziger Jahre die Legitimität ihre glühendsten Vertheidiger im Auswurf des Volkes fand; denn ein Funke Idealismus lebt in jeder Menschenbrust, und auch der Brigant macht seine Sache besser, wenn er zugleich für Thron und Altar zu kämpfen glaubt.

Proteusartig nimmt der Brigant tausend Gestalten an; er ist überall und nirgends; während ihn ein Bataillon in den Wäldern sucht und sich in beschwerlichen Gebirgsmärschen aufreibt, mäht er vielleicht friedlich als Schnitterin verkleidet das Gras in der Ebene oder er kommt den Soldaten als ein freundlicher Eseltreiber entgegen, der ihnen gegen Lohn die Wege weist, auf denen sie der versteckten Bande in die Hände fallen. Als Kind des Landes, wo er kämpft, hat er alle Vortheile auf seiner Seite. In der Hütte, in welcher die vom Marsch, vom Hunger und tausend Entbehrungen erschöpften Soldaten eine gastfreie Aufnahme finden, liegt er in einem unzugänglichen Versteck, wo er jedes Wort ihres Gespräches hört, und hat, wenn die Seinigen in der Ueberzahl sind, alle Gelegenheit, den Feind im Schlafe niederzumachen.

Seine Gewandtheit, sich in jeder Rolle und Verkleidung zu bewegen, ist staunenswerth. So erzählte mir ein befreundeter Officier, wie ihm einst in einer Hütte im Neapolitanischen, wo er einquartiert war, der Hausherr ein reizendes junges Mädchen in der kleidsamen Landestracht mit schlanken Formen, hängenden Zöpfen und sittsam niedergeschlagenen Augen vorstellte:

„Kapitän, dies hier ist mein ältestes Töchterchen, mein liebes kleines Hausmütterchen.“

Das holde Geschöpf entpuppte sich später als derselbe Brigant, zu dessen Verfolgung der Officier ausgesandt war.

In den siebziger Jahren war zu Florenz viel von einem Advokaten F., einem Neapolitaner von Geburt, die Rede, der in den besten Gesellschaftskreisen verkehrte und großen Aufwand machte. Galt es eine officielle Festlichkeit zu veranstalten, so war der Advokat F. einer der Ersten im Komité; fand eine öffentliche Sammlung zu wohlthätigen Zwecken statt, so stand sein Name mit den höchsten Summen verzeichnet. Mit seinen Kollegen lebte er auf dem besten Fuß, da er keine Processe annahm, obwohl er auf der Advokatenliste eingetragen war. Er verlobte sich mit einer jungen Dame aus aristokratischer Familie und bewarb sich um eine Kandidatur bei der nächst bevorstehenden Deputirtenwahl. Um diese Zeit wurde ein Brigadier der Gendarmerie, der viele Jahre auf der Brigantenjagd zugebracht hatte, von den südlichen Provinzen nach Florenz versetzt. Gleich in den ersten Tagen meldete sich dieser Mann bei seinem Vorgesetzten und theilte ihm in größter Aufregung mit, daß ihm soeben der Brigant C. begegnet sei, derselbe, auf den er vor einigen Jahren mit seiner Kompagnie in der Basilicata Jagd gemacht habe und der seitdem in Amerika verschollen sein sollte. Obwohl er jetzt einen schwarzen Vollbart trage, habe er ihn auf den ersten Blick erkannt und sei ihm heimlich bis zur Thür seiner Wohnung in der Via A. gefolgt, wo er erfahren habe, daß dieser Herr seit einigen Jahren in Florenz ansässig sei und den Namen eines Advokaten F. führe.

Der Officier, aus dessen eigenem Mund ich diese Geschichte gehört habe, lachte seinen Untergebenen aus, nannte ihn einen Geisterseher und versicherte ihn, daß der Advokat F. ein ehrenwerther, ihm persönlich wohlbekannter, durchaus unverdächtiger Mann sei. Aber der Brigadier gab sich nicht zufrieden und ließ nicht ab, in seinen Vorgesetzten zu dringen, bis dieser bei der neapolitanischen Behörde Erkundigungen über das Vorleben des Advokaten einzog. Die Auskunft lautete so befriedigend wie möglich: F. stammte aus einer angesehenen Familie, hatte mit großem Erfolg seine Studien absolvirt, und in seiner Vergangenheit gab es nirgends eine dunkle Stelle.

Der Officier ließ den Brigadier rufen und theilte ihm die Nachrichten mit, aber nicht wenig erstaunte er, als der hartnäckige Karabiniere eine Photographie hervorzog, die er unterdessen aus Potenza hatte kommen lassen. Sie stellte den verschollenen Briganten dar und war von überraschender Aehnlichkeit mit dem Advokaten F., nur daß der Brigant bartlos und mehrere Jahre [712] jünger war. Die Bestürzung seines Vorgesetzten benützend, drang der Brigadier demselben die Erlaubniß ab, den Advokaten unter irgend einem Vorwand in seinem Hause aufsuchen zu dürfen, um ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Während er nun dort im Vorzimmer wartete, kam der Diener, welcher ihn anmelden sollte, todesbleich herausgestürzt mit dem Ruf: „Hilfe, Hilfe! Mein Herr hat den Verstand verloren. Soeben ist er zum Fenster hinausgesprungen.“

Der Karabiniere flog die Treppe hinab, konnte aber seiner Beute nicht mehr habhaft werden, und erst in Siena gelang es, den Entsprungenen zu fassen, der sich durch seine unzeitige Flucht selbst verrathen hatte. Seiner Identität überführt, mußte er bekennen, daß er durch Betrug die Papiere des verstorbenen Advokaten F. an sich gebracht hatte, und Florenz erlebte das Schauspiel, einen seiner gefeiertsten Elegants, der durch seine glänzende Erscheinung und seine vollendete Kourtoisie alle Herzen gewonnen hatte, als gemeinen Straßenräuber entlarvt, auf die Galere wandern zu sehen.

Unter der Herrschaft Joseph Napoleon’s und Joachim Murat’s stand das Brigantenwesen in seiner höchsten Blüthe, da die legitimistische Partei von Sicilien aus die Verschwörung an langem Faden lenkte und die verfolgten Banden jederzeit auf bourbonischem Gebiet Sicherheit und Unterstützung fanden. Es blieb der Regierung von Neapel nichts übrig, als die Schrecken des „Brigantaggio“ durch noch größere Schrecken zu überbieten. Fürchterliche drakonische Gesetze entstanden, die den häufig nur gezwungenen Helfer und Hehler, ja zuweilen auch den Unschuldigen mit dem Schuldigen trafen. Ein französischer General, Graf Manhès, machte sich vor Allem durch die eiserne Strenge seiner Kriegsführung in jenen Provinzen berüchtigt und berühmt, aber ihm gelang es auch, in wenig Jahren das tausendköpfige Ungeheuer des Briganten-Aufstands auf lange Zeit niederzuwerfen.

In einem sehr interessanten, trefflich geschriebenen Büchlein über den „Brigantaggio“ von Marco Monnier finden sich einige höchst merkwürdige Anekdoten aus den Zeiten dieses Manhès, welche den Stoff zu erschütternden Balladen, eines großen Dichters würdig, enthalten. Aus der Fülle des phantastisch Entsetzlichen will ich nur einige charakteristische Züge hervorheben.

Der berüchtigte Brigantenführer Parafante nahm eines Tags im Walde von Sant’ Eufemia einen Franzosen Namens Astruc fest. Für seine Freilassung verlangte er, daß sämmtliche gefangene Brigantenfamilien in Freiheit gesetzt und überdies mit Lebensmitteln und Kleidung versehen werden sollten. Die Regierung, welche über eine Truppenmacht von 60000 Bajonetten verfügte, nahm diese Bedingungen an und hielt sie treulich. Bald darauf hatte der Brigant Gelegenheit zu beweisen, wie hoch er selbst beschworene Verträge hielt. Ein vollzähliges Bataillon marschirte von Cosenza ab unter der Führung eines höheren Officiers, der den Briganten besonders verhaßt war. Parafante hatte die Kühnheit, ihm durch eine Art Herold anzukündigen: er werde ihn auf der Landstraße, die von Cosenza nach Rogliano führt, und zwar an einem Ort, welcher Lago heißt, umzingeln. Der Officier achtete nicht auf die Warnung, sondern setzte sich in Marsch, aber genau auf dem angegebenen Punkte wurde er von den Briganten überfallen und sein Bataillon zersprengt. Zwei seiner Officiere, Filangieri und Guarasci, fielen mit 25 Mann in die Hände der Briganten, welche ein Kriegsgericht hielten und den Spruch fällten, daß Filangieri und Guarasci von ihren eigenen Soldaten erschossen werden sollten. Unter dieser Bedingung wurde den übrigen Gefangenen das Leben zugesichert.

Alle weigerten sich, aber die beiden Officiere befahlen ihren Leuten zu gehorchen, da sie hofften, auf diese Weise das Leben von 25 Mann zu retten. Nach langer Weigerung und qualvollem Seelenkampf vollzogen die Soldaten endlich den Befehl; Filangieri und Guarasci kommandirten selbst Feuer und fielen. Darauf wurden die 25 Soldaten niedergemetzelt.

Ein anderer Brigantenführer, Namens Bizarro, hatte einige große Hunde zur Menschenjagd dressirt. Nach dem Kampfe hetzte er seine Bestien auf die Fliehenden, und auf diese Weise wurde ein Officier von der Civilgarde zerrissen. Als General Manhès gegen Bizarro marschirte, fiel die ganze Bande mit Ausnahme von zwei Mann von diesem ab, und er gerieth in solche Bedrängniß, daß er sein eigenes neugeborenes Kind an einem Baume zerschmetterte, um nicht durch das Gewimmer desselben verrathen zu werden. Da beschloß die muthige Frau, die den Briganten bis dahin begleitet und ihm unter den Drangsalen der Flucht dieses Kind geboren hatte, sich selbst Recht zu verschaffen; sie wartete, bis er eingeschlafen war, nahm dann sein eigenes Gewehr und tödtete ihn. Hierauf wagte sie es, sich den Behörden von Mileto vorzustellen und den Preis zu verlangen, der auf Bizarro’s Kopf gesetzt worden und der ihr auch richtig ausbezahlt wurde.

Noch eine letzte Anekdote aus jener Zeit theilt der Verfasser des interessanten Büchleins mit, einen Fall, der sich liest wie eine alte Legende und wohl werth ist, der Vergessenheit entrissen zu werden. Es ist ein Geniestreich des Generals Manhès, den ich möglichst mit des Autors eigenen Worten wiedergeben will:

„In den Schluchten von Aspromonte liegen zwischen endlosen, undurchdringlichen Wäldern die Gemeinden von Serra und Mongiana. Dort hausten die ärgsten Briganten, furchtlose Kalabresen, welche die Bataillone überfielen, die den Staatsbeamten zum Geleit nach den Eisenbergwerken von Mongiana dienten.

Eines Tages kündigten diese Briganten den Behörden von Serra an, daß sie bereit seien, sich zu unterwerfen, aber ihre Führer wollten sich nur bei Nacht und in einem bestimmten Hause zur Besprechung einfinden. Zur festgesetzten Stunde begaben sich der Syndikus, der Kommandant der Bürgergarde und der französische Lieutenant Gerard von der Gendarmerie in das bezeichnete Haus. Die vier oder fünf Briganten fanden sich pünktlich ein, aber sie zogen die Unterhandlungen in die Länge, um Zeit zu gewinnen. Unterdessen wurde das Haus von der Bande umstellt und plötzlich überfallen; der Syndikus und die beiden Officiere fielen von den Händen der Briganten.

Wenige Monate zuvor hatten die Briganten in den Bergen zwischen Lauria und Castelluccio einen Transport Uniformen, welcher für das 20. französische Linienregiment bestimmt war, überfallen, die Eskorte geschlagen, den Zug ausgeraubt und triumphirend die erbeuteten Uniformen mit den französischen Epauletten angelegt. Bei diesem Treffen war auch die Frau des Lieutenants Gérard getödtet worden.

Der neue unerwartete Handstreich setzte die ganze Stadt in panischen Schrecken. Sobald Manhès Kunde erhielt, gab er Befehl, das Haus zu zerstören, das die Briganten aufgenommen hatte; aber er fand keinen Gehorsam. Manhès fragte bei dem König an, welche Strafe er über die Stadt verhängen solle, und Murat antwortete: ‚Thun Sie, was Ihnen gut dünkt, aber thun Sie es in Person. Reiten Sie selbst nach Serra, untersuchen Sie und strafen Sie!‘

Manhès flog nach Serra, indem er den Weg durch die Wälder nahm, um schneller an Ort und Stelle zu sein. Erst die Trompeten seiner Eskorte, die plötzlich drohend wie die Gerichtsposaunen am Stadtthor erschollen, kündigten ihn an. Die Bevölkerung war starr vor Schrecken. An den Bäumen, welche den öffentlichen Platz zierten, hingen einige abgehauene Köpfe, roth von zurückgetretenem Blut. Manhès fragte, was das zu bedeuten habe, und erfuhr, daß die betroffenen Familien die Eigenthümer des Hauses, in welchem das Verbrechen geschehen war, enthauptet hatten. Er wandte den Kopf ab, schloß sich in einem Zimmer ein und ließ Niemand mehr vor sich: eine ganze Nacht dachte er über die Bestrafung nach.

Die Frage war schwierig. Man konnte doch nicht ohne weiteres eine ganze fleißige Bevölkerung, welche in den Eisenminen des Landes arbeitete, zusammenschießen lassen. Die Einwohner mußten geschont und dennoch ein fürchterliches Exempel statuirt werden.

Unterdessen brachten die Leute die ganze Nacht damit zu, ihre kostbarste Habe in die Wälder zu schleppen, denn sie glaubten nicht anders, als die ganze Stadt solle dem Erdboden gleich gemacht werden.

Am Morgen ließ Manhès alles Volk auf dem öffentlichen Platz zusammenrufen. Eine große Versammlung fand sich ein; auch nicht ein Bewohner fehlte. Manhès trat unter die Menge und donnerte sie mit solcher Heftigkeit und Strenge an, daß Alles zitterte. Sie hätten sich wie ehrlose Memmen betragen, sagte er, nicht Einer von ihnen sei unschuldig und nicht Einer solle verschont werden. Man denke sich den Schreck. ‚Ich verordne,‘ rief er, ‚daß alle Kirchen von Serra geschlossen werden und daß [714] alle Geistlichen ohne Ausnahme augenblicklich diesen Ort zu verlassen und sich nach Maida zu begeben haben! Eure Kinder sollen ohne Taufe zur Welt kommen, Eure Greise ohne die Sakramente sterben. In Eurer Gemeinde werde ich Euch auf ewige Zeiten abschließen, und Ihr sollt nicht hoffen, meiner Gerechtigkeit zu entrinnen, indem Ihr in eine andere Gemeinde auswandert. Die Einwohner der benachbarten Ortschaften werden strenge Wache halten, und wer sich untersteht, herauszukommen, wird niedergeschossen wie ein toller Hund.‘

Man muß den Ort kennen, um den Jammer und die Verzweiflung zu begreifen, die das Volk bei diesen Worten befielen. Manhès verließ noch desselben Tages mit seiner Eskorte von sechzig Ulanen Serra. Als er fortritt, war die Stadt wie ausgestorben; aber kaum auf freies Feld gelangt, stieß er auf eine gespenstische Procession: es war die ganze Bevölkerung, die barfuß, im Büßerhemd auf den Knieen lag, sich die Brust mit Steinen schlug und um Gnade flehte. ‚Tödten Sie uns lieber,‘ riefen Alle, ‚besser sterben als so leben!‘

Manhès blieb unerbittlich; er trieb sein Pferd an und sprengte vorüber. Und obwohl der Klerus besonders in den höheren Sphären sich die Sache sehr zu Herzen nahm, wurde das Urtheil vollzogen. Alle Geistlichen, selbst ein achtzigjähriger Greis, der getragen werden mußte, wanderten nach Maida aus.

Dieser Bann hatte ein wunderbares Resultat. Das Volk von Serra erhob sich auf den Ruf eines Gutsbesitzers hin wie ein Mann und machte eine grimmige, rastlose, unerbittliche Jagd auf die Briganten, die nicht eher endete, als bis der letzte Bandit gefallen war.

Der ganze Kampf dauerte nur wenige Tage, und als er zu Ende war, wurde der Bann aufgehoben. Die ganze Bevölkerung zog in Procession nach Maida, um ihre Priester zurückzuholen. Und seit dieser Zeit hatte das Land keine Truppen mehr zu seiner Vertheidigung nöthig: die Nationalgarde besetzte ein kleines Fort in einer Gebirgsschlucht und hielt sich tapfer daselbst. Ihren Lieblingsfluch per santo diavolo! haben die Bewohner jener Provinz seitdem in ein per santo Manhès umgewandelt.“


[730]
II.

Nach dem Falle von Gaëta im Jahre 1861 erhob die Hydra des Brigantaggio aufs Neue das Haupt, und auf der alten Bühne wurde wieder einmal das alte, grausenvolle Drama aufgeführt, welches schon so oft diese unglückseligen Provinzen erschüttert hatte. Die „sbandati“, das heißt die bourbonischen Mannschaften, die durch den Sieger von Gaëta entwaffnet und aufgelöst worden waren, zerstreuten sich über das Land, und die brotlos gewordenen Soldaten legten sich wie die Landsknechte des Mittelalters auf den Heerstraßen in den Hinterhalt, um friedfertige Wanderer anzufallen und zu berauben. Galeerensträflinge, denen Garibaldi auf seinem siegreichen Zug durch die Provinzen die Ketten gelöst, Vagabunden, deren Dienste die junge italienische Regierung abgelehnt hatte, schlossen sich ihnen an und bildeten die ersten Banden. Die gestürzte Regierung, minder wählerisch in den Mitteln als der König Ehrenmann, gab ihnen eine Fahne und ein Losungswort. Aber kein anständiges Element war dieser „Partei“ beigemischt, kein Officier der geschlagenen Armee befehligte sie; ihre Anführer waren gemeine Straßenräuber, ausgehungerte Bauern und Landstreicher mit Ausnahme jenes spanischen Abenteurers Josè Borjès, jenes unglücklichen Don Quixote, der im guten Glauben, einer heiligen [731] Sache zu dienen, seinen ritterlichen Degen unter den Oberbefehl eines Croccó[2] stellte, mit geheimer Mißbilligung an all den blutigen Streif- und Raubzügen in der Basilicata und Calabrien theilnahm, um endlich nach unsäglichen Leiden, Mühen und Entbehrungen sein trauriges Mißverständniß eben so tragisch wie heroisch zu büßen.

Ueber elf Jahre währte der grausige Vernichtungskampf, der in seiner gesetzlosen Wildheit fürchterlicher war als jeder auswärtige Krieg und die besten Kräfte des jungen Italien aufzehrte. Für jede zersprengte Bande wuchs eine neue aus dem Boden, bis 40.000 Briganten die heimische Erde mit ihrem Blute gedüngt hatten. Ein erschütterndes Epos, reich an wunderlichen und entsetzlichen, rührenden und lächerlichen Episoden, das leider keinen Sänger gefunden hat; denn die Abneigung, von ihren Erlebnissen zu reden, ist Allen gemeinsam, die an der blutigen Menschenjagd betheiligt waren, und die liebenswürdigsten Gesellschafter werden plötzlich verstockt und wortkarg, wenn man sie nach ihren Abenteuern während des „Brigantaggio“ fragt.

Ein Mann, der in Italien eine eigenartige litterarische Stellung einnimmt, Cav. Giuseppe Petriccioli, Kapitän der Bersaglieri und „poëta latino“, wie ihn seine Umgebung nennt, wurde mir schließlich als derjenige bezeichnet, der meine Wißbegier am besten befriedigen könnte. Dieser treffliche Schriftsteller und verdiente Officier hat sein halbes Leben auf der Brigantenjagd zugebracht und mehrere der schlimmsten Bandenführer mit eigener Hand getödtet. Inmitten des schrecklichsten aller Kriege, während der Streifereien auf die Banden Manzi’s und Capuccino’s, hat er seine gefeierte Hymne auf den Frieden gedichtet, in welcher er die allermodernsten Errungenschaften der Kultur in antiker Form und einem für klassisch erklärten Latein besingt. Ich kannte das Gedicht und die ungewöhnliche Art, wie es entstanden ist: der Kapitän hatte in jenen drangvollen Tagen des Brigantaggio einen Band neuer Gedichte Viktor Hugo’s zur Hand bekommen, in denen der „Dichter der Menschlichkeit und Brüderlichkeit“, der nie das Blut auf den Schlachtfeldern fließen sah, die Jugend Frankreichs zum unversöhnlichen Rachekrieg gegen Deutschland aufrief, und von heiliger Entrüstung ergriffen, schrieb er, der Soldat, den Hymnus auf den Frieden, der, wie der Verfasser in der Vorrede sagt, vom Frieden nichts hat als den Namen.

Im Golf von Spezia, inmitten romantischer Olivenhaine, liegt vom Meere bespült das Gut, wohin sich der gelehrte Kapitän aus dem Geräusch der Waffen und dem litterarischen Getrieb zurückgezogen hat, um in Ruhe die väterliche Scholle zu bebauen, seine Reben zu pflanzen und sein Oel zu pressen. Mit einer kleinen Gesellschaft suchte ich ihn eines Abends auf von dem benachbarten San Terenzo aus, wo ich schon vor Jahren seine Bekanntschaft gemacht hatte.

Unter dem alten himmelhohen Palmbaum, der von seinem Hügel hoch auf das Meer hinunterblickt, fanden wir unsern Diocletian bei seinen ländlichen Beschäftigungen. Wir wurden aufs liebenswürdigste empfangen und auf der rebenumrankten, marmornen Terrasse mit Wein und Obst bewirthet; aber kaum hatte ich das Wort Brigantaggio ausgesprochen, als sich das Gesicht des Kapitäns verfinsterte; er suchte das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, und nur mit Mühe gelang es, ihn bei dem Gegenstand festzuhalten.

„Infandum, regina, jubes renovare dolorem,“[3] seufzte er endlich, und mit diesem Citat aus seiner Lieblingssprache ergab er sich denn auch in sein Schicksal.

„Aber ist es nicht sündhaft, sich den Abend durch so gräßliche Erinnerungen zu verderben, sich in Zeiten und an Orte zu versetzen, wo wir zwölf Jahre lang den Segen menschlicher Gesellschaft entbehrten, wo jeder Begegnende auf der Straße den Gedanken wachrief: ‚Wenn es kein großer Verbrecher ist, so ist es doch gewiß ein kleiner‘?

Damals hat mich nur die Poesie vor der völligen Verwahrlosung und moralischen Zerrüttung bewahrt. Sobald der Dienst nicht alle meine Sinne in Anspruch nahm, ließ ich zwischen mir und der Außenwelt einen Vorhang fallen und zog meinen Virgil aus der Tasche. Bei schneidender Winterkälte, wenn wir in versteckten Höhlen im Hinterhalt lagen, ließ ich meine Bersaglieri sich der Länge und Quere nach wie Holzscheiter aufschichten, um sich gegenseitig warm zu halten, setzte mich auf einen Steinblock am Eingang und dichtete, den Säbel im Arm, meinen Hymnus auf den Frieden. Aus dem Marschtakt meiner Bersaglieri hörte ich den Rhythmus des Hexameters heraus; meine Soldaten sahen mir dann nur auf den Mund, und wenn ich murmelnd die Lippen bewegte, so flüsterten sie sich zu: ‚Der Kapitän dichtet‘ und hielten sich mäuschenstille.“

So redete der Kapitän sich unversehens in das Erzählen hinein, und wie er erzählte! Wir hüteten uns wohl, ihn durch eine Frage zu unterbrechen. Es war, als hörten wir die abenteuerlichen Gesänge Ariost’s, als zögen die Marfisen und Bradamanten leibhaftig an uns vorüber, wenn er z. B. von dem Briganten erzählte, den er einst bei einem Treffen im Handgemenge vom Pferde riß, weil der Revolver versagt hatte, und der ihm vom Boden aus in dem krächzenden Neapolitaner Dialekt zurief:

„Kapitän, schone mich, ich bin ein Weib!“

Dazwischen drängte sich das komische Element: so schilderte er ein Gastmahl bei dem Syndikus eines abgelegenen Abruzzennestes, wo nach einer Reihe höchst fragwürdiger Gänge ein Gericht erschien, das die größte Aehnlichkeit mit Flußkrebsen hatte; aber wo sollten an dem steilen, wasserlosen Ort Krebse herkommen? Bei näherer Besichtigung stellten sich die vermeintlichen Krebse als gebackene, mit wilden Spargeln garnirte Grillen heraus.

Die Officiere, die sich für gefoppt hielten, wollten aufbrausen, aber ein Blick auf die fröhlich schmausende Tischgesellschaft belehrte sie, daß man ihnen wirklich das Beste vorgesetzt hatte, was das Haus und die Stadt zu bieten vermochten.

Dann erzählte er von dem abenteuerlichen Zauberwald, dem Bosco di pontano[4] zwischen Spezzano-Albanese und Castrovillari, wo er mit seiner Kompagnie vierzehn Tage lang, auf allen Vieren rückwärts kriechend und mit den Füßen auf das stachlige Gestrüpp einhauend, sich durch den Urwald Bahn brechen mußte, immer hinter den Briganten her, deren Stimmen oft ganz in der Nähe zu hören waren. Eines Tages ertönt plötzlich aus den Reihen seiner Mannschaft ein Hilferuf, dem ein zweiter und dritter und bald ein lautes Jammergeschrei folgt. Ungefähr ein Dutzend Bersaglieri sind buchstäblich von der Erde verschlungen worden und stecken bis über die Hüften im Boden, in den sie bei jeder Bewegung tiefer einsinken. Der Kapitän hatte kaum Zeit gehabt, die Lage zu überblicken, als auch unter ihm der Grund wich und er hilflos in einer zähen, breiigen Masse versank. Nun begriff er, was der Name des Waldes zu bedeuten hatte, und erkannte zugleich den Verrath seiner Führer und die Arglist der Briganten, die ihn durch ihren Rückzug auf diesen trügerischen Grund gelockt hatten. Durch zugeworfene Stricke gelang es ihm mit Einbüßung eines Schuhs, sich und seine Leute auf festen Boden zu retten und dadurch dem Schicksal zu entgehen, das ihnen an dieser Stelle zugedacht war.

Nach langen qualvollen Kreuz- und Querzügen kamen sie endlich barfuß mit zerrissenen Kleidern, blutenden Händen und Füßen auf einer Lichtung an ein Gehöft, wo ihnen die vorüberziehenden Briganten einen gräßlichen Gruß hinterlassen hatten: da lagen auf einen Haufen geworfen neun Leichen von Männern, Weibern und Kindern, denen mit teuflischem Spott die abgehackten Gliedmaßen vertauscht und die eigenen Ohren in den Mund gesteckt waren – vielleicht das Bravourstück einiger Novizen, die derartige Proben ihrer „Seelenstärke“ abzulegen hatten, ehe sie endgültig in die Bande aufgenommen wurden.

Wuth und Rachedurst gaben den Verfolgern bei diesem Anblick neue Kräfte; sie rafften sich auf und setzten noch in derselben Stunde den Marsch fort, auf dem sie der unsichtbare, durch das Dickicht gedeckte Feind unablässig bedrängte, indem er immer langsam vor ihnen her den Wald durchzog, bis er endlich an das Ende unweit der Grenze gelangte, wo er sich schon auf bourbonischem Gebiet in Sicherheit glaubte. Aber es sollte anders kommen. Auf der Landstraße von Castrovillari liefen die abgematteten Briganten, denen die Kompagnie Bersaglieri auf den Fersen folgte, einem Sergeanten in die Hände, der mit einer Handvoll Karabinieri eine staatliche Geldsendung eskortirt hatte und auf dem Rückweg [732] seine Leute bei einem Brunnen rasten ließ. Die erschöpften Briganten liefen auf das Wasser zu, ohne die schnell zusammengeduckten Soldaten zu gewahren, und wurden wehrlos festgenommen. Die nachrückende Kompagnie begegnete gleich darauf dem gefesselten Trupp und hatte nichts mehr zu thun, als dem Sergeanten zu seinem glücklichen Fang und der leichterworbenen Medaille zu gratulieren.

„Es ist jammerschade,“ unterbrach sich der Kapitän von Zeit zu Zeit, „daß Niemand diese Ereignisse noch unmittelbar unter dem frischen Eindruck aufgezeichnet hat. Soll ich Ihnen die Geschichte von Franz Moor erzählen?

In dem Städtchen Giffone im Salernitanischen lebte der alte Gutsbesitzer M., einer der reichsten Männer des Landes, mit seinen beiden Neffen, den Söhnen seiner Schwester, die außer ihrem eigenen sehr bedeutenden Vermögen nach seinem Tode eine ungeheure Erbschaft zu gewärtigen hatten. Da geschah es, daß ein junges Bauernmädchen von ungewöhnlicher Schönheit im Haus Dienste nahm. In dem Alten erwachte bei ihrem Anblick eine jener unwiderstehlichen Leidenschaften, die aller Vernunft spotten: er warb um die Schöne und fand Gehör. Ein Sohn war die Frucht dieser Verbindung, und der nicht mehr erhoffte Segen hob den alten Mann auf den Gipfel der Seligkeit. Wie verjüngt von Glück ging er umher; er überhäufte die junge Mutter mit allen Kostbarkeiten und setzte den Knaben zum Universalerben seines unermeßlichen Besitzes ein, indem er jedem seiner Neffen ein ansehnliches Legat sicherte. Aber die Beiden waren nicht gesonnen, des fetten Bissens verlustig zu gehen: eines Tages, als der Kleine die ersten Gehversuche machte, fiel er in einen Kessel siedenden Wassers und kam jämmerlich ums Leben. Der alte M. war in Verzweiflung, und kaum vermochte er sich an der verdoppelten Liebe und Aufmerksamkeit seiner Neffen etwas aufzurichten. Jedoch das Jahr darauf wurde ihm zum Ersatz für den verlorenen ein zweiter Sohn geboren.Nun wurde die Lage für die Neffen schwierig; der siedende Kessel war nicht zum zweiten Male in Anwendung zu bringen, und auf welche Weise auch der Knabe verschwunden wäre, immer wäre der Verdacht der Staatsanwaltschaft wachgerufen worden. So ersannen sie einen andern Ausweg. Sie setzten sich mit dem Bandenführer Manzi, der gerade damals das Salernitanische unsicher machte, in Verbindung und veranlaßten ihn, den Alten selber wegzufangen.

Eines schönen Sommerabends brach Manzi mit den Seinigen in Giffone ein und nahm den alten M. im Tabakladen, der zugleich Kaffeehaus war, fest. Die Neffen waren nicht zugegen, und keine Hand rührte sich zu seiner Vertheidigung. Ja, sobald die Briganten mit ihm auf freiem Felde waren, lief das Landvolk, das immer und überall mit den Räubern gegen den Gutsherrn Partei nahm, zusammen, klatschte Beifall und ließ den Hauptmann Manzi hoch leben. Der arme M. wurde ins Gebirge geschleppt und ein enormes Lösegeld für seine Freilassung verlangt. Die Neffen als Verwalter zahlten die Summe aus und theilten mit den Briganten den Raub. Aber diese hielten den unglücklichen Greis fest, um unter beständigen Drohungen immer neue Summen von ihm zu erpressen; M., in Todesangst, willigte in Alles. Endlich wurden die Behörden benachrichtigt, und unsere Abtheilung erhielt den Befehl, zu marschiren. Wir machten scharfe Jagd und ließen die Briganten nicht mehr zu Athem kommen; von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel wurden sie aufgetrieben, bis sie den gebrechlichen Greis auf ihrer Flucht nicht länger mit sich schleppen konnten. Eines Tages erblickten wir auf einer Anhöhe in geringer Entfernung einen Trupp Bersaglieri mit blinkenden Waffen und wallenden Federbüschen, in ihrer Mitte einen alten Mann in Civil; wir waren jedoch bereits unterrichtet und wußten, wen wir vor uns hatten. Ich ließ meine Leute Feuer geben und stürmte den Hügel; die Bande stob aus einander, und der alte Mann blieb allein zurück, zum [733] Glück unverletzt – es war M., der von uns in halber Besinnungslosigkeit nach Hause zurückgebracht wurde. Manzi aber gab sich mit dem, was er erbeutet hatte, nicht zufrieden, sondern, nachdem er den Vater losgelassen, machte er verschiedene Anschläge, um nun den Kleinen in seine Gewalt zu bekommen. Sobald ich von diesen Versuchen benachrichtigt worden war, schickte ich die junge Frau mit dem Knaben täglich scheinbar allein ins Freie spazieren, um die Briganten herbeizulocken, indem ich einige meiner Leute als Bauern verkleidet in geringer Entfernung folgen ließ. Manzi aber war zu schlau, um in die Falle zu gehen, und erst nachdem wir lange vergeblich auf ihn Jagd gemacht hatten, fanden wir ihn eines Tages in einer abgelegenen Holzhütte, wo er sich mit einem Dutzend von seiner Bande verbarrikadirt hatte und durch die Thürspalten Feuer gab. Wir machten keine langen Umstände, sondern schossen ihn mit Allen, die um ihn waren, durch die verschlossene Thür hindurch nieder. An seiner Leiche fanden wir Papiere, die sein Einverständniß mit den Neffen des alten M. bezeugten.“

Noch romanhafter ging es bei dem Fange des Banditen Chiodo zu.

[746] Es war an einem schneidend kalten Wintertage, als Kapitän Petriccioli mit seiner Mannschaft in dem Gebirgsort Soveria-Manelli im Kalabresischen zwischen Pizzo und Cosenza einrückte auf die Nachricht hin, daß sich dort der Brigant Chiodo versteckt halte. Sein Quartierzettel lautete auf das Haus des Syndikus, und diese ehrwürdige Magistratsperson trat dem neuen Ankömmling sofort aufs Gastfreundlichste das eigene Zimmer ab. Aber der Kapitän sollte diesen Vorzug nicht ungeschmälert genießen, denn er hatte das Schlafgemach mit den beiden Hausgenossen des Syndikus zu theilen, die am Fußende des Bettes angebunden waren – einem Esel und einem Schwein.

Hundert Schritte vom Ort entfernt wohnte in einem schönen Landhaus ein Arzt Namens Luigi Cimino, der dem Kapitän sofort seine Aufwartung machte, ihm sein ganzes Haus zur Verfügung stellte und ihn mit Liebenswürdigkeiten überschüttete. Dieser Cimino gab Gesellschaftsabende mit allem großstädtischen Luxus, wobei seine drei reizenden Töchter mit gewinnendster Anmuth die Honneurs machten; es wurde getanzt, und alle jungen Officiere waren dazu eingeladen worden. Nur unser Kapitän blieb zurückhaltend, lehnte alle Anerbietungen ab und hielt sich an seine vier Wände. Doch war er froh, daß die Regierung befohlen hatte, die Quartiere alle vierzehn Tage zu wechseln, um den Einzelnen nicht zu sehr zu belasten, und daß er daher bald aus der Gemeinschaft der beiden vierfüßigen Schlafkameraden befreit wurde.

Der Kapitän, welcher gelegentlich Kranke und Arme in dem Orte unterstützte, wurde bei dem Völklein, das ebenso rasch zur Liebe wie zum Haß geneigt ist, beliebt, und wenn die Leute von ihm sprachen, nannten sie ihn „lu buonu figghiu“[5]. Dieser Popularität schreibt es der Kapitän auch zu, daß er nicht auf seinen einsamen Abendspaziergängen hinter einer Hecke hervor von einem der im Ort versteckten Briganten niedergeschossen wurde.

Auf einem dieser Abendspaziergänge, als er an einem Gesang seines Hymnus dichtete, traf er einmal auf ein altes Weiblein, das gebückt und zitternd vor Kälte an einem Rain stand und ihm bei seinem Näherkommen freundlich zunickte und rief: „Guter Junge, gesegnet seist Du und Deine Mutter!“ und was dergleichen Reden mehr waren.

Der Kapitän trat auf sie zu, fragte sie, ob sie ihn denn kenne und ob er ihr je etwas Gutes erwiesen habe, doch die Alte blieb dabei, daß er „lu buonu figghiu“ sei, der den Armen Gutes thue und dem sie Alle wohlwollten. Dabei griff sie von Zeit zu Zeit mit Daumen und Zeigefinger an die Nase, als ob sie eine Prise nähme.

„Du möchtest gewiß schnupfen, Mütterchen?“ fragte der Kapitän.

„Ich möchte freilich,“ entgegnete die Alte, „aber ich habe keinen Schnupftabak.“

Der Kapitän zog ein paar Soldi heraus und reichte sie mit den Worten: „Hier ist Schnupftabak für Dich,“ der Alten, die ihn mit Danksagungen überhäufte und es sich nicht nehmen ließ, ihn bis zu seiner Hausthür zu begleiten. Von da an wurde er das alte Weib nicht mehr los; jeden Abend erschien sie unter seinem Fenster, sang allerlei närrische Lieder, die sie selbst improvisirte und die gewöhnlich mit dem Ritornell schlossen:

„N’u ha tante gocce lu mare
Quanti baci ti voglio dare.“
[6]

Andere Weiber und Kinder sangen mit; die jungen Leute tanzten dazu und machten einen Lärm, der sowohl die Musen des Kapitäns verscheuchte, als auch der Ordre zuwiderlief, welche über das Städtchen eine Art von kleinem Belagerungszustand verhängt hatte. Aber der Kapitän ließ das Unwesen zu, um seine Beliebtheit nicht zu verscherzen, die ihm schon so gute Früchte getragen hatte. Von Chiodo zeigte sich indeß nirgends eine Spur.

Während dieser ganzen Zeit dauerten die Zuvorkommenheiten von Seiten der Familie Cimino immer fort. Zwar wurde der Kapitän nicht mehr eingeladen, nachdem er ein- für allemal erklärt hatte, er sei ein Einsiedler, der des Abends nach dem Dienst am liebsten daheim bei der Studirlampe sitze; aber bald erhielt er ein paar Hühner, die er zurücksandte unter dem Vorwand, daß er durchaus kein Geflügel esse, bald ein prächtiges Wildbrett, das gleichfalls zurückwanderte; bald bot man ihm mehr oder minder werthvolle Gegenstände des Komforts an, an welchen im Quartier des Kapitäns allerdings fühlbarer Mangel herrschte, die er aber alle ablehnte mit keinem andern Hintergedanken, als daß er an einem Orte, an dem er halb und halb als Feind, jedenfalls als ungern gesehener Gast erschienen war, sich Niemandem verpflichten wollte.

Eines Tages warf das alte Mütterlein dem Kapitän auf der Straße bedeutungsvolle Blicke zu, als ob sie ihm etwas von Wichtigkeit mitzutheilen habe. Der Kapitän folgte ihr aus der Entfernung, und als sie unbeobachtet waren, flüsterte sie ihm rasch zu:

„Wenn Du den Chiodo fangen willst, so mache Dich rasch auf den Weg. Er ist eben beim Barbier und läßt sich rasiren. Das letzte Haus oben auf der Höhe, rechts am Weg.“

Der Kapitän ließ rasch die Barbierswohnung von seinen Bersaglieri umstellen, aber als er eindringen und die Bande gefangen nehmen wollte, eröffneten die Briganten zu Thüren und Fenstern heraus ein mörderisches Feuer. Die Angreifer mußten sich in den Straßengraben ducken, wo ein Hagel von Kugeln über ihre Köpfe wegsauste, und steckten endlich durch angezündete Strohwische das Haus in Brand. Chiodo, aufgefordert, sich zu ergeben, erschien am Fenster und rief durch den vordringenden Qualm, daß er sich nur dem Kapitän persönlich übergeben wolle. Schon wollte sich der Kapitän vom Straßenrand erheben und sich dem Banditen nähern, aber noch rechtzeitig ergriffen ihn die zwei nächsten Soldaten und drückten ihm den Kopf in den Graben nieder, denn sie hatten gesehen, wie der Brigant eben tückisch anlegte, um den Officier niederzuknallen. Jetzt kletterte [747] Chiodo ruhig zum Fenster heraus und wollte durch den Rauch des brennenden Hauses und den Kugelregen hindurch sich an der zerbröckelten Mauer hinauf in ein höheres Stockwerk schwingen, weil vermuthlich die Treppe in Flammen stand – da traf ihn eine Kugel mitten durch die Stirn, daß er todt herabstürzte.

Als der letzte Brigant gefallen war, ließ der Kapitän die Leiche Chiodo’s in Gegenwart des Syndikus und anderer Zeugen durchsuchen und fand in seiner Tasche ein Papier des Inhalts:

„Ich bescheinige hiermit, von dem Kapitän Chiodo 60000 Franken in Depot erhalten zu haben. Luigi Cimino.“     

„Ah, Du Hund!“ rief der Kapitän. „Daher also die fetten Kapaunen, daher das Wildbrett und das reizende Lächeln Deiner schönen Kinder! Du wolltest mir die Hände binden, wenn nicht gar mich zum Mitschuldigen machen!“

Und augenblicklich ließ er den Arzt festnehmen und ihn gefesselt mit Handschellen nach Tiriolo transportiren. Dort angekommen, wurde er in festen Gewahrsam gebracht. Der Kapitän rief die Behörden zusammen, berichtete den Fang und die Tödtung Chiodo’s und legte ihnen das kompromittirende Papier vor. Da sah er mit Verwunderung, wie der Richter sich im Gesicht entfärbte, unruhig auf dem Stuhl hin- und herzurücken begann und ihn fortwährend zu unterbrechen suchte – er möchte doch die Sache vor der Hand auf sich beruhen lassen – das werde sich später Alles aufklären – das Papier könne unmöglich von Cimino herrühren u. s. w. Als aber der Kapitän sich nicht zum Schweigen bringen ließ, erhob sich der Richter plötzlich und bat um Entschuldigung, wenn er sich einen Augenblick entferne. Er verschwand und wurde nicht mehr gesehen. Zugleich mit seiner Flucht stellte sich auch heraus, daß Cimino aus seiner Haft entkommen und unauffindbar geworden war. Der Kapitän verließ bald darauf den Ort und vernahm nie wieder etwas von den beiden Persönlichkeiten; über den Beweggrund aber, der den Richter so eilig von dannen getrieben hatte, konnte Niemand im Zweifel sein.

„So ging es zu in jenen Tagen,“ schloß der Kapitän seine Erzählung. „Hätte man mit allen Helfershelfern der Briganten aufgeräumt, so wären die südlichen Provinzen heute entvölkert. Die armen Leute waren aber auch von zwei Seiten in Gefahr, denn der Neutrale war dazumal schlimmer dran als in Dante’s Hölle. Ich kannte einen Unglücklichen, dem eines Nachts die Briganten ins Haus einbrachen, um sich bei ihm auszuruhen und sich in seiner Küche gütlich zu thun. Wenn ihm sein Leben lieb war, mußte er sie gewähren lassen. Am Morgen zogen sie weiter, und gleich darauf rückte das Militär ein, das schon Wind erhalten hatte. ‚Ihr habt heute Nacht die Briganten beherbergt? Ihr seid ein Mitschuldiger.‘ Vergebens betheuerte der arme Mann, daß er ja nur der Uebermacht erlegen sei. Das Gesetz war unbeugsam: jedes Haus, das den Briganten Unterschlupf gewährt hatte, wurde verbrannt und sein Besitzer deportirt. Der Soldat darf in solchen Fällen nur das blinde Werkzeug einer summarischen Justiz sein, und wenn es ihm das Herz bräche.

Aber auch Züge von Heroismus hat der Brigantaggio zu Tage gefördert, welche beweisen, daß der alte Heldenmuth unserer Nation nicht erloschen ist.

Da kam einmal der Brigant Certéllo, eines der größten Ungeheuer, die Gott erschaffen hat, gegen Abend in eine ärmliche Hütte, wo er nur einen alten Mann mit seiner jungen Enkelin und einem siebenjährigen Knaben allein zu Hause fand.

‚Deine Enkelin gefällt mir, ich komme, um sie mit mir zu nehmen,‘ sagte er dem Alten, ‚rede dem Mädchen zu, daß sie gutwillig mitgeht.‘

Das arme, erschrockene Geschöpf klammerte sich an den Großvater an, der den Briganten mit aufgehobenen Händen beschwor, ihm das Kind zu lassen, sie sei ja noch so jung; er wolle lieber einwilligen, ihm eine seiner älteren Enkelinnen zu geben.

Aber der Brigant verlor die Geduld und mit brutalem Lachen, halb aus Zorn, halb aus Uebermuth – denn er war angetrunken – legte er an und schoß den alten Mann durch den Kopf. Und ohne weiter auf die beiden Waisen zu achten, die sich schreiend auf die Leiche des Großvaters warfen, stellte er seine Flinte in die Ecke und ließ sich gähnend auf die Herdbank nieder, um seinen Rausch auszuschlafen. Da erwachte in dem kleinen Jungen etwas vom Geiste David’s, als er den Philister schlug. Er sah das Scheusal, das seinen Großvater ermordet hatte, auf der Bank schnarchen, er sah auf dem Herd daneben die Axt, mit der der Alte sonst sein Holz zu spalten pflegte, und ohne sich zu besinnen, griff er zu dem Beil und schlug es dem schlafenden Briganten mit all seiner siebenjährigen Kraft auf die Stirn, daß der Brigant brüllend auftaumelte, durch die Wunde und das vorquellende Blut geblendet mit beiden Händen sich die Stirn hielt und unter fürchterlichem Schreien und Fluchen den Knaben zu Tode zu foltern drohte, sobald er nur wieder sehen könne.

‚Du sollst mich aber nicht mehr sehen,‘ rief das Kind, holte aufs Neue aus und hieb so lange mit der scharfgeschliffenen Axt auf den Briganten ein, bis er ihm das Hirn zu Brei zermalmt hatte. So fanden wir den Knaben in der Hütte und brachten ihn selbst nach Neapel, um ihn dem König vorzustellen. Viktor Emanuel ließ ihn auf Staatskosten erziehen und setzte ihm aus seiner eigenen Tasche einen Dukaten pro Tag auf Lebenszeit aus.

Noch eine Scene aus der Brigantenjagd werde ich Ihnen erzählen, eine Scene, die auf ewig in meine Seele gegraben steht, weil ich damals durch die tiefste Verderbniß hindurch den Funken eines heiligen Feuers erkannte.

Der schreckliche Caruso, einer der gefährlichsten Brigantenführer und zugleich weit und breit der schönste Mann, hatte ein wunderbar schönes Mädchen und guter Leute Kind entführt und zu Pferde mit Gewalt davongeschleppt. So wenigstens sagte man im Ort, vielleicht um die Anverwandten zu schonen, denn ich für meinen Theil“ – es ist der Kapitän, welcher spricht - „bin fest überzeugt, daß man noch niemals von den Sabinerinnen bis auf unsere Tage ein Weib mit Gewalt entführt hat. Doch das sind Glaubenssachen; gewiß ist, daß die Schöne bald Caruso’s Geliebte und eine der entsetzlichsten Megären wurde, die je durch Gewöhnung an Blut und Frevel den Adel ihres Geschlechtes verloren. Sie verübten gemeinsam Gräuel, die zu erzählen mir der Muth gebricht.

Wir machten lange vergeblich auf sie Jagd; endlich fingen wir Caruso in Gesellschaft des schrecklichen Weibes – ihr Name ist mir entfallen, aber ich kann Ihnen noch ihre Photographie zeigen, die unter unser ganzes Bataillon vertheilt war. Das Standgericht verurtheilte Beide zum Tode, und Caruso wurde zuerst erschossen. Das Bild steht mir noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Noch sehe ich ihn auf dem Rasen liegen, die herkulische Gestalt mit dem herrlichen Römerkopf, den weder sein entmenschtes Leben zu entadeln, noch der Tod zu entstellen vermochte. Da, als sie die Gewehrläufe der Bersaglieri auch auf sich gerichtet sah, brach dem entsetzlichen Weibe, das sich nicht gescheut hatte, aus dem Schädel eines gemordeten Soldaten schäumendes Blut mit Wein vermischt zu trinken, das Herz; sie bat den Kommandanten, noch ein Gebet sprechen zu dürfen vor dem Tode. Es wurde gestattet. Sie hob die Augen angstvoll zum Himmel und öffnete den Mund, aber sie fand keine Worte: auf ihrer Verbrecherlaufbahn hatte sie das Beten verlernt. Da warf sie sich neben der Leiche ihres Geliebten auf die Kniee, küßte seine entfärbten Lippen, sah ihm innig ins Gesicht und rief, während ihr zwei Thränen über die Wangen rollten:

‚Ah, Du bist noch immer schön! Das ist ein Zeichen, daß die Madonna Dir vergeben hat, dann kann sie auch mir verzeihen‘ – und von sechs Kugeln getroffen, sank sie bei der Leiche des Briganten nieder. Dieses Weib hatte den Tod tausendfach verdient, und dennoch – hätte ich damals zu kommandiren gehabt, so wäre die Hinrichtung unterblieben.“

Der Kapitän schwieg, und wir nahmen mit warmem Danke Abschied, da über seinen Erzählungen die Nacht schon tief hereingebrochen war.

Mir ertheilte er auf das Liebenswürdigste die Erlaubniß, seine Erinnerungen, die noch niemals niedergeschrieben waren, aufzuzeichnen. Ich habe es, so weit mir mein Gedächtniß treu blieb, mit des Kapitäns eigenen Worten gethan, und wenn ich ihnen nicht das Feuer und die Lebendigkeit des mündlichen Vortrags einzuhauchen vermochte, so möge mir der Leser verzeihen: wurden sie doch von einem Augenzeugen und Dichter und in der schönsten Sprache der Welt erzählt.


  1. Süditalienisches Fruchtmaß – etwa zwei Scheffel.
  2. Berüchtigter Brigantenführer aus der Basilicata.
  3. „Unsäglichen Schmerz läßt Du mich, Königin, erneuern.“ Mit diesen Worten beginnt Aeneas in Virgil’s „Aeneide“ der Königin Dido von dem Untergang Trojas zu berichten.
  4. Sumpfwald
  5. Für il buon figliuolo – der gute Junge.
  6. Nicht so viel Tropfen hat das Meer, als ich Dir Küsse geben will.