Aus den Zeiten der schweren Noth/Familien-Erinnerung an die Tage der Schlacht bei Jena

Textdaten
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Autor: R. K.
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Titel: Aus den Zeiten der schweren Noth
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 373–375
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus den Zeiten der schweren Noth.
Familien-Erinnerung an die Tage der Schlacht bei Jena.

In dem offenen Materialwaarenladen in der Saalgasse zu Jena, welcher meinem Großvater, dem Kaufmann und Rathsassessor K., gehörte, herrschte am Vormittag des 12. October 1806 ein reges Treiben. Bauern der Umgegend, die ihre Bedürfnisse an Colonialwaaren hier zu holen pflegten, in weit hinabreichenden Röcken und den Dreimaster auf dem Kopfe, Stadtbürger mit Stulpstiefeln, langen Westen und steifer Halskrause, dazwischen einzelne Studenten in „Koller und Kanonen“, standen in und vor dem Laden in bunten Gruppen, die Köpfe zusammensteckend und eifrig gesticulirend.

Eine Glasthür führte neben dem Laden in die Stube des Herrn Rathsassessors; man konnte hinter ihr den alten Herrn sehen, wie er, die Pfeife im Munde, mit dem Rathsdiener verhandelte und dann und wann mächtige Dampfwolken ausstieß, während sein schmuckes zukünftiges Schwiegertöchterchen, die im Hause zu Besuch anwesend war, ab und zu ging. Jetzt nahm der Rathsdiener ein Actenbündel vom Tische und trat aus der Glasthür unter die Versammelten.

Er hatte die wichtigste Miene aufgesteckt, über welche er verfügte, und ließ den Strom der Andrängenden erst in nächster Nähe sich aufstauen.

„Wißt Ihr jetzt etwas Sicheres, ob die Franzosen heute kommen?“ fragte es durch einander.

„Sie kommen wahr und wahrhaftig,“ antwortete der würdige Rathsdiener bedächtig; „wer noch einen Preußen von der Saalfelder Affaire her im Hause hat, der laufen kann, mag ihm Beine machen, und wer sein Baares oder Pretiosen noch unverwahrt hat, der mag sich dazuhalten, daß er solches gut verschließt oder vergräbt.“

Rasch stob, unter vereinzelten Jammerrufen, ein Theil des Schwarms aus einander, während die Uebrigen den Alten, der sich mit den Ellenbogen Bahn machte, weiter geleiteten, eifrig bemüht, Genaueres aus ihm herauszulocken. Manches böse, zornige Wort fiel, mancher kräftige Fluch – vielleicht gerade um deswillen, weil man wußte, daß man alles Kommende ohne Widerstand über sich werde ergehen lassen müssen.

In dem Stübchen hinter der Glasthür war es still, vor dem Hause einsam geworden. Der Rathsherr dampfte, tief in seine sorgenvollen Gedanken verloren, dermaßen, daß das blühende junge Mädchen, welches diesmal in Begleitung eines dreizehnjährigen Knaben hereintrat, beim besten Willen ein Hüsteln nicht zu unterdrücken vermochte. Der Knabe – nachmals mein Vater – trug eines jener Stammbücher in der Hand, in welche Freunde und Verwandte sich zur Erinnerung einschreiben pflegten und welche leider fast gänzlich durch die modernen Photographien-Albums verdrängt worden sind.

„Papa, Sie haben das noch nicht gelesen,“ sagt der Junge hastig. „Wenn nun die Franzosen kommen und lesen das, da [374] werden sie mir, glaube ich, das Buch wegnehmen, und das sollen sie nicht. Meinen Sie nicht, Papa, daß ich es verstecken muß? Ich weiß schon einen Ort, wo ich es hinthue.“

„Sie müssen es lesen, Herr Vater,“ nickt das junge Mädchen; „was die ersten Beiden geschrieben, würde die Herren Franzosen doch vielleicht reizen, und es wäre schade, wenn dem Jungen die Freude verdorben würde. Nur das Blatt des hübschen kleinen Herrn von Heßlingen ist unverfänglich.“

Drei Officiere des preußischen Grenadier-Bataillons „Graf von Dohna“ waren es, die sich auf den drei Seiten des Stammbuches dort eingezeichnet hatten. Sie waren Tags zuvor, auf dem Rückzuge von Saalfeld her, im Hause des Herrn Rathsassessors einquartiert gewesen, und der frische Knabe, mit dem sie sich viel beschäftigt, hatte die Gelegenheit wahrgenommen, sich eine schriftliche Erinnerung von ihnen zu erbitten. Jetzt befanden sie sich mit dem Gros der retirirenden Vorhut wohl schon bei der Hauptarmee, die unter Hohenlohe zwischen Jena und Weimar stand.

„Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder,“ las mein Großvater. „Manchem meiner Freunde hat er abgeblüht. – Jena, den 11. October 1806, nach dem Tage der unglücklichen Affaire bei Saalfeldt, wie wir im Begriff standen, unsere gefallenen Kameraden zu rächen und für den Tod des braven Prinzen Louis von Preußen uns die eclatanteste Satisfaction zu nehmen. Lieutenant von Zitzewitz.“

„Sieg oder Tod,“ stand auf dem zweiten Blatte – „gleichviel für mich! Nur nicht diesseits, nein! jenseits dieser Brücke, und in beiden Fällen möge dadurch der für uns traurige Tod unseres geliebten Prinzen Louis von Preußen und unserer gefallenen Brüder gerächt, sein deutscher Vaterstaat und unser Ruhm erhalten sein. Jena, d. 11. Okt. 6. Lieutenant von Oelhusen“ (so glaube ich den etwas undeutlichen Namen lesen zu müssen; denn die vergilbten Blätter aus jenen Tagen liegen jetzt vor mir).

Die gedruckte Abbildung der Saalbrücke neben dem eben Gelesenen erklärte, welche Brücke gemeint war.

Der alte Herr schlug das Blatt um, da hieß es weiter:

„Wenn Dich am Busen der Mutter Natur,
Am birkenumschatteten Hügel
Oder am beblümten Ufer des Silberbachs
Der Jugend Bilder umgaukeln
Und die Erinnerung an Jenas Lieben –
Warm in die Seele Dir strömt,
Dann, kleiner Freund, schenken Sie auch
     öfters die Erinnerung Ihrem für's
     Vaterland und Deutschlands Rechte kämpfenden
     Freunde Fr. von Heßlingen.“

Ihr vergilbten Hoffnungen und Wünsche dreier Menschen, eine wie bittere Enttäuschung war euch bestimmt! Und wer kann sagen, ob die drei Menschen, welche euch im Herzen trugen, diese Enttäuschung überlebt haben bis zu den sühnenden Tagen der Freiheitskämpfe?

Der Großvater ließ das Buch sinken und horchte: lauter Trommelwirbel scholl von der Saale her.

„Sie kommen,“ sagte er erregt, und seine Brauen zogen sich zusammen. Er stand auf und gab dem Knaben das Buch zurück.

Schließ es meinetwegen in Deinen Schrank! sie werden sich nicht viel um ein Album kümmern; dazu haben sie schwerlich Zeit. Geht – geht hinauf und zieht Euch nach Möglichkeit zurück! Ich muß leider auf das Rathhaus.“

Als er bald nachher rascheren Schrittes, als es sonst die rathsherrliche Würde zuließ, auf der Straße dahin schritt, erklang der Lärm der wie ein reißender Bergbach sich durch Jena wälzenden Truppenmassen von allen Gassen her. Der Eilige sah nicht mehr, wie auch die Saalgasse herauf ein Schwarm Franzosen unter wüstem Toben und Schreien gestürzt kam, wie hier eine Hausthür aufgerissen wurde und ein Schwarm im Hausflure verschwand, um in aller Eile Geldeswerth zu erpressen, dort sich eine Gruppe um einen unglücklichen Passanten drängte, um ihn zu plündern und mit ihm Muthwillen zu treiben.

Und jetzt sind ein paar von der Rotte bei dem großväterlichen Hause angelangt, ihnen voran ein langer, rothhaariger Kerl mit widerlich frechem Gesichte – ein Tambour. Er stürzt durch den Laden, durcheilt die Ladenstube und steht da vor der Treppe, gierig sich nach lohnender Beute umschauend.

Da knarren leichte Schritte die Treppe hernieder – es ist die jugendliche Braut, sorglos, nichts ahnend. An ihrem Halse aber funkelt ein goldenes Medaillon. Erst als sie unten angelangt ist, erblickt sie den Franzosen, der im Begriffe steht, auf sie loszuspringen.

Ein Schrei – sie entwindet sich ihm und gewinnt Fluchtfreiheit nach dem geräumigen Hofe, nach dem Hintergebäude zu. Umsonst! Der Franzose ist der Angstbeflügelten dicht auf den Fersen; noch auf dem Hofe ergreift er ihren Arm, hält sie trotz alles Widerstandes und Hülfeschreiens fest und reißt den Schmuck an sich.

Aber er gewahrt ein zweites Schmuckstück – den Verlobungsring am Finger der Braut. Ein neuer Kampf beginnt, doch der Ring, der Treue Zeichen, sitzt zu fest, um so leicht, wie das Medaillon, eine Beute des Marodeurs zu werden; inzwischen sind die Hülferufe im Hause gehört worden, und der erschrockene Bräutigam hat Zeit, auf dem Schauplatze zu erscheinen, bevor noch der zweite Raub geschehen.

Im Nu ist die Scene verändert: der Franzose hat den Nahenden gehört und den Degen gezogen, indem er zugleich mit verdoppelter Anstrengung an dem Ringe zerrt. Wer weiß – ein unseliger Einfall, und der Hieb saust vielleicht auf die weichen Finger der armen geängstigten Braut –? Aber schon hat der Bräutigam den Arm des Unholds mit jener Kraft gepackt, mit der ein Mensch sein Liebstes vertheidigt. Ein wüthendes Ringen folgt – die überlegene Körperkraft des Franzosen ist gebunden, da er den Ring nicht läßt; dennoch schwirrt der Degen bedrohlich in der Luft, und ein paar heisere Flüche bezeugen, daß die Wuth in dem Räuber sich zu regen beginnt –

Da plötzlich rasseln Trommeln draußen auf der Straße. Noch eine gewaltige Anstrengung – der Ring hat sich vom Finger gelöst. Ein kräftiger Stoß gegen den Angreifer giebt dem Franzosen die Freiheit, und er stürzt hastig mit seinem Raube in das Haus zurück und auf die Straße.




Die Entscheidungsschlacht bereitete sich vor. Napoleon, der gleichfalls über die Saalbrücke nach Jena gekommen und, wie meine Großmutter mir so oft geschildert, auf schönem Muschelwagen durch die Stadt gefahren, begriff rasch mit sicherem Feldherrnblick den Vortheil, den ihm die Preußen gelassen, indem sie die steil in das Jenaer Thal abfallenden Höhen nicht besetzt hatten.

Noch am 12. October ließ er mühsam Kanonen auf den „Landgrafen“, einen sechshundert Fuß über die Saale sich erhebenden Berg, die steile Schlucht des sogenannten „Steigers“ hinauf schaffen. Auch ein anderer, bequemer Weg durch das Rauhthal wurde ihm verrathen, nachdem, wie der Artikel „Nur ein Schafhirt“ (Jahrg. 1861, S. 233) erzählt hat, ein armer Schäfer seine Weigerung, ihn den Feinden zu zeigen, mit dem Tode bezahlt hatte.

Auf des Landgrafenberges höchster Spitze, dem später „Napoleonstein“ genannten „Windknollen“, konnte Napoleon die preußische Aufstellung übersehen und von hier aus leitete er am 14. October die Schlacht, deren Ausgang die Bürger Jenas mit furchtbarer Angst und Spannung erwarteten. Hatte doch der Kaiser auf dem Galgenberge, einem Hügel dicht an der Stadt, Kanonen aufpflanzen lassen, welche im Falle seiner Niederlage ihm den Rückzug decken und die unglückliche Stadt in Brand schießen sollten. Einen Vorschmack von dem drohenden Verhängniß gab das Auffliegen eines Pulverkarrens, durch das ein ganzes Stadtviertel in Brand gerieth.

Der Verlauf der Schlacht ist bekannt; das Vaterland hatte ihn mit Jahren schwerer Knechtschaft zu büßen. Noch einmal durchzogen die Franzosen plündernd die Stadt an der Saale, und der Jenaer Pöbel half bei der Plünderung. Dann ward Ruhe und Ordnung; man ging daran, die Verwüstungen zu beseitigen. Luden schildert in seinen „Rückblicken etc.“, wie noch eine Woche nachher massenhaft zerbrochene Hausthüren und Fensterläden zu sehen waren, die Straßen aufgerissen und voll Unrath gelegen, auf der Brandstätte verzweifelte Menschen suchend die Trümmer durchstöbert hätten, wie die Gesichter der Vorübergehenden blutlos und eingefallen, trübsinnig und scheu ausgesehen und selbst die Kinder verschüchtert und ängstlich seitwärts auf die Franzosen geschielt hätten, welche zurückgeblieben waren und in der Stadtkirche [375] ein Lazareth aufgeschlagen hatten, aus dem ein Wagen nach dem andern die Todten fortschaffte.

Als die Plünderer abgezogen waren, strömte die Bevölkerung aus den Thoren, die Einen auf das Schlachtfeld, Andere dahin, wo man die Todten begrub, wieder Andere nur irgendwohin in’s Freie, um in der geistbefreienden Natur wieder voll aufzuathmen.

Zwei Tage nach der Schlacht war es – da wanderten auch meine Großeltern nebst dem Brautpaare und dem Dreizehnjährigen, der im glücklichen Besitze seines Albums verblieben, um das am Abhange des Landgrafenberges gelegene Berggrundstück der Familie mit seinen hübschen Gartenanlagen aufzusuchen. Während die Uebrigen sich hier unter Gesprächen über die jüngste Vergangenheit und die dunkle Zukunft ergingen, entdeckte der nach Kinderart herumschweifende Knabe, daß hinter dem Grundstück ein Massengrab für französische Soldaten soeben mit Leichen gefüllt wurde. Er kam athemlos mit der Nachricht angestürzt, und bald hielt die kleine Gesellschaft mit Schaudern vor der gähnenden Gruft.

Wagen voller Todten wurden herbeigefahren; in der Gruft selbst standen Arbeiter, welche schwatzend, zuweilen mit rohem Scherze sich über das Grausige der Situation hinweghelfend, einen der starren Körper nach dem anderen in Empfang nahmen und in die Reihe legten. Die Frauen drängten schüchtern zum Weggehen; da fiel ein Wort, welches sie wie ein Bannspruch an die Stelle fesselte.

„Halt!“ sagte eine Stimme in der Grube, „wart’ einen Augenblick! Der Tambour da hat einen Ring am kleinen Finger, und ich will ihn abziehen für meine Alte, damit sie doch auch etwas von den Franzosen aufheben kann.“

Wie ein Blitz flog die frische Erinnerung an den Raub des Verlobungsringes in dem Brautpaare auf – ein paar Schritt nach der Grube zu, und da starrte ihnen das wohlbekannte widerliche, jetzt bleiche und vom Todeskampf verzerrte Antlitz des rothhaarigen Franzosen entgegen. Am kleinen Finger seiner Linken, welche der Arbeiter eben emporhob, blinkte ein schmaler Goldreif.

Der Bräutigam ließ den Arm der Braut los und beugte sich hinab: wenige Worte der Verständigung genügten; der Arbeiter reichte den Ring herauf. Es war der geraubte.

Erschüttert sah sich das Paar eine Secunde lang in die Augen. Dann nahm der glückliche Bräutigam das wiedergefundene Symbol der Treue zwischen die Fingerspitzen und streifte es mit schweigendem Ernst der Geliebten an den Finger. Und wie sie bleich und bebend dastand, nahm er sie in den Arm und küßte sie auf die erblaßten Lippen. „Unverlierbar!“ sagte er.

Der Ring ist noch heute als theures Vermächtniß in der Familie erhalten, eine sprechende Erinnerung an die Tage der Unglücksschlacht und an eine Schreckensstunde, zu welcher die Familienchronik den vorstehend wiedergegebenen Commentar liefert.

R. K.