Aus den Zeiten der schweren Noth/Nach der Schlacht von Jena

Textdaten
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Autor: Karl Chop
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Titel: Nach der Schlacht von Jena
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 197–200
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nach der Schlacht von Jena.

In allen Tiefen des welligen Hügellandes, welches von der bekannten Inschrift am Dome zu Erfurt als das glückliche Thüringen bezeichnet wird, hatte am frühen Morgen des 14. October 1806 ein bleigrauer, undurchdringlicher Herbstnebel gelegen. Seine schweren Massen waren dann unheimlich träge an den Abhängen der Hainleite wie des Steigers, des Hainichs wie des Unstrutgebirges emporgekrochen und hatten sie endlich überfluthet. Aber die höher und höher emporsteigende Sonne wurde ihrer dennoch Meister. Der finstere Gesell war in den Mittagsstunden schon völlig verschwunden, man wußte nicht wohin, und über unser schönes Land breitete sich nun überall die goldene Herrlichkeit eines sonnenklaren Herbsttages, der am weiten Himmel kaum ein einziges Wölkchen erblicken ließ. Und dennoch wollte es den Schaaren der Landleute, die an diesem Tage, mit ihren Einkäufen vom Jahrmarkte des Schwarzburgischen Fleckens Schernberg heimkehrend, hoch oben am Rande der Hainleite dahin schritten, fast bedünken, als ob es da drüben nach Südost hin donnere. Namentlich an der Schernberger Holzecke, wo man frei über die Tiefen bis zum Thüringer Walde hinüber blicken kann, bildeten sich dichte Gruppen von Landleuten, die mit verwundertem Kopfschütteln dort hinüber in die Ferne sahen, wo der Ettersberg bei Weimar sich mit seinem langgezogenen Rücken hoch über das Hügelland erhebt. Etwa von dort herüber kam in kurzen Pausen jener seltsame dumpfe Ton, jetzt in einzelnen Stößen und dann wieder lang hinrollend, der das Staunen unserer wetterkundigsten Bauern erregte. Wunderbar, daß an solchem Tage sich ein Gewitter in so mächtigen Schlägen entladen konnte! Wohl war es ein furchtbares Wetter, das an jenem unheimlichen Nebelmorgen an den Bergen von Jena und Auerstädt begonnen hatte und jetzt dort drüben bei Capellendorf zu Ende ging, ein Wetter, unter dessen gewaltigen Streichen ein ganzes mächtiges Königreich, von Friedrich dem Großen aufgebaut, und von ganz Europa gefürchtet, in Trümmer geschlagen wurde. Auch jene ahnungslosen Landleute sollten bald genug zu ihrem jähen Schrecken den Sturm, der jenem Völkergewitter auf dem Fuße nachfolgte, über ihre eigenen unglücklichen Häupter dahin brausen, ihr bescheidenes Glück in seinen Grundfesten erschüttern sehen.

Die unglückliche Schlacht von Auerstädt war geschlagen worden, und unser Fürstenthum gerieth in die traurige Lage, eine besiegte und aufgelöste preußische Armee und die verfolgenden übermüthigen und rücksichtslosen Feinde durch seine Fluren rücken zu sehen.

Der König ritt die ganze Nacht hindurch querfeldein bis Sömmerda, wo er Mittwochs am 15. October gegen 7 Uhr Morgens anlangte und im Pfarrhause abstieg. Nach allen überstandenen persönlichen Gefahren durfte er jetzt mit Recht sich und Blücher Glück wünschen, daß sie so durchgekommen seien. Erst hier gönnte der erschöpfte Herrscher sich und seinen Truppen eine kurze Rast. Von hier aus schrieb er auch an Napoleon die Antwort auf dessen Brief, der ihm noch am 12. October von Gera aus den Frieden geboten hatte, unglücklicher Weise aber zu spät nach schon begonnener Schlacht in die Hände des Königs gelangt war.

Schon Mittwochs, am 15. October, hatten einzelne besonders schnellfüßige Flüchtlinge der geschlagenen Armee Greußen, die südlichste Stadt in der Unterherrschaft des Fürstenthums Schwarzburg-Sondershausen, erreicht. Bald häuften sich ihre Schaaren, und endlich strömten sie unaufhörlich und in dichten Massen die Nacht hindurch und während des ganzen folgenden Morgens durch die Straßen der kleinen Stadt. Aber die Verfolger waren ihnen auch schon dicht genug auf den Fersen. Denn an demselben Vormittage schon sprengten plötzlich zehn französische Husaren, die sich offenbar von ihrem Regimente verirrt hatten, zum Thore herein. Obwohl noch in vielen Häusern in und um Greußen herum Preußen in großer Zahl lagen, wagten es jene kecken Reiter doch, vor dem Rathhause zu halten und von der erschreckten Stadt eine Brandschatzung von hundert Carolin zu erheben. Dann ritten sie im Galopp wieder davon, und sehr zur rechten Stunde, denn gleich nach ihnen traf eine ganze wohlgeordnete Schwadron preußischer Dragoner vom Regimente Königin Louise ein, die mit den frechen Patronen wohl übel umgesprungen wären, wenn sie nur einige Momente früher in dem Orte eingetroffen wären. Einige unschädliche Schüsse, die zwischen diesen Husaren und einzelnen muthigen Preußen gewechselt wurden, gaben übrigens Veranlassung zu einer ebenso komischen wie wohlverbürgten Scene. Die alte, aber noch sehr resolute Frau Messerschmidt, die nicht blos in ihrem Hauswesen, sondern auch in der Stadt auf Ordnung sah, trat bei dem Knallen der Gewehre mit zornig in die Seite gestemmten Händen in die Hausthür und schalt die Fechtenden im besten Greußener Dialect aus. Sie nannte die Kämpfenden „gonz und gor nich geschüt“ und hielt ihnen alles Ernstes vor, daß es polizeilich verboten sei, in der Stadt zu schießen.

Am Mittag desselben Tages, also Donnerstag, den 16. October, traf endlich die Nachhut des preußischen Heeres unter der Führung des Generallieutenant von Kalkreuth, der schon von Auerstädt an den Rückzug gedeckt hatte, in Greußen ein. Bei diesen Truppen befanden sich auch die Reste der königlichen Garde, welche hinter der nahegelegenen Steinfurthsmühle auf Zeit rasteten.

Wenn Sternickel, der Chronist von Greußen, behauptet, daß auch der König selbst bei dieser Truppe gewesen sei, so beruht dies auf einem Irrthum und einer Verwechselung mit dem Prinzen August von Preußen. Friedrich Wilhelm der Dritte war allerdings an diesem Tage von Sömmerda her durch Weißensee gekommen, allein eine Stunde früher, als die Franzosen dort anlangten, während Prinz August, Kalkreuth und Blücher sehr unangenehm überrascht waren, bei ihrer Ankunft Weißensee schon von den Franzosen besetzt zu finden. Als Kalkreuth bei Greußen gegen Blücher wiederholt von Capitulation sprach, gedachte er nur der Verantwortung für die Garden und den königlichen Prinzen und nicht des Königs. Letzterer, der zwei Stunden voraus hatte und über raschere Transportmittel verfügte, war sicher früher in Sondershausen, als seine Nachhut nach Greußen gelangte, und dies wird mir in Wahrheit durch einen Augenzeugen, den fürstlichen Mundschenk Kobert, bestätigt.

Die Verfolgung der hierher fliehenden preußischen Truppen lag dem Marschall Soult ob. Zu seinem Corps gehörten die französischen Generale Lasalle und Klein, welche Weißensee schon vor der Ankunft Kalkreuth’s besetzt hatten und sich von Blücher und Massenbach vielleicht recht gern durch die Vorspiegelung eines Waffenstillstandes täuschen ließen, da sie allein ohne Soult den Preußen nicht gewachsen waren.

[198] Auch der Generallieutenant von Kalkreuth versuchte bei Greußen zunächst dieselbe Kriegslist anzuwenden, um den Feind aufzuhalten und die Flucht des Königs möglichst zu sichern. Da aber Soult bei einer Unterredung auf dem Hengstberge, etwa eine halbe Wegstunde von Greußen, an welcher auch Blücher theilnahm, klugerweise nicht an einen Waffenstillstand glauben mochte, sondern schroff Streckung der Waffen verlangte, während Blücher durchaus nichts von Capitulation hören mochte, so traf Kalkreuth alsbald Maßnahmen, die leicht hätten zur völligen Verwüstung der Stadt führen können.

Greußen liegt in einer von Westen nach Osten gestreckten, aber schmalen Ebene, welche von mehreren Armen der Helbe durchströmt wird. Südlich von [198] Greußen, dicht hinter der nach Weißensee hinabfließenden sogenannten sächsischen Helbe steigt eine leichte wellenförmige Anhöhe, welche dicht bei Greußen der Warthügel genannt wird, etwas über fünfzig Fuß hoch empor. Von dort her nahte der Feind, und hier stellte der preußische General am Wasser entlang, rings von Weidenbäumen und Dämmen gedeckt, die braven Weimarschen Jäger auf, um den ersten Anprall des Feindes aufzuhalten.

Auf der nördlichen Seite, dicht hinter der erwähnten Steinfurthsmühle, grenzt jene Ebene dagegen an den äußersten Fuß der Hainleite, die sich im Possen bei Sondershausen gegen neunhundert Fuß über das Pflaster von Greußen erhebt, um dann wieder stark zum Wipperthale hinabzufallen. Dorthin über die meilenlange, allmählich aufsteigende Höhe, durch die Dörfer Ober- und Niedertopfstedt, Westerengel, Kirchengel und Oberspier nach Sondershausen hin mußte der Rückzug dieser Nachhut genommen werden. Auf dem Abhange dieses Berges stellte Kalkreuth die rasch noch einmal gesammelte Hauptmenge seiner Truppen in einer langen Linie auf, welche von Greußen bis Grüningen reichte und dort namentlich den von Ottenhausen her anrückenden Franzosen gegenüber durch eine halbe reitende Batterie gedeckt wurde. Greußen selbst lag hiernach zwischen den Verfolgten.

Nachmittags halb vier Uhr begann das mit Kleingewehr und Geschütz geführte Gefecht und endete erst Abends halb acht Uhr mit dem Rückzuge der vor der gewaltigen Uebermacht weichenden Preußen. Dieser vierstündige Aufenthalt hatte genügt, um den schon vorausgeeilten König vor seinen Verfolgern in volle Sicherheit zu bringen.

Den Bewohnern von Greußen standen die schwersten Drangsale bevor. Der Flucht der letzten Preußen war eine kurze, bange Stille gefolgt, dann aber rückte der Feind ein, und, wie der Chronist Sternickel mehr kühn, als correct sagt, „es ertönte nun aus mehreren tausend Kehlen das furchtbare Einrücken der Franzosen“. Die zuchtlosen Kriegsvölker wälzten sich wie eine Sturmfluth fluchend und brüllend durch die Straßen. Sie begannen sofort die Thüren einzuschlagen, strömten in die Häuser, mißhandelten in der abscheulichsten Weise Männer und vor Allem Frauen und Mädchen, erbrachen in Stube und Kammer, im Keller wie auf dem Boden alle Schränke, Kisten und Kasten und raubten, was ihnen nur irgend von Werth schien.

Da die Soldaten hierbei mit brennenden Lichtern in der Hand, vom Weine und Branntweine trunken, auch in gefüllte Scheuern und Ställe drangen, so entstand gegen Mitternacht in der Altstadt Feuer, das beim Mangel rettender und helfender Hände bis gegen Mittag des folgenden Tages fortwüthete und eine Reihe von Häusern in Asche legte. Dabei aber dauerten die Gewaltthaten und Räubereien selbst in den kleinsten und ärmsten Häusern ungestört fort.

Auch in dem Dorf Wasserthaleben, das, wie Greußen, an der Helbe und nur etwa eine Stunde weiter nach Westen und thalaufwärts liegt, erschienen Beute machende Franzosen. Pastor Zahn glaubte zu jener Zeit noch an den unter allen Umständen höflichen Charakter der Franzosen. Er trat ihnen mit einigen bewillkommnenden Redensarten entgegen, wurde aber auch sofort über seinen Irrthum belehrt. Denn statt seine Höflichkeit zu erwidern, packten sie den würdigen Mann am Halse, drängten ihn in die Stube und nöthigten ihn dann unter schweren Drohungen, alles irgend Wertvolle herauszugeben. Auch hier standen den Plünderern vor Allem Geld, Schmucksachen und Kleider an, aber sie nahmen auch die im Hause verwahrten Altargeräthe an Kelchen und Hostienbehältern an sich und waren eben im besten Suchen nach weiteren Schätzen begriffen, als es dem Pastor glücklich gelang, ihnen zu entwischen und durch ein Fenster in das Freie zu entkommen. Er lief sogleich zum Amtsverwalter Böttcher, dem dortigen Domänenpächter, und theilte ihm seine Bedrängniß mit. Dieser, ein riesenstarker und beherzter Mann, war sofort zur Hülfe bereit. Er rief schleunig seine Knechte und Schäfer zusammen und stürmte mit ihnen in das Pfarrhaus hinüber, während zugleich der Flurschütze, durch das Dorf eilend, sein „Mannschaften heraus!“ vor jedem Hause schrie.

Die plündernde Rotte war bald genug entwaffnet und mit einigen derben Püffen und Knuffen aus dem Dorfe gejagt. Die Geflüchteten ließen aber die Schmach nicht auf sich sitzen, sondern riefen rasch ganze Schaaren ihrer vorbeiziehenden Cameraden zur Hülfe herbei, und jetzt wandte sich plötzlich das Blatt. Die Franzosen zogen unter unaufhörlichem Feuern in das Dorf; alle männlichen Einwohner mußten flüchten, und nichts Werthvolles wurde verschmäht.

Der König war, wie oben erwähnt wurde, der Nachhut seines Heeres um mehrere Stunden vorangeeilt und an jenem 16. October schon Vormittags, also früher nach Sondershausen gelangt, als jene nach Greußen kam. Er ließ auf dem Marktplatze halten und stieg aus, aber nicht, um auf das Schloß des Fürsten zu gehen, da dies die dringliche Eile nicht gestattete. Er begab sich vielmehr sofort in das Bertram’sche Haus am Markte und erbat sich hier von der Frau des Oekonomen Tölle Wasser zum Waschen und ein Hemd. Während er noch mit der Toilette beschäftigt war, kam Fürst Günther Friedrich Karl der Erste von Schwarzburg-Sondershausen vom [199] Schlosse herab, um den flüchtigen Gast zu begrüßen. Den hochherzigen Fürsten schreckte die Gefahr, in die er sich hierdurch den rachsüchtigen Franzosen gegenüber begab, durchaus nicht. Jedenfalls empfand er wohl, daß ihn die Neutralität seines Fürstenthums nicht der nationalen Pflichten gegen den König des mächtigsten deutschen Staates überhob. An Stelle der müden Pferde, welche den König hierher gebracht hatten, ließ der Fürst sofort und ohne Bedenken sechs feurige Rosse aus seinem Marstalle spannen, und dann fuhr Friedrich Wilke, ein gewandter Vorreiter, voraus, beim jetzigen Palais und darauf beim Fischerhause vorüber zur Stadt hinaus und in der Richtung nach Nordhausen weiter. Jener ungewöhnliche Weg mußte gewählt werden, weil alle Straßen [199] durch flüchtige Soldaten und Wagen überfüllt waren. Eine Rettung des Königs im engsten Sinne des Wortes lag allerdings in der Handlung des Fürsten von Sondershausen nicht, denn das todmüde Armeecorps des Marschalls Soult blieb an diesem Abende nach dem bestandenen Gefechte bei Greußen liegen. Aber immerhin gebot die allgemeine Unsicherheit der Wege, welche schon durch jene versprengten Husaren in Greußen deutlich bekundet ward, die möglichste Eile, und gewiß entsprang die rasch entschlossene Hülfe aus einem edlen, muthigen und uneigennützigen Herzen.

Es ist für jene Zeiten charakteristisch, daß sich die Bürger von Sondershausen trotz alledem vor den Franzosen selbst sicher glaubten. „Sie können nicht durch das ‚Geschling‘,“ sagte man sich allgemein zum Troste. Und warum nicht? Weil in jenem Thale, durch welches jetzt die Chaussee und Eisenbahn nach Greußen und Erfurt führt, damals die Wege meist so grundlos waren, daß mancher Reisende Bedenken trug, dort hindurch zu fahren. Die Sondershausener hielten sich also, da sich die Neutralität nicht bewährt hatte, wenigstens durch jenen Schmutz für völlig gesichert. Am späten Abende des 16. Octobers langten auch die Flüchtlinge von Greußen in der Umgegend von Sondershausen an. Die Reste der Garde bekamen ihr Quartier in der Stadt und füllten alle Häuser. Sie mochten weder essen noch trinken, sondern nur schlafen, schlafen. Aber nach höchstens zwei Stunden wurden sie von der Alarmtrommel schon wieder geweckt, und schlaftrunken und vor Uebermüdung taumelnd mußten sie zum Abmarsche antreten.

Am folgenden Morgen, Freitag den 17. October, waren die letzten hundert Preußen, welche sich in der Neustadt oberhalb der Karngasse nothdürftig geordnet hatten, kaum abgezogen, als einige in die Stadt sprengende feindliche Chasseurs den Sondershausenern bereits die sichere Kunde brachten, daß der bewußte Schmutz im ‚Geschling‘ die Franzosen nicht vom Kommen abgehalten habe.

Gleich darauf quollen die zügellosen Schaaren, die von Greußen mit dem ersten Tagesgrauen aufgebrochen waren, von allen Enden zugleich in die friedliche Hauptstadt des neutralen Fürstenthums, und nun begannen hier dieselben Scenen, die ich schon oben geschildert habe. Mein Urgroßvater, der als Religionsschriftsteller bekannte Kirchenrath Cannabich, der Vater des Geographen, dachte gleichfalls das höflichste Volk der Welt durch einen freundlichen Empfang bezähmen zu können, mußte aber, gleich dem Pastor Zahn in Wasserthaleben, erfahren, wie es mit jener Höflichkeit bestellt sei. In einem Augenblicke seiner Uhr und, wenn ich nicht irre, auch seiner silbernen Schuhschnallen beraubt, flüchtete er eilig in seine Studirstube zurück. Eine kleine Summe in Geld rettete mein Großvater glücklich im Tintefaß. Aehnlich ging es in allen Häusern zu. Plünderung und Gewaltthat herrschten überall und nur Wenige entgingen der völligen Beraubung. Zu ihnen gehörte mein anderer Großvater, der wohlbedacht selbst alle Thüren seiner Wohnung und die Kästen aller Schränke weit öffnete und so bewirkte, daß die Plünderer nach einem flüchtigen Blicke in die Räume weiter eilten. Die Noth in der Stadt war übrigens schon gegen Mittag so groß, daß der erste Beamte des Fürstenthums, Geheimrath von Weise, zu dem meine Großmutter mit vielen anderen Frauen geflüchtet war, meinem damals fünfjährige Vater nicht einmal ein kleines Stück Brod für den ärgsten Hunger zu geben vermochte. Da nun Nachmittags noch die Schreckensnachricht auftauchte, die Stadt solle angezündet werden, so flohen viele Einwohner mit Weib und Kind in der Richtung nach Frankenhausen, kehrten aber sehr rasch wieder um, da sie auf Flüchtlinge aus allen östlich gelegenen Dörfern stießen und von ihnen erfuhren, daß es dort, wenn möglich, noch schlimmer hergehe, als in Sondershausen.

Der Marschall Soult selbst stieg auf dem Schlosse ab und wurde dort vom Fürsten so höflich empfangen und so gastlich bewirthet, daß er beim Abschiede den Fürsten recht dankbar und gerührt umarmte. Das hinderte aber den Marschall nicht, gleich nach seinem Abschiede sämmtliche achtzig Pferde des Fürsten, fast durchweg von edler Race, und unter ihnen die sechs Renner, die am Tage vorher den König gefahren hatten, aus dem Marstalle herausziehen zu lassen und mit sich zu nehmen, um so den freigebigen Wirth für seine edle Handlung noch recht empfindlich zu strafen.

Diese Scenen dauerten in Sondershausen, da den abziehenden Truppen immer neue beutegierige Schaaren folgten, bis Sonntag, den neunzehnten October, und ließen die kleine und arme Stadt völlig ausgeraubt. Erfahrene behaupten, daß sich unter den Dieben auch verrätherische Einwohner der Stadt befunden haben, von denen leider nur Einer auf dem hiesigen Vorwerk von einem Acte der Lynchjustiz ereilt wurde. Ich würde die Leser zu ermüden fürchten, wenn ich ihnen noch speciell erzählen wollte, daß an demselben Freitag, an welchem die Franzosen in Sondershausen anlangten, noch ein Gefecht mit der über Nordhausen abrückenden preußischen Nachhut bei letzterer Stadt stattfand, in welchem die Franzosen noch viele Gefangene machten und dem dann in Nordhausen dieselben Gräuelscenen folgten, die ich schon zur Genüge beschrieben habe.

Es leben jetzt nur noch wenige Augenzeugen jener Tage in Sondershausen und ihnen verdanke ich diese durchweg glaubhaften [200] Mittheilungen. Mögen diese Darstellungen wenigstens den Nutzen haben, selbstsüchtige Seelen, die im Hinblick auf einen künftigen Revanchekrieg mit Frankreich vielleicht schon jetzt an eine erbärmliche, vaterlandslose Neutralität denken, darüber zu belehren, daß im Jahre des Unheils 1806 dieselbe Neutralität unserem Fürstenthum ebenso wenig genützt hat, wie durch dasselbe Mittel genau drei Wochen nach dem Unglückstage von Greußen, am sechsten November, die freie Hansestadt Lübeck der Besetzung durch Blücher und allen Gräueln der Erstürmung durch die Franzosen entging.

Sieben schwere Jahre voll von Kriegsdrangsalen und kaum erschwinglichen Contributionen folgten der Schlacht von Jena nach. So lange brauchte damals der deutsche Michel, bis er warm wurde und mit seinen kräftigen Armen die Feinde vor sich niederschlug, und dieses Warmmachen haben die Franzosen glücklicher Weise zu allen Zeiten redlich verstanden. Welches Volk hätte auf die Dauer Zustände ertragen können, bei denen zum Beispiel meinem Großvater bei seinem damaligen Einkommen von fünfhundert Thalern in einem einzigen Jahre die Einquartierung achthundert Thaler kostete?

Aber endlich im Jahre 1813 schlug die Stunde der Erlösung. Damals erst durfte es ein Bürger unserer Stadt, den seine Zeitgenossen unter dem seltsamen Namen „Keck Meister Eberhardt“ kannten und der nicht zehn Worte zu sprechen vermochte, ohne einmal zu sagen: „Ich setze den Fall“, wagen, die auf unserem Batzenhäuschen zechenden Franzosen mit den Worten von der Bank zu schieben: „Platz da! Ich setze den Fall, Ihr geltet nichts mehr.“

Uns Sondershausenern aber verblieben noch auf lange Jahre zwei Andenken an jene schwere Zeit. Das Eine war der wackere Lecharby in Jechaburg, der sein Regiment, die französischen Chasseurs à cheval, aus irgend welchen Gründen verlassen hatte, um sich hier eine friedliche Heimath zu gründen, und der als Sergeant der fürstlichen Grenadiergarde bis zum Tode des verstorbenen Fürsten seine „Schuldigkeit“ that. Das Andere ist ein prächtiger Schimmel von bester Race, den Friedrich Wilhelm der Dritte seinem Retter nach den Befreiungskriegen schenkte. Dieser ist noch jetzt ausgestopft auf dem fürstlichen Naturaliencabinet als ein stillberedtes Erinnerungszeichen fürstlicher Hochherzigkeit und königlichen Dankes zu sehen.[1]


K. Chop.



  1. Der in Sondershausen bis auf die neueste Zeit hier und da verbreitete Glaube, daß der König hier übernachtet habe und dann vom Fürsten selbst weiter gefahren worden sei, beruht nicht auf Wahrheit. Zunächst lag für den flüchtigen Monarchen wahrlich kein Motiv vor, nach einer Fahrt von höchstens acht Wegstunden schon wieder ein Nachtquartier zu machen; im Gegentheile drängte die ganze Sachlage und die gefährliche Nähe der Franzosen zur möglichsten Eile. Die wirklichen Zeitgenossen, wie Mundschenk Kobert hier und Herr Schulter in Nordhausen, wissen auch nichts von diesem Uebernachten, sondern behaupten, der König sei am 16. October gleich nach seiner Ankunft weitergefahren. Wie hätte der König, bei den damaligen Wegen über den Harz etc., schon am achtzehnten von Magdeburg abreisen können (Förster’s Geschichte, Band 1, Seite 789), wenn er erst am siebenzehnten von Sondershausen aufgebrochen wäre? Gelangte der Herrscher doch erst in der Nacht vom zwanzigsten auf weit bequemeren Wegen von Magdeburg nach Berlin und am einundzwanzigsten nach dem nahen Küstrin. Weshalb hätte ferner Fürst Hohenlohe am siebenzehnten von Nordhausen über die Ansammlung der Truppen brieflich berichten sollen (Förster, S. 797) wenn der König selbst am gleichen Tage durch Nordhausen gekommen wäre? Der Leibkutscher und spätere Stallinspector Schwendt, welcher den König fuhr, bedauerte übrigens später nach Wegführung der Pferde dem etc. Kobert gegenüber, daß er den König nicht bis Magdeburg weiter gefahren habe, da hierdurch seine Pferde vielleicht gerettet worden wären.