Erholungsreisende und Bergfexe
Erholungsreisende und Bergfexe.
„Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage.“
Goethe.
Ich saß in dem behaglichen Speisezimmer des Kuraten von St. Gertraud, nachdem ich Vormittags die auf das Stilfser Joch führende Post in Gomagoi verlassen und zu Fuß das etwa zwei Stunden lange Suldenthal heraufgekommen war. Die angenehme Wanderung, Angesichts der großartigen Gebirgsscenerie, welche sich mit jedem Schritte weiter und herrlicher vor mir aufthat, hatte mich wunderbar erfrischt, und heiteren Sinnes musterte ich die Theilnehmer an der sonderbaren Table d’hôte, welche in diesem entlegenen Gebirgswinkel unter dem Vorsitze des freundlichen Pfarrherrn und Hôteliers von St. Gertraud stattfand.[1]
Eine Table d’hôte in einem städtischen Hôtel oder auch in einem fashionablen Bade-Orte hat stets ein mehr oder weniger gleichmäßiges, meist etwas langweiliges Gepräge. Nicht so hier. „In den Bergen ist Freiheit,“ besonders auch was die Toilette anlangt. Davon hatte ich mich auf meiner diesjährigen Gebirgsreise mehr als je überzeugen können. War doch gestern erst auf der Terrasse in Trafoi zu meinem Erstaunen hinter einem Engländer mit flatterndem weißen Hutschleier unser guter, sonst mit peinlichster Sorgfalt gekleideter und rasirter Justizrath R. gänzlich verwildert, in einer Lodenjoppe und mit einem Stoppelbarte von mindestens acht Tagen, aufgetaucht, so daß ich mich ernstlich fragte, ob er es denn auch wirklich sei! Und in Eyrs war ich der Frau Geh. Kommerzienräthin B. mit drei Töchtern, sämmtlich mit Alpenstöcken und keck auf die Häupter gesetzten Miesbacher Hütchen mit Gemsbärten, begegnet, hatte auch den jungen Banquier Isidor S. begrüßt, welcher ihnen in Schnürstiefeln, Wadenstrümpfen, Kniehosen und mit einer drohend nach vorn gerichteten Spielhahnfeder auf dem Hute folgte, in der einen Hand ebenfalls den unvermeidlichen Alpenstock, in der andern einen Violinkasten tragend. Ich hatte bei dem Anblicke still in mich hinein gelacht, aber das Lachen war mir vergangen, als nach dem Abendessen die älteste der drei jungen Damen sich an den Flügel im Korridor setzte, Herr Isidor seine Violinbüchse öffnete und, während ich schon lange im Bette lag, mit seiner Partnerin die schmelzendsten Duette losließ!
Ein Klavier – davon hatte ich mich sofort überzeugt – gab es nun glücklicherweise in dem Speisesaale zu St. Gertraud nicht, aber wohl eine so seltsam zusammengewürfelte Gesellschaft in allen möglichen und unmöglichen Toiletten und Kostümen, wie sie eben nur in einem renommirten, internationalen Gebirgsorte denkbar ist. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Bergbesteigungen, und die Moränen, Gletscher, Schneefelder, Eisstufen, Kamine und „Wächten“ schwirrten ohne Unterlaß die Tafel entlang. Nicht lange dauerte es, so wurde auch hier das Lieblingsthema der diesjährigen Gebirgssaison, der Pallavicini’sche Unglücksfall, erörtert. Von den Einen ward der am Groß-Glockner mit einem Freunde und zwei Führern abgestürzte junge Markgraf ob seiner zahlreichen kühnen Besteigungen und seiner heldenhaften Kraft bewundert und gefeiert, von den Anderen wegen seiner zwecklosen, tollkühnen Bravourstücke, die früher oder später zu solchem Ende führen mußten, getadelt und verdammt.
„Es ist der reine Wahnsinn,“ mischte sich mein Tischnachbar, den ich seinem Aussehen und Dialekte nach für einen preußischen Beamten hielt, ins Gespräch, „der reine Wahnsinn, der jetzt in die Leute gefahren ist. Ich gebe zu, daß in der Anspannung aller Körper- und Willenskräfte, wie sie eine schwierige Besteigung erfordert, etwas Kräftigendes für Körper und Geist liegt. Auch mag der Blick von höchster Höhe unter günstigen Umständen ganz ungeahnte, erhebende Genüsse bereiten. Aber um all Das ist es ja den eigentlichen Bergfexen gar nicht zu thun! Es ist die Gefahr, welche sie in erster Linie lockt, und der zweifelhafte Ruhm, einen bis jetzt für unmöglich gehaltenen, noch von Niemand vor ihnen gemachten Aufstieg durchgeführt zu haben. Eine Besteigung auf gefahrlosem, schon von Anderen gemachtem Wege reizt sie nicht, und wäre die Aussicht oben noch so herrlich! Dagegen eine noch niemals bestiegene, möglichst senkrechte Wand, auf schmalsten ‚Bändern‘ oder in Eis geschlagenen Stufen hinaufzuklettern, wo mit jedem Schritte der Sturz in eine grauenhafte Tiefe droht – das erst ist ihnen das wahre Vergnügen, und je nach der Zahl solch unsinniger Besteigungen wächst ihr Ruhm wie der des Indianers nach der Zahl von Skalpen erschlagener Feinde.“
„Glauben Sie nicht,“ wandte ich mich jetzt an meinen Nachbar, „daß die in letzter Zeit sich bedenklich häufenden Unglücksfälle abkühlend wirken und eine Einschränkung dieses gefährlichen Sports herbeiführen werden?“
„Im Gegentheil,“ erwiderte der eifrige Mann. „Es scheint ja fast, als ob der Unsinn dadurch nur noch an Reiz gewönne! Fangen doch jetzt sogar die Damen an, sich an demselben zu betheiligen! Sehen Sie dort an der Wand die zahlreichen photographischen Portraits von Besuchern des Suldenthals. Sie finden verschiedene weibliche Portraits, und auch das einer Dame darunter, welche schon über hundert Spitzen ersten Ranges bestiegen und sich dadurch eine gewisse Berühmtheit in alpinen Kreisen, sowie den Namen ‚Spitzenkönigin‘ erworben hat. Sie hat übrigens bereits gefährliche Nebenbuhlerinnen, und wenn das noch eine Weile so fortgeht, werden wir unsere Frauen und Töchter nicht mehr mit Stickrahmen und Stricknadeln, sondern mit Steigeisen und Gletscherbeilen in die Sommerfrische ziehen sehen. Ich danke!“
Alle Umsitzenden lachten über den komischen Zornesausbruch des Mannes, der nun wüthend mit Messer und Gabel hantirte und große Brocken saftigen Gemsbratens hinunterschlang. Nur ein ihm gegenüber sitzender junger Mann sah sehr mißvergnügt drein. Derselbe war, wie ich gehört hatte, kurz vor Tisch von der Ortlerspitze zurückgekehrt, und sein Anzug, seine kräftig entwickelte Muskulatur und tief gebräunte Hautfarbe ließen in ihm einen jener „Bergfexe“ vermuthen, gegen welche mein Nachbar eben gewüthet hatte.
„Gestatten Sie mir die Bemerkung,“ begann er jetzt, indem er sich an den Letzteren wandte, „daß Sie sehr stark übertreiben. Es mag ja einzelne Herren und vielleicht auch Damen geben, bei welchen die Besteigungen zur Manie geworden sind. Aber im Großen und Ganzen wird jetzt – besonders in Folge der dankenswerthen Bemühungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins – die Erforschung unseres Alpengebiets und die Besteigung seiner Spitzen in durchaus rationeller Weise betrieben. Im Uebrigen finde ich, daß es Jedermanns eigene Sache ist, wenn er sein Leben an halsbrecherische Unternehmungen setzen will.“
Mein Nachbar ließ Gabel und Messer sinken und sah sein Gegenüber mit funkelnden Augen an.
„So? Finden Sie?“ knurrte er. „Nun gut, wenn Einer die Sache für sich allein macht! Aber die Führer? Wie denken Sie darüber? Sie finden wohl, daß es auch ihre Sache sei, ob sie ihre Haut zu Markte tragen wollen oder nicht? Wie aber, wenn die armen Teufel, um den ihnen gebotenen Lohn zu verdienen, um Frau und Kinder zu ernähren, trotz aller Bedenken und Einwände sich endlich von jenen unheimlichen Narren beschwatzen und verführen lassen, den Todesweg anzutreten? Glauben Sie nicht, daß Derjenige, welcher einen Anderen zu einem offenkundig lebensgefährlichen Wagestück verleitet, eine schwere Verantwortung auf sich nimmt? Ich meinestheils finde, daß man ihn sogar gesetzlich bestrafen sollte und daß es eine beklagenswerthe Lücke in unserer Gesetzgebung wäre, wenn man es nicht könnte!“
Die Worte waren so laut gesprochen, daß sie die Aufmerksamkeit sämmtlicher Gäste erregten, und der junge Mann schickte sich eben zu einer Erwiderung an. Da ich einen Streit fürchtete, so kam ich ihm zuvor, indem ich die Frage an meinen Nachbar richtete:
„Sie sind schon längere Zeit im Gebirge?“
„Seit zehn Tagen. Ich reiste vom Starnberger See zu Fuß – ich mache so ziemlich Alles zu Fuß, das ist gesünder – an den Kochelsee, Tegernsee und Achensee. Von da durchs Zillerthal ins Duxerthal, über das Duxerjoch ins Schmiernthal, von Stafflach aus über den Brenner nach Gossensaß, von wo aus ich mehrere Exkursionen machte, dann nach Bozen, Meran, durch das Vintschgau nach Spondinig und hierher.“
„Ah! eine ziemlich anstrengende Tour, wenn Sie Alles zu Fuß gemacht haben.“
[715] „Ich habe nur drei Wochen Urlaub und muß dieselben zu meiner Erholung gehörig ausnützen, da ich das ganze Jahr über in meinem Berufe sehr angestrengt bin. Ich mache mir deßhalb immer, bevor ich meine Sommerreise antrete, ein Reiseprogramm mit genau bestimmter Marschroute für jeden Tag, welche unter allen Umständen pünktlich eingehalten wird.“
„Und den Rest Ihres Urlaubs gedenken Sie nun wohl hier zuzubringen? Es ist in der That ein wundervoller Ort, um sich auszuruhen.“
„Sehr schön, allerdings, aber ich beabsichtige noch über das Stilfser Joch, Bormio, Tirano, Poschiavo, über die Bernina, Pontresina, St. Moritz, nach der Maloja, dann zurück über die Albula nach Chur und dem Bodensee zu gehen, unterwegs Ragaz und Pfäffers anzusehen, vom Bodensee aus auf die Meldegg und den Pfaender zu gehen, den Hohentwiel noch mitzunehmen und dann direkt nach Hause zu fahren.“
„Und das Alles bis zum Hohentwiel wollen Sie zu Fuß machen in den – wenn ich richtig rechne – noch etwa zehn Tagen, welche Ihnen verbleiben?“
„Gewiß, ich werde zwar ab und zu einmal eine kleinere Strecke fahren, aber das Meiste wird gegangen, der Gesundheit halber. Leider habe ich mir die Füße aufgelaufen, so daß mir das Gehen etwas schwer wird. Auch leide ich seit einigen Tagen an einer Erkältung, die ich mir auf dem Duxerjoch zugezogen; ich war etwas erhitzt, und es ging ein kalter Wind dort oben.“
Und er begann heftig zu husten.
„Ein sehr schönes Programm, welches Sie sich da gemacht haben – indeß –“
„Schön,“ fiel er mir ins Wort, „und enthält nur vernünftige Touren, keine waghalsigen, unsinnigen Bergbesteigungen, wie sie jetzt zur Manie werden!“
Dabei fixirte er scharf sein Gegenüber, den jungen Mann in Bergsteigerkostüm, welcher aber nur lächelnd die Achseln zuckte und sich an mich wandte: „Sie wollen nach Tisch zu den Gampenhöfen gehen, wie ich höre. Ich werde Sie, wenn es Ihnen angenehm ist, zu einem kaum zehn Minuten von denselben entfernten, etwas höheren Punkt führen, wo Sie eine noch schönere Rundschau auf die Gletscher und Spitzen haben.“
Ich nahm dankend an.
„Werden Sie sich anschließen?“ fragte ich meinen Nachbar, „oder schmerzen Sie Ihre Füße zu sehr?“
„Ich habe leider keine Zeit. Der Blick von den Gampenhöfen soll allerdings sehr schön sein, aber ich muß heute noch nach Franzenshöhe.“ Er sah auf die Uhr. „Es ist jetzt halb drei Uhr, und ich habe noch fünf gute Wegstunden zu machen.“
Während er aufstand, verzerrten sich seine Züge etwas, offenbar in Folge des Schmerzes, welchen ihm seine aufgelaufenen Füße verursachten.
Er bezahlte und entfernte sich.
In Begleitung des jungen Mannes machte ich mich nun auf den Weg. Die gegenseitige Vorstellung hatte ergeben, daß wir engere Landsleute waren, was unserem Verkehr sofort einen ungezwungeneren Charakter gab.
Als wir durch die Wiesen dem nahen Wald zuwanderten, sahen wir noch in der Ferne meinen Tischnachbar, wie er, von Zeit zu Zeit auf seinen Stock sich stützend, einherwankte.
„Der Mann wirft uns nun Unsinn vor,“ bemerkte mein Gefährte, „und rennt mit seinem gebrechlichen Körper wie besessen in der Welt herum! Zu seiner Erholung, wie er sagt, und um sein Programm zu absolviren, welches ihm nicht gestattet, irgendwo, und wäre es am schönsten Punkt der Erde und gäbe es das Interessanteste zu sehen, wie z. B. hier, noch ein paar Stunden zu verweilen, wenn am gleichen Tage noch einige weitere Nummern seines Programmes zu erledigen sind!“
„Ein sonderbarer Erholungsreisender allerdings,“ erwiderte ich. „Der Mann thäte wirklich besser, sich irgendwo an einem schönen Punkte niederzulassen und von dort aus hübsche Ausflüge zu machen. Seine Frau und Kinder werden wenig Freude an ihm erleben, wenn er nach Hause kommt; er wird nervöser zurückkehren als er ging und vielleicht sechs Wochen gebrauchen, um sich von seiner dreiwöchigen Erholungsreise zu erholen!“
„Er steht aber durchaus nicht allein da, ich bin schon vielen Aehnlichen begegnet,“ erwiderte mein Begleiter. „Kennen Sie z. B. den jungen X. aus L.? Nun ja, ich habe ihn neulich im Oetzthal getroffen. Er läuft und klettert unermüdlich, um sein überflüssiges Fett los zu werden, hat auch schon um zehn Pfund in drei Wochen abgenommen und sieht recht elend aus. Wenn er aber dann wieder nach Hause kommt, schmeckt’s ihm um so besser, er ißt für Drei und wird dann binnen vier Wochen seine zehn Pfund, wenn nicht mehr, wieder zugelegt haben.“
„Nun,“ erwiderte ich, „er hat dann doch Platz geschaffen für diese neuen zehn Pfund!“
„Sehen Sie,“ fuhr mein Begleiter lachend fort, „da finde ich sogar die sogenannten Sonntagstouristen, welche zu Wagen mit tadelloser Toilette und lackirten Bergstöcken von einem Hôtel ins andere fahren, noch weit vernünftiger, da sie wenigstens ihre Nerven nicht zu Grunde richten, dabei doch von der guten Luft Nutzen ziehen und immerhin manches Schöne sehen.“
„Gewiß! Das Richtige wird aber auch hier in der Mitte liegen. Und was den immer mehr um sich greifenden gefährlichen Bergbesteigungssport betrifft, so sollte in der That Alles geschehen, um denselben in vernünftigen Grenzen zu halten. Die Alpenvereine thun in dieser Richtung ja schon sehr viel, indem sie von Touren bei gefährlichem Wetter, ungünstigen Boden- und Schneeverhältnissen abrathen, auch davor warnen, Ungeübte und solche, deren Kräfte größeren Anstrengungen nicht gewachsen sind, bei schwierigen Besteigungen mitzunehmen. Auch die Führer haben natürlich das gleiche Interesse. Aber wie unser Tischgenosse heute bemerkte, ,die Führer müssen leben, und es ist menschlich, daß sie zuweilen nicht allzu wählerisch sind, damit ihnen ein guter Verdienst nicht entgehe.‘ Die Sachverständigen sollten erwägen, ob hier nicht noch schärfere Kontrolle geübt werden könnte. Anerkannt lebensgefährliche Touren wären wohl am besten überhaupt behördlich zu verbieten.“
„Sie werden mir, einem passionirten Bergsteiger, nicht verübeln, wenn ich in letzterem Punkte anderer Meinnng bin. Aber darin gebe ich Ihnen Recht: man sollte in jeder Weise, besonders auch in der Presse zur größten Vorsicht mahnen.“
„Sagen Sie mal,“ wandte ich mich jetzt an meinen Begleiter, „ist es richtig, daß einzelne unserer Bergbesteigungs-Koryphäen, nachdem sie sämmtliche europäische Alpengebiete erledigt, nunmehr nach Neuseeland, in die Kordilleren, an den Himalaya gereist sind, um dort, wo es noch höhere Spitzen und kolossalere Gletscher giebt, ihrer Manie zu fröhnen?“
„Gewiß! und sogar Führer haben sie dazu aus unseren Alpengebieten mitgenommen, welche natürlich jahrelang vom Hause abwesend sind und hoch bezahlt werden müssen.“
„Verfolgen die Herren dabei auch wissenschaftliche Zwecke?“
„Die Meisten wohl nicht, und ich muß sagen, daß dies schade ist. Aber immerhin – interessant muß es doch sein, und wenn ich die nöthige Zeit und die nöthigen Mittel hätte, wer weiß –“
Ich mußte lächeln. Die Augen meines jungen Begleiters glänzten vor Lust bei dem Gedanken, an einer Schneewand des Himalaya hinauf zu klettern! Wir waren inzwischen an dem bezeichneten Aussichtspunkt angekommen, welcher in der That einen entzückenden Blick auf die in einem Halbkreis gelagerten imposanten Bergriesen gewährte.
„Sehen Sie hier,“ begann mein Begleiter, „die Königsspitze, die Königswand, die großen und kleinen Zebru, hier den Ortler mit der Tabarettaspitze, die Hochleitenspitze, die Kreilspitze, das Königsjoch, das Schrötterhorn, den Passoforno, die Sultenspitze, den Eisseepaß, die Schöntaufspitze, die –“
„Ich danke Ihnen außerordentlich für Ihre Erklärung. Schade nur, daß ich morgen schon wieder Alles vergessen haben werde. Es ist eigenthümlich: ich kann mir wohl die hauptsächlichsten und charakteristischsten Berge merken, aber vergeblich habe ich mich lange geplagt, mir all die Namen der beim Wechsel des Standortes sich immer wieder anders präsentirenden Berghäupter einzuprägen, diese verschiedenen Mondatsch, Madatsch, Pufflatsch, Tollpatsch, Piz Miz, Piz Friz und Piz Blitz – ich habe mich so lange damit gequält, an den schönsten Stellen in meinem Bädeker und auf meinen Karten studirt und mir die Stimmung und den vollen Genuß des Anschauens damit verdorben, daß ich es jetzt aufgegeben habe und mich wohler dabei befinde.“
Wir lachten herzlich, wurden aber Beide sofort wieder ernst, als unartikulirte Laute wie menschliches Stöhnen an unser Ohr drangen. Auch schwere Schritte näherten sich jetzt, und es dauerte nicht lange, so sahen wir durch den Bergwald zwei Männer in Gebirgstracht herankommen, welche sich die Hände gereicht hatten und so gemeinschaftlich ein anscheinend weibliches Wesen trugen, welches die Arme um die Häupter ihrer Träger geschlungen hatte und kläglich stöhnte. Auf dem Kopfe trug sie eine jener wollenen Pudelmützen mit einem Büschel in der Mitte des Deckels, welche man jetzt so häufig bei den Damen im Gebirge sieht, und welche besonders älteren Gesichtern unbeschreiblich komisch stehen.
Um den Kopf war ein weißer Schleier gewunden, welcher bei jeder leichten Verschiebung ein entsetzlich roth und blau geschwollenes Gesicht mit aufgesprungenen Lippen und an den Wangen herabhängende Hautfetzen zeigte. Gefolgt war die Gruppe von einer zweiten, hochgewachsenen Dame, welche in halbmännlichem Kostüm, in kurzen Röcken, eine bunte Schärpe um die Taille, einen Hut mit Gemsbart und Spielhahnfeder auf dem Kopf, in der Hand einen gewaltigen Bergstock mit zahlreich eingebrannten Höhennamen und -Zahlen, stolz einherschritt und der Schwäche ihrer Genossin zu zürnen schien.
„Was war denn das?“ wandte ich mich, nachdem wir der Gruppe eine Zeit lang sprachlos nachgeblickt, an meinen Begleiter, „die arme Dame ist ja furchtbar zugerichtet!“
„Folgen einer Besteigung, vermuthlich der Königsspitze. Es ist nicht selten, daß die Luft auf solcher Höhe Damen und auch Herren in dieser Weise mitspielt. Erst vor einigen Tagen sah ich in Gomagoi zwei Italiener, welche dermaßen geschwollene Gesichter vom Ortler herunterbrachten, daß sie nicht einmal mehr Nahrung zu sich nehmen konnten.“
„Ist das nun nicht Tollheit?“ rief ich aus. „Freiwillig, zu seinem Vergnügen, sich so zurichten zu lassen!?“
„Für schwächliche Personen ist es allerdings ein sehr thörichtes Unterfangen,“ erwiderte mein Gefährte, „Eines schickt sich eben nicht für Alle! Haben Sie die zweite Dame gesehen? Dieser hat es offenbar nicht im Mindesten geschadet. Sie schritt einher, als wollte sie heute noch eine zweite Besteigung unternehmen! – Doch hier sind wir an der Stelle, wo ich mich von Ihnen verabschieden muß.“
Ich dankte dem freundlichen jungen Manne für seine Begleitung und kehrte allein nach St. Gertraud zurück, wo ich nach dem Marsche, den ich im Laufe des Tages gemacht, bald das Bett aufsuchte und in einen festen, aber nicht traumlosen Schlaf verfiel. Mir träumte, ich säße am Fuße eines himmelhohen Berges, neben mir die Wiege unseres Jüngsten, unseres kleinen Hänschens, welche ich schaukelte, während hoch oben auf dem Berge meine gute Frau, die jetzt eigentlich doch zu Hause Scheuerfest halten sollte, mit einem Gletscherbeil Stufen ins Eis hieb. Mich schauderte, da ich jeden Augenblick fürchtete, sie möchte in die Tiefe stürzen!
Plötzlich kam sie wie auf Adlerflügeln heruntergesaust und stand vor mir in seltsamer Gewandung, in kurzem Röckchen, hohen Stiefeln, eine Art von Helm auf dem Kopf, einen Speer in der Hand – halb Walküre, halb Regimentstochter.
Den Speer schleuderte sie mir jetzt vor die Füße mit den Worten: „Hier, Schwächling, brenne wieder dreitausend Meter ein auf den Piz Blitz!“
Ich erwachte von dem Geräusch des geschleuderten Bergstocks, wie ich glaubte, hatte aber in der Erregung nur den Leuchter vom Nachttische auf den Boden geworfen. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, und ich dankte Gott im Stillen, daß ich nur geträumt!
- ↑ Die Wirthschaftsleitung liegt in den Händen der Schwestern des Kuraten. Uebrigens ist es bekanntlich keine Seltenheit, daß an entlegenen Gebirgsorten, wo sich sonst kein Gasthaus befindet, die Verpflegung und Beherbergung der Fremden von den Geistlichen in ebenso freundlicher wie uneigennütziger Weise übernommen wird.