Aus den Zeiten der schweren Noth/Nr. 2. Nur ein Schafhirt

Textdaten
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Autor: Fr. Fr.
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Titel: Aus den Zeiten der schweren Noth. Nr. 2. Nur ein Schafhirt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 233–235
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus den Zeiten der schweren Noth.

Nr. 2.
Nur ein Schafhirt.

Die Vorbereitungen zu der Schlacht, welche auf Jena’s Höhen einen für ganz Deutschland so unheilvollen Ausgang nehmen sollte, wurden getroffen. Es war am 12. October. Das preußische Corps unter Hohenlohe, das mit allen Verstärkungen, die ihm Rüchel zugeführt hatte, nicht 40,000 Mann überstieg, standen in dichten Massen auf einer nördlich sich hinziehenden Höhenkette, rechts von der Straße von Jena nach Weimar, zwischen der Ilm und der Saale. Seine Vorposten standen auf dem Landgrafenberge, einem steilen Berge zwischen seiner Stellung und der Stadt Jena, von dessen Gipfel das preußische Heer völlig übersehen werden konnte, und über welchen der einzige Weg führte, um seine Stellung von vorne anzugreifen.

Die Armee des Königs von Preußen, unter dem unmittelbaren Befehle des Herzogs von Braunschweig, war über 65,000 Mann stark, etwas über eine Stunde weit im Rücken von Hohenlohe, in der Nähe von Weimar aufgestellt. So befand sich die ganze preußische Armee, aus etwas mehr denn 100,000 Mann bestehend, mit 18,000 trefflichen Reitern und 300 Kanonen, auf einem Schlachtfelde, wo ihre berühmte Taktik vollkommenen Spielraum zur Entwicklung hatte. Trotz ihrer Unglücksfälle beim Beginn des Feldzuges konnte sie immer noch mit dem Schwert in der Hand das Glück wiedergewinnen, und eine muthige, begeisterte Zuversicht erfüllte die Herzen der preußischen Krieger. Außerdem war ihre Stellung eine gute und trefflich concentrirte, und wollte Napoleon sie in derselben angreifen, so hatte er mit außerordentlichen örtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die die Entwicklung seiner besten Kräfte, der Reiterei und Artillerie, fast ganz verhinderten. Zwar war die Armee des Herzogs von Braunschweig von all ihren Magazinen abgeschnitten, und der Mangel stellte sich schon in ihr ein, allein ein einziger Tag des Glücks konnte alles Verlorene und noch mehr wiedergeben.

In Jena stand Lannes; Rey und Augereau hatten sich bei Roda und Kahla in seiner unmittelbaren Nähe aufgestellt, und Soult rückte mit einem starken Corps gleichfalls gegen Jena vor, während Davoust und Murat nach Naumburg rückten, um sich in den Besitz der dortigen großen Magazine zu setzen. Noch ließ sich der Ausgang der folgenden Tage nicht voraussehen; dem Anschein nach neigte sich die Wagschale des Glücks sogar den Preußen zu, denn sie hatten unbestreitbar die bei Weitem bevorzugtere Stellung inne, obschon ihnen ein kampfgeübtes Heer von über 100,000 Mann unter Napoleon selbst gegenüber stand. Daß eine gewaltige, entscheidende Schlacht bevorstand, ahnte ein Jeder. Schwer, drückend lag dies Gefühl auf der ganzen Gegend. Gleichviel auf welche Seite sich das Glück neigte, der weite Kampfplatz selbst war einem sicheren Verderben geweiht, und wer konnte ermessen, wie weit dieses sich ausdehnte? Noch wurden erst die Vorbereitungen zur Schlacht getroffen, und doch waren die Dörfer dieser Gegend schon so gut wie geplündert. Viele von den Einwohnern hatten sich mit einem Theile ihrer Habe und ihres Viehes auf die bewaldeten Höhen jenseit der Saale geflüchtet, die meisten hatten indeß zurückbleiben müssen.

Schon jetzt sah es in Jena’s Umgebung wie auf einem Schlachtfelds aus. In Unordnung hatten die Preußen diese Gegend geräumt, in unglückseligem Zerwürfniß zwischen Preußen und Sachsen hatten sie sich gegenseitig geplündert. Gepäck und Munitionswagen waren von ihren Führern verlassen und lagen zerstreut umher. Auf den Wegen und Feldern erblickte man Wagen, Waffen und Cuirasse. In die kaum frei gewordenen Stellungen rückten die Franzosen sogleich wieder ein und nahmen mit frechem Uebermuthe, was die Preußen und Sachsen übrig gelassen hatten.

An einem Bergabhange des linken Saalufers stand am Nachmittage dieses Tages ein Mann, den Kopf auf einen Stab gestützt und hinabschauend in das Thal, wo die Straße von Jena nach Naumburg sich hinzieht. Es war ein buntes, wirres Leben auf ihr. Soldaten, Pferde, Wagen drängten einander. Starr, gedankenvoll ruhte sein Auge auf diesem Treiben. Neben ihm weideten wenige Schafe. Die Kleidung des Mannes, ein einfach blauer langer Rock, ein großer, breitkrämpiger schwarzer Hut und eine lange Weste – seine ganze Erscheinung verriethen auf den ersten Blick, daß er ein Schafhirt war. Nur zuweilen warf er einen Blick auf die vier oder fünf Schafe neben ihm, und ein trauriges Lächeln zuckte um seinen Mund. Noch vor kurzer Zeit hatte er für seinen Herrn eine große und zahlreiche Heerde hier geweidet – diese wenigen Thiere waren Alles, was ihm davon geblieben war. Sie waren sein Eigenthum, hieher hatte er sich geflüchtet. Der Abhang war steil, und er durfte hoffen, daß hieher die Soldaten nicht dringen würden. Unten im Thale in dem Dorfe besaß er ein Haus. Aber in ihm hatten sich die Franzosen einquartiert und hatten ihn selbst daraus vertrieben. Die Wintervorräthe für seine Familie und seine Thiere hatte man gewaltsam genommen – was sollte er noch im Dorfe? Das Treiben des Feindes in der Nähe ansehen – er konnte es nicht! Er war allein, aber dann und wann ballten sich unwillkürlich seine Hände zusammen, und er stieß den Schäferstab fest auf die Erde. Er dachte an den Uebermuth und die Frechheit der Feinde – da schwoll ihm das Herz vor Unmuth, und seine dunklen Augen blickten unter den buschigen, aber bereits ergrauten Brauen wild und leuchtend hervor. Wär’ er zwanzig Jahre jünger gewesen, er würde nicht dort gestanden haben, aber seine Haare waren zu weiß für die Soldatenmütze.

Zwei Söhne von ihm standen droben auf der Hochebene in dem Heere, und auch zu ihnen eilten seine Gedanken. Ein Mann kam schräg an dem Bergabhange daher und eilte auf ihn zu. Er hörte ihn nicht, bis der neben ihm sitzende Hund anschlug. Schnell wandte der Hirt den Kopf, kaum hatte er den Kommenden indeß erblickt, so zogen sich seine Brauen noch finsterer zusammen.

„Nun, Born!“ rief der Herankommende, ein Mann von ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, dessen kleine stechende Augen und scharf hervorstehende Backenknochen seinem Gesichte einen unangenehmen Ausdruck gaben. „Nun, Ihr steht hier so ruhig, als ob nichts im Werke wäre! Das ist ein Leben und Treiben ringsum, daß man Gott danken sollte, man wär’ mit heiler Haut daraus.“

„Wer hindert Euch daran?“ warf der Schäfer ein.

„Eure Söhne stehen dort oben unter den Preußen?“ fragte der Fremde.

Born nickte bejahend.

„Und Eure Frau und Tochter?“

„Sie sind drüben,“ erwiderte der Hirt, mit der Hand auf die Berge jenseit der Saale zeigend.

„Und denkt Ihr, daß sie dort in Sicherheit sind? Dorthin wird der Feind auch dringen.“

„Es kommt vielleicht nur noch auf einen Tag an, und die Fremden müssen wieder zum Lande hinaus, wie sie hereingekommen sind!“

„Ha, ha!“ lachte Sielert, so hieß der Mann, „denkt Ihr denn, daß die Preußen siegen werden? Ich komme heute von Kahla und Jena und habe gesehen, wie zahlreich die Franzosen sind; es sollen viel über 100,000 Mann sein, die lassen sich nicht so leicht zum Lande hinausjagen!“

Born blickte ihn scharf und finster an. „Ihr scheint Euch auf die Seite des Feindes geworfen zu haben,“ sprach er langsam.

„Nein – nein! Aber Napoleon versteht den Krieg!“

„Und seine Reiter und Kanonen wird er doch nicht an diesen Bergen in die Höhe schaffen!“ erwiderte Born. „Es giebt nur einen Weg, auf dem es möglich wäre, und den kennt er nicht und wird er auch nicht finden.“

„Und Ihr kennt ihn?“ fragte Sielert fast hastig.

„Ich kenne ihn,“ erwiderte Born ruhig. „Doch wohin führt Euch Euer Weg?“

„Nach Naumburg wollt’ ich,“ erwiderte Sielert. „Auf der Heerstraße ist nicht durchzukommen vor allen Soldaten, Pferden und Wagen – ich muß deshalb Nebenwege einschlagen! Lebt wohl!“

Lange blickte der Schafhirt ihm nach, und in seinem Auge lag ein finsterer Ausdruck. Langsam trieb er seine Thiere auf ein kleines Gehölz zu, welches in geringer Entfernung sich an dem Bergabhange hinzog. Dort sollten sie die Nacht über bleiben, und [234] er selbst wollte in dem Gehölze die Nacht zubringen. Wohl waren die Nächte schon kalt und feucht, an Wind und Wetter von Jugend auf gewöhnt, fürchtete er sie nicht, denn schon in kälterer Zeit hatte er manche Nacht im Freien zugebracht. Je mehr der Abend hereinbrach und je stiller es wurde, um so lauter schallte das Geräusch von dem Treiben im Thale zu ihm herauf, das dumpfe schwere Rollen der Kanonen und Proviantwagen, der Hufschlag der Pferde, dazwischen laute Stimmen, Trommelschlag und Musik. Schon dies Geräusch schreckte ihn ab, in das Thal zurückzukehren, und lange hielt es ihn wach, bis er endlich sitzend, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, dicht neben sich seinen Hund und seine wenigen Thiere, entschlief. –

Der 13. October brach heran, einer der wichtigsten Tage in Deutschlands Geschichte, denn an ihm und nicht am folgenden Tage wurde das Geschick der Schlacht im Voraus entschieden. Der Herzog von Braunschweig, besorgt um die für sein Heer so nothwendigen Vorräthe in Naumburg, welche von Davoust, Bernadotte und Murat bedroht wurden, und hoffend, daß Napoleon nicht sogleich und zumal nicht auf diesem für ihn so ungünstigen Terrain eine Schlacht liefern werde, hatte seine Armee getheilt, und der Haupttheil derselben zog mit dem Könige an der Spitze mit Tagesanbruch nach Sulza und kam am Abende dieses Tages auf den Höhen von Auerstädt an. Hohenlohe blieb als Nachhut auf den Berghöhen zwischen Jena und Weimar zurück. Er selbst gab die Vortheile seiner Stellung, die ihn mächtig machten, unbegreiflicher Weise auf. Statt sein Corps nach dem Abzuge des Herzogs von Braunschweig noch mehr zu concentriren, um die Hauptpunkte dieser Stellung gehörig besetzen und vertheidigen zu können, dehnte er dasselbe über einen Raum von sechs Stunden aus, ohne in dieser langen, schwachen Linie wirklich bedeutende Stützpunkt zu haben. Und den wichtigsten und höchsten Punkt der ganzen Stellung, den Landgrafenberg, gab er ganz auf.

Kaum hatte Napoleon diesen Fehler bemerkt, so bestieg er selbst den Berg, und bald darauf war er von Lannes’ ganzem Corps besetzt. Zu spät sah jetzt Hohenlohe seinen Fehler ein, er wollte den Hügel wiedernehmen, wurde indeß zurückgeworfen. Von diesem Hügel aus konnte Napoleon die ganze Stellung des preußischen Heeres beobachten, und die weite Ausdehnung der feindlichen Linie ließ dasselbe größer erscheinen als es war. Für den folgenden Tag hatte er einen Schlachtplan entworfen. Lannes’ ganzes Corps hatte er bereits auf der Anhöhe, noch fehlte ihm aber die Reiterei und die Artillerie, und ohne Beide konnte er keine Schlacht wagen. Vergebens war Alles aufgeboten, sie an den hohen und steilen Abhängen des Landgrafenberges hinaufzuschaffen; es war unmöglich, ohne die Zeit von einigen Tagen zu verlieren. Hatte doch selbst die Infanterie die größte Mühe, auf den schmalen, den Berg hinanführenden Pfaden hinaufzuklimmen.

Der Morgennebel hatte sich verzogen, und erst jetzt wurde Hohenlohe gewahr, was für eine bedeutende Macht des Feindes, die während der Nacht auf die Anhöhe gebracht war, ihm gegen über stand. – Um dieselbe Zeit stand auch der Schafhirt wieder an dem Bergabhange, seine Thiere zu weiden. Sein erster Blick war in das Thal hinab gewesen, und aus seinen Augen glühte ein begeistert freudiges Feuer, als er die zahlreichen Geschütze und Munitionswagen im Thale aufgefahren sah und aus den großen Massen Reiterei erkannte, daß es noch nicht gelungen war, diese den Berg hinauszuschaffen.

„Teufel!“ rief es unwillkürlich in ihm. „Wenn er den Weg wüßte, der auf jene Höhe führt! Er selbst wird ihn nimmer finden, es kennen ihn überhaupt nur Wenige und vielleicht Niemand so genau als ich. Er sieht nicht aus, als ob es möglich wäre, ihn zu passiren, und doch bin ich selbst früher mehr als einmal auf ihm geritten.“

Wieder kam der Mann, der ihn am Tage zuvor überrascht hatte, vom Berge herab zu ihm.

„Ihr sagtet gestern, daß Ihr nach Naumburg wolltet? “ fragte Born.

„Das war allerdings meine Absicht, alle Wege sind indeß so gut wie versperrt, es ist fast unmöglich hindurch zu kommen. Ich habe übrigens gestern noch ein gutes Geschäft gemacht, von dem ich schon eine Zeit lang leben kann. Schaut!“ fügte er hinzu, indem er einen Geldbeutel empor hielt, in welchem mehrere Goldstücke glänzten. „Seht, es sind jetzt schlechte Zeiten, Handel und Arbeit stocken, es hält schwer, Geld zu verdienen, und man weiß noch nicht, welche Schicksale uns bevorstehen. Mit diesem Gelde will ich wieder einen kleinen Handel beginnen. Hört, wie ich mir das ausgesonnen habe.“

„Ich versteh’ von Euerem Handel nichts, und es geht mich auch nichts an,“ unterbrach ihn der Hirt, der mit diesem Menschen nicht länger Etwas zu schaffen haben mochte.

„Nun, was habt Ihr?“ fragte Sielert beruhigend. „Ich habe Euch dazu nöthig – hört mich ruhig an. Seht, den Landgrafenberg und die ganze Höhe dort haben die französischen Fußvölker besetzt, wie Katzen sind sie den Berg hinaufgeklettert. Da oben giebt’s wenig, wie Ihr wißt, es traut sich auch Niemand zu den Franzosen; ich fürchte sie nicht. Nun möchte ich gern mit einem kleinen Wagen Wein und Bier dorthinauf schaffen, man wird es mir gut bezahlen, aber wie soll’s hinaufkommen? Seht, Born, ich schenke Euch eins von diesen Goldstücken, wenn Ihr mir den Weg zeigt, von dem Ihr gestern spracht. Wollt Ihr?“

Mit steigender Spannung hatte Born ihm zugehört, forschend ruhte sein Auge auf seinem Gesichte.

„Ich soll Euch den Weg zeigen?“ rief er. „An die Feinde wollt Ihr ihn verrathen!“

Sielert lächelte verschmitzt. „Seid kein Thor, Born! Und wenn dies nun wirklich meine Absicht wäre? He! Kommt, wir wollen das Geschäft zusammen machen, ich unterhandle mit den Franzosen, ich stelle eine Forderung und ich verspreche Euch, daß sie uns soviel geben sollen, daß Keiner von uns Beiden in seinem Leben wieder zu arbeiten braucht.“

Des Hirten Wangen hatten sich geröthet, die Adern auf seiner Stirn waren angeschwollen, in seinem Innern gährte ein Unwetter, aber noch brach es nicht los.

„Nun sprecht, Born,“ drängte Sielert.

„Ich – ich soll den verd – Franzosen den Weg verrathen?“ rief Born, der noch immer nicht Luft für seinen Zorn bekommen konnte.

„Nun weshalb nicht, wenn es gut bezahlt wird? und dafür sich’ ich!“

„Schuft!“ unterbrach ihn der Hirt heftig, indem er ihn an der Brust erfaßte. „Schuft Du! Mein eigenes Vaterland, das Leben meiner Söhne soll ich für Geld verrathen? Da, fahr hin!“ und mit überlegener Kraft, trotz seines Alters, stieß er ihn den Abhang hinab.

Mehrere Male stürzte der Verräther kopflings über, dann raffte er sich auf und drang wuthschäumend auf den Alten ein. Dieser hatte seinen Schäferstab erhoben und sah nicht aus, als ob er zögern werde zuzuschlagen. Sielert wagte sich nicht an ihn heran. „Das sollt Ihr büßen!“ rief er wüthend und eilte den Berg hinab.

„Denk an Dein eigen Leben, das endet am Galgen!“ rief ihm der Alte nach.

Sein einfach schlichter Sinn vermochte solche Schändlichkeit nicht zu fassen. Er setzte sich nieder und stützte das Haupt auf die Hand. Wie war es möglich, daß Jemand an seinem eigenen Vaterlande zum Verräther werden konnte? Er dachte seiner Söhne, seiner Tochter und Frau. Seit langer Zeit hatte er sie nicht gesehen. Noch waren sie ungefährdet, denn jenseits der Saale erblickte er noch keine Feinde, die dortigen Höhen waren noch frei. Aber was sollte aus ihnen Allen werden, wenn die Franzosen wirklich siegten? Es konnte und durfte nicht sein!

Länger denn eine Stunde hatte er sinnend dagesessen. Nahende Schritte schreckten ihn auf. Mehrere französische Soldaten näherten sich ihm. Da erblickte er auch Sielert in einiger Entfernung. Eine bange Ahnung stieg in ihm auf. Erschreckt sprang er auf. Sollte er fliehen? Seine alten Beine würden ihn nicht weit getragen haben. Sollte er sich zur Wehr setzen? Fest, fast krampfhaft erfaßte er seinen Stab – auch dies wäre Thorheit gewesen! Scheinbar ruhig blieb er stehen. Die Soldaten traten heran, und einer von ihnen forderte ihn in gebrochenem Deutsch auf, ihnen zu folgen.

„Wohin?“ fragte Born, dessen Ruhe und Fassung zum großen Theile zurückgekehrt waren.

„Zum Marschall,“ lautete die Antwort.

[235] Born zögerte. Was wollte man von ihm? Sollte seine Befürchtung wirklich wahr sein?“

„Hat Euch Der hieher geführt?“ fragte er weiter, auf Sielert zeigend. Seine Frage wurde bejaht. Jetzt war kein Zweifel mehr – er sollte den geheimen Weg verrathen. Ihm schwindelte fast. Sollte er sich weigern zu folgen? Sein Arm war noch kräftig! – Es war Thorheit! – Schweigend mit ahnungsvoll bangem Herzen folgte er den Soldaten. Rasch schritten sie die Anhöhe hinauf. Sielert wartete auf sie, bis sie ihn eingeholt, dann ging er mit ihnen.

„Ich habe versprochen, daß ich Euch heimzahlen will,“ sprach er zu Born. „Man wird Euch den Mund schon öffnen, um den Weg zu erfahren!“

Der Alte schwieg, er hörte diese Worte kaum. Eine innere Stimme rief ihm zu: „Dies ist ein schwerer Gang für Dich! Nenne den Weg, oder Du stürzest Dich und die Deinen in’s Unglück! Nenne ihn, ehe man Dich durch Gewalt und Härte dazu zwingt!“ – Und er selbst sagte sich dann wieder: „Man kann Dich nicht zwingen! Die Gewalt kann Dir den Mund öffnen, aber nicht das Geheimniß aus Deiner Brust herausholen!“

Als er den Landgrafenberg erstiegen, führten ihn die Soldaten in das Hauptquartier vor den Marschall Lannes selbst. Dieser ließ einen Augenblick sein Auge forschend auf ihm ruhen und fragte ihn dann, ob er, wie er zu Sielert gesagt, einen Weg auf diese Anhöhe wisse, auf dem Pferde und Geschütze hinaufgeschafft werden könnten.

„Ja,“ sprach Born ruhig.

„So zeigt ihn uns, und Ihr sollt eine reichere Belohnung haben, als Ihr ahnt.“

Born schwieg. In ihm stürmte und wogte es. Er durfte nicht zum Verräther werden!

„Wollt Ihr uns den Weg zeigen?“

„Nein!“ erwiderte der Hirt bestimmt. „Ich würde schlecht gegen meine Landsleute handeln!“

„Ihr wollt also nicht?“ rief der Marschall. „Glaubt Ihr, daß wir nicht auch ohne Euch den Weg finden werden? Es liegt mir nur daran, ihn heute noch zu erfahren.“

„Ich verrathe ihn nicht,“ entgegnete Born.

„Ihr wollt nicht?“ fuhr der Franzose auf. „Ihr wagt mir zu trotzen? Glaubt Ihr, daß ich Euch nicht zwingen kann?“

„Mich kann Niemand dazu zwingen.“

„Nicht? Ich werde Dir’s zeigen! Nicht von Deinem Willen soll der Ausgang einer ganzen Schlacht abhängen! Du erhältst eine reiche Belohnung, wenn Du uns den Weg zeigst – weigerst Du Dich – so stirbst Du! Nun entscheide Dich!“

Born schwieg.

„Es ist mein Ernst! Du stirbst, wenn Du mir zu trotzen wagst!“

Das Gesicht des Alten war merklich blässer geworden. Er zitterte leise, und einen Augenblick lang drohten seine Kniee zusammen zu brechen – er dachte an sein Weib und seine Kinder – dann erlangte er seine volle Fassung wieder und sprach fest: „Ich bin kein Verräther!“

„Du willst nicht?“ rief der Marschall heftig.

„Nein!“

„Führt ihn fort!“ befahl der Marschall in heftigster Aufregung einem Officier. „Führt ihn fort! Gebt ihm noch eine halbe Stunde Zeit zum Besinnen, und wenn er dann noch zu trotzen wagt, so laßt ihn erschießen!“

Er wandte sich ab, und Born wurde fortgeführt. Vergebens trat Sielert, dem durch des Alten Tod ein Gewinn entging, zu ihm und suchte ihn zu bewegen, den Weg zu zeigen, nur seine Richtung zu bezeichnen. Vergebens suchte auch der Officier ihn zu bereden, Born schwieg. Mit gefesselten Händen wurde er an den Abhang der Anhöhe geführt. Vor seinen Augen luden drei Soldaten ihre Gewehre, er wandte sich ab. Eine halbe Stunde Zeit war ihm noch vergönnt, sich zu besinnen. Schweigend setzte er sich nieder und richtete den Blick starr in das Thal und auf die fernen Berghöhen. Seine Wangen waren bleich. Welche Gefühle mußten in ihm vorgehen! – Eine Thräne trat in sein Auge – er drängte sie zurück.

Die gegebene Frist war beendet. Der Officier trat zu ihm und fragte, ob er den Weg zeigen wolle. Er antwortete nur mit einem Schütteln seines Kopfes. – Die Augen wurden ihm verbunden, er wurde an einen Baum gestellt, und die Soldaten traten zum Schusse an. Nochmals wiederholte der Officier die Frage, ja zum dritten Male, als der Hirt aber auch jetzt noch verneinend das Haupt schüttelte, erschallte das Commando: „Feuer!“ Drei Schüsse hallten zugleich an den gegenüberliegenden Bergen wider, und ohne einen Laut sank der Hirt zusammen. Er war gut getroffen, keine Muskel seines Gesichtes zuckte mehr. Die Soldaten ließen den Leichnam liegen, es war ja Krieg, bis er zwei Tage später mit Hunderten von Preußen und Franzosen gemeinsam in die Erde gebettet wurde. Kein Geschichtsbuch enthält diesen Heldentod eines einfach schlichten Schafhirten! – – nur einzelne Landleute in der Gegend von Jena wissen noch davon zu erzählen.

Napoleon erschien selbst wieder auf dem Gipfel des Landgrafenberges, unwillig über die unüberwindlichen Schwierigkeiten, welche diese steilen Bergabhänge für seine Reiterei und Geschütze darboten. Da trat ein Officier zu ihm und meldete ihm, daß in einem Wirthshause in Jena, in dem an der Saale gelegenen Geleitshause, ein Prediger aus Wenigen-Jena die Aeußerung gethan habe, es gebe einen Weg, um Pferde und Geschütze auf die Anhöhe zu schaffen, er selbst kenne ihn. Sofort gab der Kaiser Befehl, den Prediger zu verhaften und zu ihm zu führen, und nicht eine Stunde war vergangen, so stand der erschrockene Prediger vor ihm. Unvorsichtig hatte er gegen einen Bekannten die Aeußerung gethan, welche der Officier zufällig gehört hatte.

Er war bleich, zitterte und vermochte vor Angst kaum ein Wort hervorzubringen, als der Kaiser ihn aufforderte, den Weg zu zeigen. Er besaß nicht den Muth und die Kraft, sich zu weigern. Von einem Officier geführt, von dem Kaiser selbst und einigen höheren Officieren begleitet, zeigte er ihnen den Weg, der durch das von einem Gießbache durchströmte, von Felsen beengte und mit Wald bewachsene Rauthal führt. Das Bett des Baches bildete den Weg, und mit scharfem Auge erkannte Napoleon die Möglichkeit, auf ihm seine Geschütze auf die Anhöhe zu führen. Zwar mußten hier und dort Bäume gefällt und den Weg allzusehr beengende Felsen gesprengt werden, allein diese Schwierigkeiten ließen sich überwinden, und sofort ertheilte er den Befehl, das Werk mit allen Kräften zu beginnen, um den Weg fahrbar herzustellen.

Der Prediger, der ohne bösen Willen und durch Unvorsichtigkeit und Schwachheit diesen Weg verrathen, wurde bis zum folgenden Morgen auf dem Landgrafenberge zurückgehalten. Eine als Belohnung angebotene Geldsumme schlug er aus. Mit unendlichen Mühen wurde der einzig mögliche Weg durch dieses Thal fahrbar gemacht. Um acht Uhr Abends war er fertig, und mit denselben Mühen wurden nun die Pferde und Kanonen auf ihm hinausgeschafft. Napoleon selbst führte die Aufsicht und legte mit Hand an, um seine Soldaten anzufeuern. Halb getragen, halb gezogen, waren gegen Morgen die meisten der Geschütze auf die Anhöhe gebracht. Nun erst legte sich der Kaiser, in seinen Mantel gehüllt, für kurze Zeit auf dem Gipfel des Landgrafenberges nieder.

Der Morgen des 14. October war neblig und naßkalt. Ehe der Nebel verschwand, stand das französische Heer zum Kampfe geordnet da, während die Preußen in der festen Zuversicht, daß dieser Tag ein Ruhetag sein werde, und durch einen Brief Napoleons an den König von Preußen im Glauben eines Waffenstillstandes befestigt, sich der größten Ruhe überließen. Erst als die Sonnenstrahlen den Nebel scheuchten, als ihre angegriffenen und zurückgeworfenen Vorposten Alarm schlugen, wurden sie gewahr, daß Napoleon ihnen eine Schlacht bot. – Die Schlacht von Jena war in diesem Augenblicke fast schon entschieden. – Wie mag dem Manne, der den Weg durch das Rauthal verrathen, das Herz geschlagen haben, als die erste Kunde von der verlorenen Schlacht sein Ohr traf!

Nun – auch er ist längst todt wie der Schafhirt. Ob auch er so ruhig wie dieser gestorben, wer weiß es? So schön war sein Tod sicher nicht! – –

Fr. Fr.