Aus den Tagen des Berliner Jubels
Bekanntlich galt schon den Alten der Freitag als ominös, und auch bei den neueren Völkern, germanischer, romanischer, slavischer Race, hegt man bis zur heutigen Stunde vor dem Freitage eine abergläubische Scheu. Man hält ihn für einen Tag des Unglücks, an welchem es nicht gerathen, irgend eine wichtige Handlung vorzunehmen, ein neues Werk zu beginnen, eine Reise anzutreten, einen Entschluß zu fassen und dergleichen mehr. Für das neue deutsche Reich hingegen und die neue deutsche Reichshauptstadt insonderheit scheint der Freitag in einen Tag günstigster Vorbedeutung, einen Tag höchsten Erfolgs und höchster Begeisterung, in einen epochemachenden Merk- und Marktag umgewandelt zu sein. Ein Freitag war es, der 15. Juli 1870, als König Wilhelm, vom Jubel der Nation umbraust, heimkehrte von Ems, um den ihm und in ihm dem deutschen Volke geflissentlich angethanen Schimpf mit muthigem Herzen und starkem Arme zu rächen. An einem andern Freitage, am 3. März des gegenwärtigen Jahres, schwamm die Residenz an der Spree in Lust und Lichterglanz, um den ruhmvoll erkämpften Frieden zu feiern. Ein dritter Freitag, der 17. März, sah Berlin in einem Enthusiasmus ohne Gleichen, denn sein greiser König betrat lorbeerbelastet zum ersten Male als Kaiser Deutschlands den angestammten Boden der heimathlichen Mark. Ein Freitag endlich war jener ewig denkwürdige 16. Juni, an dem Alldeutschlands Heere, als ein einig Volk von Brüdern, ihren Siegeseinzug hielten in die Hauptstadt des auf den französischen Schlachtfeldern neuaufgebauten Reiches.
Wir würden mehr als überlästig werden, wollten wir nach Monatsfrist noch einmal auftischen, was nahezu eine Million Festgenossen von nah und fern mit eigenen Augen geschaut und mit eigenen Ohren gehört und Hunderte von Blättern und Zeitungen des In- und Auslandes bereits bis zum Ueberdruß erzählt und beschrieben haben. Andrerseits jedoch ist der Tag ein zu viel bedeutsamer, ein für alle Zeiten zu unvergeßlicher gewesen, als daß man, nachdem der Festjubel verklungen und das gemeine Leben längst wieder in seine Rechte getreten ist, sich nicht an einen und den andern Moment jener überreichen Stunden gern von Neuem erinnern ließe. Ohnedem hat wohl jeder der Mitfeiernden seine besonderen Beobachtungen gemacht und seine besonderen Eindrücke empfangen, und diese verschiedenen Einzelbilder, Episoden, Scenen, Zwischenspiele sind den Facetten eines Steingeschmeides zu vergleichen. Durch sie erst empfängt das Gesammtgemälde seine Vollendung, sein rechtes, charakteristisches Licht, seinen hebenden Rahmen.
„Nun, was erklären Sie für die Krone des Ganzen?“ rief’s uns von einem Dutzend Stimmen entgegen, als wir uns, Einer nach dem Andern, todmüde an Leib und Seele von den Begebnissen und Wahrnehmungen der letzten zweimal vierundzwanzig Stunden, am gewohnten Abendtische in unserm ländlichen Sommersitze wieder einfanden. Allsogleich wurden die mannigfaltigsten Meinungen laut. Jeder hatte sich seine specielle Erinnerungsperle aus dem Oceane von Eindrücken herausgefischt und nach Hause getragen. Dieser schwärmte von den chignonlosen weißblauen Ehrengretchen und neidete dem jungen Berlin die Zukunft, welche an ihrer Seite seiner wartete. Jener fühlte sich gehoben von dem Bewußtsein, daß er Tausende von Schritten zwischen einem Spaliere von eroberten Kanonen gewandelt und daß mit solchem Reichthum der Trophäenschatz des Zeughauses doch noch lange nicht erschöpft war. Dem Dritten ist die majestätische und dabei so herzgewinnende Erscheinung des Kaisers selbst der Mittelpunkt alles Interesses gewesen und seine Augen haben sich nicht satt weiden können an dem prächtigen Weißbart, der, ein Vorbild germanischer Kraft und preußischer Straffheit, auf seinem schönen Trakehner Rosse so gerad’ und fest einhergeritten kam wie der jüngste seiner Ulanenofficiere. Einem Vierten liegt noch das Hurrah im Sinn und den Ohren, welches ringsum aus zehntausend Kehlen losbrach, als das erste Bataillon des Garde-Füsilierregiments, Berlins tapfere Söhne, die vielgeliebten „Maikäfer“, in Sicht kam und frischen Schritts und lachenden Mundes, als rücke es von Potsdam zur üblichen Maiparade ein, zwischen den kranzwerfenden Menschenhecken dahinmarschirte und unter Scherzen und Kalauern die natürlichen und künstlichen Lorbeerkronen auffing und an Helmen und Bajonneten befestigte. Dem Fünften hat es die Statuengruppe vor dem Potsdamer Thor angethan, – der kolossale Kanonenberg unter der hohen Victoria, mit seinen neun französischen Riesengeschützen und den sie umgebenden Tricoloren aus der Werkstatt des bekannten Thronausschlagers Hiltl, – und die beiden Standbilder Straßburg und Metz, in deren üppigen Formen er den Werth des wiedergewonnenen alten Reichslandes sinn- und geschmackvoll ausgedrückt findet. Der Sechste kann den Anblick der menschenerfüllten Tribünen nicht vergessen, der emporgestaffelten Damenterrassen mit den lichten Sommerkleidern und den bunten Sonnenschirmen als beweglichen heiteren Dächern darüber und hoch über dem farbenreichen Bilde den wolkenlosen blauen Himmel, welchen er als „ein günstig Zeichen“ nimmt für die Zukunft des neugeeinten Deutschland. Der Siebente erklärt dies Alles zwar für unbeschreiblich schön und imposant, – allein „die Linden“, meint er, „die Linden mit ihrem Ausschmuck, den Doppelsäulen je an den fünf Straßenübergängen und den künstlerisch gedachten und von Meisterhänden ausgeführten allegorischen Compositionen dazwischen, den ununterbrochenen Reihen von ersiegten Feuerschlünden, den lampionbehangenen Laubbalustraden, der wunderherrlichen Akademiefronte mit ihren Feldherrenportraits und Sinnversen, den decorirten Häuserfaçaden und auf den Trottoirs, in den Schauläden, an den Fenstern[WS 1], auf den Dachfirsten, auf den Schornsteinen,
[492][494] in den Zweigen der Bäume selbst dem Meere von Köpfen jauchzender und tücherschwenkender Menschen – das ist die Glorie der Glorie gewesen. Vor ihr müssen sich alle anderen Prospecte und Scenen neigen.“
Und so gehen die Meinungen weiter. In einem Punkte aber sind Alle einig: Nicht der äußere Glanz des Festes, so zauberhaft und sinneblendend dieser auch auf uns eindrang, ist es gewesen, was den mächtigen, unverlöschlichen Eindruck hinterlassen hat, sondern die ideale Bedeutung des Tages, und wenn sich von den zuschauenden Hunderttausenden auch so manche von dieser geistigen Tragweite nicht klare Rechenschaft gegeben haben mögen, – instinctiv empfunden hat sie gewiß die Mehrzahl der Versammelten. Wohl Jeder fühlte, daß das Fest Anderes und Höheres bedeute, als den solennen Einzug eines in mehr als zwanzig Schlachten siegreichen Heeres und dessen weltberühmter Führer. In den einrückenden Soldaten ehrte er nicht blos die lorbeerumkränzten Krieger, die erste Armee der Welt, er grüßte in ihnen seine Söhne und Brüder, seine Väter und Gatten, die, wie sie freudig Haus und Hof verlassen, das Vaterland vor dem ruchlosen Angreifer zu beschirmen, jetzt freudiger noch heimkehrten zur friedlichen Arbeit des Bürgers, von welcher sie feindlicher Frevelmuth jählings aufgescheucht hatte. Verschwunden war jeglicher Unterschied zwischen Volk und Heer. Wenige nur mochten sein, die sich nicht bewußt waren, daß der sechszehnte Juni die aus der Waffengenossenschaft erwachsene nationale Einheit besiegelte, Wenige, die ihrem Kaiser nicht entgegenjubelten, weil sie in ihm wie den Neuerbauer, des Reiches, so auch, seinem Worte vertrauend, den Mehrer von des Volkes Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung erblickten. Allen bezeichnete der Tag die feierliche Eröffnung einer neuen Aera, welche Deutschland an die Spitze der Staaten, die deutsche Nation zur Gebieterin der Erde emporhob.
Es war Mittwochs, als wir auf einem der nördlichen Bahnhöfe in der Kaiserstadt anlangten. Die Gegend lag weitab von der Triumphbahn, nicht ein einziger Mann der einziehenden Truppen wurde mit uns ausgeschifft, wohl aber Waggon auf Waggon voll pommerscher und mecklenburgscher Ochsen, die dem Feste zum Opfer fallen sollten – doch auch hier in dieser feierfernen Zone, wo dicht neben den Schläfern der Friedhöfe die Hämmer der großen Eisenwerke und Maschinenfabriken pochen, welche festliche Bewegung und Wandelung rundum! Wie wir selber, waren auch alle unsere Coupégenossen Festreisende, und nun auf dem Perron was für ein unendlicher Bewillkommnungsjubel! Wie frohgemuthet und rosiggelaunt zogen die Einen ab im Geleite der sie erwartenden Gastfreunde und Wirthe, wie bänglich und verlegen schauten in das ungewohnte Gewühl jene Anderen, welche sich keine Droschke und, schlimmer noch, vielleicht auch keine Stätte gesichert haben, wo sie für die nächsten zwei, drei Nächte ihre müden Häupter zur Ruhe legen können!
Die hohen Schlote der umstehenden Industriepaläste dampften wie immer, wie immer gingen die rußigen Cyklopen der Borsig und Wöhlert, der Hoppe und Engel zu den Thüren aus und ein, allein durch den schwarzen Kohlenqualm hindurch schlug’s uns wie Festluft entgegen, und siehe da! nach langer Abwesenheit kam in diesem winterlichen Sommer auch die liebe helle Sonne wieder einmal zum Vorscheine, ein Symbol von Kaiser Wilhelm’s sprüchwörtlichem Wetterglücke. Ueber Borsig’s gothischer Fabrikburg rauschte bereits ein Hain von schwarzweißen und schwarzweißrothen Bannern, unten in Nischen der Vorhalle schimmerten aus Tannengrün die Büsten der großen Staats- und Heereslenker hervor, beide Seiten der Straße faßte schon eine lange Zeile bebänderter Mastbäume ein, und überall war man beschäftigt, noch immer neue aufzupflanzen und durch Laubgewinde zu verbinden. Auch die Häuser selbst fingen bereits an ihr Festgewand umzuthun; ihre Eigener und Bewohner überboten sich in Ornamenten und Drapirungen, in Transparents und Illuminationsvorkehrungen, und wenn die Leistungen nicht allemal auf der Höhe der Kunst standen, wenn namentlich das perpetuirlich wiederkehrende Kaiserbildniß mit Krone und Hermelinmantel skatliche Erinnerungen an Eckern- oder Grünkönig erweckte, man erkannte die gute Absicht und ließ sich nicht verstimmen. Selbst daß einer der benachbarten Grundbesitzer seiner Festbegrüßung nicht anders Luft machen zu können glaubte, als indem er die Mauern seines Dominiums in orangerother Oelfarbe erglühen ließ, von der er soeben höchsteigenhändig die letzten Pinsellagen applicirte, nehmen wir auf, wie es gemeint ist: Alles zur größeren Ehre des Festtages ohne Gleichen.
Dazwischen welch Getümmel von Menschen aller Stände und Schichten! Der Strom stopft sich mehr und mehr und nur im langsamsten Tempo kann die ununterbrochene Wagencolonne noch vorwärts; zuletzt staut sich Alles, Menschen- und Kutschenfluth – wir nahen der eigentlichen Festbühne, der Promenade Unter den Linden! Welcher Wechsel erst hier seit den acht Tagen, daß wir den Berliner Lust- und Lieblingscorso nicht gesehen haben! Da ist Alles schon nichts mehr als Festvorfeier und Festvorbereitung vom gottlosen Standbilde des alten Fritz bis zum frommverschämten Mühlerkloster hinab. Selbst Adelheid hat sich zu den Aufklärern gesellt und sorgt dafür, daß helles Licht ausstrahle aus ihrem unbezwinglichen Malapartus der Finsterniß, obschon sie im Stillen vielleicht wehklagt: „Straße, wie wunderlich siehst du mir aus!“ und wahrnimmt, welche Hauptrolle bei dem Festausschmucke die Stadt den anstandsbaren Akademikern zuertheilt hat.
Mehr getragen als wandelnd, münden wir endlich in die Triumphstraße ein, und nun schauen auch wir mit staunenden Augen umher. Beschreiben aber, was wir sehen, wir können’s nicht: es ist einfach unbeschreiblich, weil sich das innere Leben, die Seele, welche all die überreiche Pracht verklärt und weiht, blos empfinden, nicht schwarz auf weiß wiedergeben läßt. Welche Lust, einzutauchen in diese Fluth lauterer Freude und Begeisterung, in die sich nicht der leiseste Mißklang, nicht der Schatten von Schuld und Unthat, nur das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht gegen das Vaterland und gerechten Sieges mischte! Welche Lust, in dem Strome festgestimmter Menschen umherzutreiben und den Eifer zu beobachten, mit welchem allenthalben die letzte Hand an die großartigen Feierveranstaltungen gelegt wurde! Wie viel aber blieb noch zu thun übrig in den anderthalb Tagen bis zum Morgen des Sechszehnten! Und wie unbegreiflich Schönes und Mannigfaltiges war doch in der kurzen Vorbereitungsfrist schon in’s Werk gerichtet! Man sah, daß das Herz bei der Sache gewesen war.
Gerade vor unserm vorläufigen Standpunkte, am Ausgange der Friedrichsstraße, ragen aus einem Menschenknäuel zwei schlanke Siegessäulen auf, blos Theatererz, Holz und Pappe, aber vollkommen monumentalen Eindrucks. Mit einem Male erschallt aus dem bunten Haufen heraus das kennzeichnende Schlagwort unserer Kriegs- und Siegesperiode, das Zuaven und Turcos erzittern gemacht hat und, nach dem Irokesen des Kladderadatsch, zur landüblichen Begrüßungsformel geworden ist. „Hurrah!“ riefen hundert Stimmen, „Hurrah!“ ging’s wieder und immer wieder – Ewald’s schönes Tableau ward zwischen den beiden Säulen aufgezogen, und mit sichtlicher Andacht las die jauchzende Menge die altdeutschen Lettern seiner Inschrift: „Allzeit Mehrer des deutschen Reichs, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“
„Amen!“ sprachen wir still vor uns hin. Möge des Kaisers Verheißung in Erfüllung gehen und diese der Preis sein der schwer erkämpften Siege. Dann nur ist das theure Blut unserer Helden nicht umsonst geflossen.
„Augen links!“ stießen wir den mit uns flanirenden Specialartisten der Gartenlaube an. „Die Akademie der Künste!“ Noch war die sinnige Decoration der langen Façade nicht vollendet, noch stand die plastische Gruppe des Mittelbaues vor der Normaluhr verhüllt, noch blieben rechts und links an der Fronte große graue Lücken, die nachher die Figurenportraits der beiden Hauptgründer der neuen Epoche aufnehmen sollten, die Medaillonbildnisse der Corpsführer jedoch und die Gestalten der fürstlichen Oberbefehlshaber glänzten in frischem Farbenglanze schon fix und fertig von der Mauer herab. Auch die Mehrzahl der historischen Compositionen, durch welche die verschiedenen Truppentheile in charakteristischen Scenen und Situationen veranschaulicht werden, bedeckte bereits die Zwischenpfeiler, – da reicht der preußische Ulan dem sächsischen Reiter vom Pferde herab die erbeutete Champagnerflasche; auf der andern Seite schwingt der Gardefüsilier die eroberte französische Fahne, während vor ihm der preußische Landwehrmann am Boden ausruht und im Hintergrunde badische Schützen auftauchen, und dort ganz zur Linken wälzen sich sterbende Turcos auf der blutgetränkten Erde zu Füßen preußischer Jäger und Artilleristen, die mit Hurrahruf die ersiegte feindliche Kanone [495] begrüßen, – über den herrlichen Totaleffect des von den bedeutendsten Mitgliedern der Berliner Künstlerzunft geschaffenen Ausschmucks konnte bereits kein Zweifel mehr sein. Vor dem permanenten Bewunderungsjubel, welcher aus den das Gebäude belagernden Volksmassen laut wurde, musste alle Kritik verstummen. Was wir bei den letzten ähnlichen Berliner Festen so befremdet und schmerzlich vermißt hatten, das künstlerische Element, – diesmal war es glänzend und unübertrefflich zur Geltung gelangt. Das in der Eile und blos zu ephemerer Zier Hergestellte, es trug den Stempel der Meisterschaft und hatte Anrecht auf dauernde Erhaltung.
Es ging auf den Abend, und immer dichter wurde das Volksgewühl. Werkstätten, Bureaux, Fabriken, Schreibstuben, sie alle sandten ihre Arbeiter auf die Straßen und zunächst nach den „Linden“. In dem Mittelgange zwischen den Bäumen, auf welchem übermorgen die Truppen marschiren sollten, hörte zeitweilig jede Fortbewegung auf. Da sind nun namentlich die französischen Kanonen die Zielpunkte der allgemeinen Völkerwanderung. Als sei die ganze Stadt plötzlich zu einem großen Artilleriecorps formirt, so drängt sich Groß und Klein um die jetzt so friedsam schweigenden Feld- und Wallschlangen von dem verschiedenartigsten Bau und Kaliber, giebt kriegswissenschaftliche Urtheile ab über die „Stücke“ von Sedan, Straßburg, Toul, Pfalzburg, Mézières etc., deren einstige Standorte mit weißen Buchstaben auf den Rohren und Lafetten vermerkt sind, und lugt in die grimmen Feuerschlünde hinein, welche so manches wackere deutsche Herz zum ewigen Stillstand gebracht haben, wie wenn die schwarze Nacht da drinnen das Räthsel des Daseins lösen könne. Vor Allem aber wird’s bei den Mitrailleusen nicht leer von Beschauern. Dem Berliner sind die eleganten Engros-Mordinstrumente schon alte Bekannte, auf den größten Theil der eingerückten Provinzial- und Fremdenlegion dagegen üben sie noch den vollen Reiz geheimnißreicher Neuheit aus. Sie werden befühlt, beklopft, behorcht, berochen, beleckt sogar, scheinen jedoch die Erwartungen einigermaßen zu täuschen – die spukhaften Knatterbüchsen sehen ja den vertrauten Gestalten der übrigen Geschütze so unverzeihlich ähnlich.
Doch weiter! Wir haben noch ein großes Beobachtungsfeld zu durchwandern, wollen wir nur halbwegs einen Ueberblick über die Festzurüstungen und Festvorfreude gewinnen. Auf der Königsbrücke, vor deren vielbesprochenen Marmorgruppen weiße Blechschilde aufgestellt sind, um am Illuminationsabende helles Licht auf die weißen Bildwerke zu werfen, wird der Vormarsch lebensgefährlich. Alles drängt, stößt, schiebt dem Lustgarten zu, wo die letzte Festscene, die Enthüllung der Reiterstatue Friedrich Wilhelm’s des Dritten, sich abspielen soll. „Nicht drängeln! Nicht drängeln!“ ruft’s fortwährend aus dem Gewirr heraus; doch wer hat Ohren für diese Bitte? Nach dem imposanten Königsschlosse ergießt sich der Hauptarm der Fluth; auch wir wenden uns dorthin, denn hier giebt’s einen neuen Glanzpunkt der Festdecoration zu bewundern – die nach dem Entwurfe der Professoren Gropius und Wolff modellirte Germania mit den der Mutter endlich wiedergegebenen Kindern Elsaß und Lothringen. Sie bildete den würdigen Abschluß der prachtvollen Triumphbahn, von den plastischen Festzierden unstreitig die gelungenste und anmuthendste.
Noch ist indeß auch hier Alles im Werden begriffen. Noch ist das Baugerüste um das Kunstwerk nicht beseitigt und auf ihm hantiren noch die Bildner umher mit weißbepuderten Mützen und bestäubten Haaren und Kitteln, kneten in dem nassen Gypse und fügen bald einen Kopf, bald einen Arm, da eine Waffe, dort eine Trommel an das den hohen Sockel umziehende Relief. Dies Relief ist’s, was die Hauptanziehungskraft ausübt; das bringt ja gewissermaßen ein Stück aus dem Leben jedes Einzelnen zur Darstellung, indem es in einem Cyclus zusammenhängender Bilder die Wirkung des königlichen „Aufrufs an Mein Volk“ in ihren verschiedenen Phasen veranschaulicht. Wer noch daran zweifeln möchte, daß die Idee der allgemeinen Wehrpflicht in Fleisch und Blut des preußischen Volkes übergegangen ist – die bis in die Nacht hinein Siemering’s köstliches Relief umstehenden Menschenschaaren und ihre enthusiastische Bewunderung würden ihn eines Andern belehren. Wie verzückt hingen die Augen an den so frisch und markig versinnlichten Scenen aus dem häuslichen Leben der Nation, hier an dem bärtigen Landwehrmann, welcher seinem Jüngsten, das ihm die weinende Gattin emporreicht, den Abschiedskuß auf den Mund drückt, während der Aelteste das Knie des Vaters umklammert; dort an dem Reservisten, der mit schon kriegerisch geschwellter Lippe sein Liebchen beruhigt, daß die Trennung nicht lange währen und er sicher mit heilen Gliedern und ruhmgekrönt wieder heimkehren werde; weiter drüben an dem kecken Bruder Studio, welcher im Kampfeseifer sich schon mit dem Schwerte umgürtet, ehe er noch das flotte Cereviskäppchen von den Locken genommen hat; auf der andern Seite an den ehrwürdigen Gestalten der Veteranen aus den Jahren 1813 und 15, die mit begeisterten Blicken und verjüngten Herzen den an die Mauern gehefteten Aufruf des Königs lesen, welcher sie rückversetzt in ihre eigene Heldenzeit, oder an dem biederben Schmiede, der seinen zu den Fahnen eilenden Gesellen, welcher anstatt des Schurzfelles eben den Waffenrock anlegt, mit Ermahnungen und guten Lehren entläßt. Mit Einem Worte: die Bilder, wie sie mit dem Herzen erdacht sind, greifen zum Herzen, und während die Zahl ihrer Beschauer von Minute zu Minute noch immer wächst, halten sie auch uns gefesselt, bis völlige Dunkelheit und plötzlich einfallender Regen uns daran erinnert, daß es endlich Zeit ist, einen möglichst ruhigen Winkel zum Nachtimbiß aufzusuchen – was freilich erst nach vielen fruchtlosen Bemühungen gelingt.
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Der folgende Tag war eine nach innen und außen in allen Beziehungen und Dimensionen vermehrte und verbesserte Auflage des gestrigen. Jetzt schon totaler Festrausch durch die ganze Stadt; bereits feierte alle Welt. Und wie weit waren die Zurüstungen inzwischen gediehen! Offenbar hatte man sich vielfach keine Nachtruhe gegönnt. Auch vom Potsdamer Thore längs dem Thiergarten bis zum Brandenburger stand nun, in Doppelreihe aufgefahren und zum Theil schon mit Laubgewinden umkränzt, Franzosenkanone an Franzosenkanone. Wie sich diese Herbeischaffung und Aufstellung im Laufe von zehn kurzen Stunden hatte bewerkstelligen lassen, das blieb uns ein Räthsel. Das ging noch über die berühmte affengleiche Preußengeschwindigkeit! Wie durch Magierhand herangezaubert, so nahmen die schweren Feuerrohre schon am frühen Morgen in schönster Ordnung die ihnen [504] bestimmten Plätze ein. Und nun die Königgrätzer Straße, die Hauptstrecke der Siegesbahn selbst! Ihr Anblick läßt sich nicht schildern – wem es aber zu schauen vergönnt war, der verliert dies Bild nimmermehr aus seinem Gedächtniß. Von ihrem Anfange am Thiergarten bis zu ihrem Ende am Bellealliance-Platze, wo die Statue der Berolina die einziehenden Sieger willkommen heißt, wer zählt die durch Laubgehänge verknüpften Wimpelmasten, welche in unabsehbarer Folge rechts wie links der Straße aufgerichtet prangen? Wer die Fahnen und Standarten in den preußischen und deutschen Farben, die hier wehen; wer die pompösen Banner mit den eingestickten Namen der erfochtenen Siege; wer die Kränze und Guirlanden quer über den Weg und an den Häuserfronten. Wer vermag eine Vorstellung zu geben von dem Leben, das, mit jeder Stunde steigend, vom Morgen bis zum Abend die mehr als eine Viertelmeile lange Straße erfüllt?
Rechts und links wälzt sich ein unermeßlicher Menschenstrom das Trottoir auf und ab, während in der Mitte bis zum Dunkelwerden eine zwiefache Säule von Equipagen, Kremsern, Droschken, Omnibus, Cabriolets, Schlächter- und Bäckerwagen, Brauer- und Sodawasservehikeln ohne eine Secunde Unterbrechung sich unaufhörlich hin und wider bewegt; und bunt wie die Art der Kutschen sind die In- und Aufsassen, die sie tragen: hocharistokratische Damen in blendenden Toiletten, Landleute mit vorsorglich mitgenommenen Fouragekörben und Brodkobern, malerisch in den Polstern liegende Stutzer mit Kneifern in den Augen, solide Bürgerfamilien mit ihrem gesammten Kindersegen, gleich Häringen zusammengeschichtete Provinzialen in altfränkischen Röcken und thurmhohen Cylinderhüten, pensionirte Officiere nebst gnädigen Frauen und Töchtern, angeheiterte Studenten, gravitätische Reichstagsmitglieder – eine demokratischere Verbrüderung aller Stände zur einträchtigen Verfolgung eines und desselben Zieles läßt sich nicht wohl denken, ebensowenig ein härterer Frohntag für das arme Pferdegeschlecht.
In all dem Gewimmel aber ward noch eifrig gehämmert und genagelt, getüncht und bekleidet an den Dutzenden von Tribünen, die sich vom Brandenburger bis zum Halle’schen Thore aneinanderreihen und nach den Hauptsiegen und Oertlichkeiten im letzten Kriege getauft sind: Tribüne Weißenburg, Mont Valérien, Sedan, Wörth und so fort, – kleine und große, theuere und billige, je nach Lage und Umfang, mit und ohne Erfrischungsstätten, bedachte und unbedachte – und auch die Parterre- und Ladenfenster richten sich allmählich zu Schaugalerien her, zu fünf, drei und zwei Thaler pro Stuhl. Will man jedoch einen annähernden Begriff erhalten von dem Fremdenzuflusse, der sich in unerschöpflicher Fülle noch fort und fort über Berlin ergießt, als käme die ganze Erde bei diesem zu Gaste gezogen, so muß man vor einem der großen Bahnhöfe Posto fassen. Etwa am Anhalter auf dem Askanischen Platze, zwischen den Denksäulen für die ersten großen Waffenthaten bei Weißenburg, Wörth und Spicheren, an der für die Berliner Schuljugend aufgebauten Riesentribüne, welche den Bewohnern der angrenzenden Häuser menschenfreundlich jede Aussicht auf das bevorstehende Schauspiel raubt. Unablässig pfeifen die Locomotiven, denn die regelmäßigen Züge zur Beförderung der zureisenden Massen reichen natürlich nicht hin; unablässig rollen die Droschken hinein uns heraus, keuchen die Dienstmänner ab und zu, kommen Frauen und Männer angeschwankt, die fast zusammenbrechen unter der Last ihrer Koffer und Nachtsäcke, und hülflos ausblicken nach einem Gefährt oder einem dienstbaren Geiste, von denen sich in Viertelstundenweite keine Spur erspähen läßt, brausen Hofequipagen heran mit Vorreitern und Jägern, welche Kaiser Wilhelm’s fürstliche Gäste in Empfang nehmen, marschiren Soldatenabtheilungen auf, die zum morgenden Einzuge commandirt sind, umarmen sich preußische, bairische, württembergische Officiere, welche sich seit Versailles und Paris, seit Le Mans und Belfort nicht wieder gesehen haben – welch Bild von unsäglichem Wechsel und Reize und trotz seiner Feierlichkeit wie voll der köstlichsten komischen Intermezzos! Unser künstlerischer Freund geräth ganz in Ekstase: der schöne Platz mit seinem monumentalen Festschmuck, das nicht versiechende Menschenmeer, die eleganten Carossen mit den edlen Gespannen, die mannigfaltigen Uniformen, dazu gelegentlich auf den die Straße entlang ziehenden Schienen der Verbindungsbahn ein schnaubender Lastzug mit endlosem Wagenconvoi, welcher auf Minuten alle Verbindung aufhebt zwischen Diesseits und Jenseits – wie unvergleichlich pittoresk!
„Daß ich nicht Stunden lang hier weilen und Hefte von Skizzen für die Gartenlaube voll zeichnen kann!“ klagte der Maler, als er einen Kunstgenossen erblickte, welcher sich’s im Schatten einer Thorfahrt auf seinem Feldstuhl bequem gemacht hatte und tapfer darauf los bleistiftelte. Allein die Pflicht duldete keine Rast; wir mußten noch etwas weiter Straßenbummler spielen, noch einmal vor Allem die Promenade unter den Linden durchschreiten, um die Hochfluth des Volksgewoges zu beobachten, das sich hier concentrirte, die Tribünen in Augenschein nehmen, welche mittlerweile ihre schmucke bunte Bekleidung angelegt hatten, die Bilder mit ihren Mottos und Denksprüchen betrachten, die zwischen den zehn Ehrensäulen nun vollzählig aufgehangen waren und in vortrefflichen Compositionen der ersten Berliner Maler Zweck und Gang des Krieges vergegenwärtigten, den Mastenwald mit den Flaggen aller Nationen beschauen, die von den neben der Schloßbrücke ankernden großen Kähnen herabflatterten, uns noch einmal weiden an der jetzt von ihrem Gerüste befreite Germania vor dem Mittelportale des Schlosses und unsere Wander- und Festrüstungsstudien mit einer Excursion nach dem fernen Dönhofsplatze beschließen, wo bereits die große Tanzbude und die vielen kleinen Erfrischungszelte für die Mannschaften aufgeschlagen wurden und sich schon des zahlreichsten, wenn auch noch ungelabten Zuspruchs erfreuten.
Dies Alles haben wir redlich vollbracht, und der Leser wird uns auf’s Wort glauben, daß die Ruhe wohl verdient war, der wir uns endlich in dem von bunten Lampen erhellten Vorhofe der weit bekannten Gratweil’schen[WS 2] Bierhalle dicht unter den Fenstern des jüngst in der Gartenlaube dargestellten Künstlerclublocales hingaben.
– – Und nun war er da, der lang erharrte große Tag, der größte, welchen Berlin jemals gesehen, und wie wir einen größern zu erleben weder hoffen noch begehren dürfen. Können wir doch nur wünschen, daß er den Janustempel des deutschen Reiches für alle Zeiten geschlossen haben möge! Den Tag zu schildern, liegt unserer Absicht und dem unserer Skizze vorgezeichneten Programm fern. Auch scheuen wir uns nicht zu bekennen, daß unsere Feder zu schwach ist, seinem überquellenden Reichthum gerecht zu werden. Was sich in ihm in der schmalen Spanne weniger Stunden zusammengedrängt hat, – des Inhalts war es übergenug für Monate, genug zum Erinnerungsschatze für das Leben. Es war ein Fest- und Weihetag der gesammten deutschen Nation, von welchem die Geschichte den spätesten Geschlechtern erzählen wird, ein Tag höchster Ehre, ungetrübter Begeisterung und reiner Freude, vor dessen heiterem Glanze selbst der Schmerz, die thränenschwere Ernte des großen Kampfes, momentan zurückwich.
Unserm Reporterthum getreu, überall zu sehen und zu hören und uns nach jeder Ausstrahlung hin in die wogende Strömung zu mischen, hatten wir einen uns zu Ehren der Gartenlaube gebotenen Tribünensitz verschmäht und wollten zunächst im Menschenspaliere der Königgrätzer Straße uns einen Stehplatz erkämpfen, da lockte uns ein improvisirtes Podium unmittelbar an der Ecke des Leipziger Platzes in die nächste Nachbarschaft des erwähnten Trophäenberges mit den Straßburg und Metz versinnlichenden, doch etwas allzu reichlich ausgefallenen Figuren. Die Estrade war nichts als eine Planke auf einigen stützenden Böcken, auf die ein Consortium Berliner Packträger eine Reihe von Stühlen gestellt hatte; aber die Lage dieser Schaubühne erschien uns als eine so günstige, daß wir uns nicht besannen, für’s Erste mindestens darauf Fuß zu fassen neben einer interessant zusammengewürfelten Gesellschaft von dicken Pächterfrauen und ausgetragenen Berliner Kindern, die selbstverständlich in „schnoddrigen Redensarten“ und drastischen Witzen Erkleckliches leisteten und damit die Zeit des Wartens nach Möglichkeit zu kürzen suchten.
Wir haben die Wahl unseres Standortes nicht zu bereuen gehabt. Der größere Theil der Berliner Gewerke mit ihren uralten und funkelnagelneuen Panieren und dem tollsten Mixtum Compositum von Musikbanden, zu denen sämmtliche Flecken und Dörfer auf Meilen in der Runde ihr Contingent gestellt haben mochten und deren Repertoire sich doch regelmäßig zwischen dem „Pariser Einzugsmarsche“, der „Wacht am Rhein“ und „Fein’s Liebchen mein unter’m Rebendach“ ableierte, zog an uns vorüber; [505] zweimal rollten die Sechs- und Vierspänner mit den von Seiden- und Gazewolken umflossenen Majestäten, kaiserlichen, königlichen und simplen Hoheiten vorbei; zweimal konnten wir Kaiser Wilhelm bejubeln, den erhabenen Greis mit dem sympathischen Gesicht und der jugendlichen Haltung, zweimal die schöne, kraftvolle Kriegergestalt des Kronprinzen bewundern, der seinen sammetumwundenen Marschallstab fort und fort so graciös und huldvoll zum Gruße senkte, während Prinz Friedrich Karl mit dem wettergebräunten Antlitz neben ihm so auffallend ernst auf die ihm zujauchzende Menge hinabschaute und den salutirenden Damen drüben auf der großen Magistratstribüne kaum einen Blick gönnte; zweimal dem Reichskanzler, der mit der ihm eigenthümlichen scherzhaften Galanterie die ihm zugeworfenen Bouquets und Kränze in die Damentribünen hineinschleuderte, und seinem Nebenmann, dem „großen Schweiger“, huldigen, dessen feste Lippen heute aber doch ein gar freundliches Lächeln umspielte – kurz, zweimal ward uns der Anblick der großen Kaisersuite mit ihrer Uniformen- und Ordens- und Rossepracht, mit ihren Prinzen und Fürsten, ihren Feldmarschällen und Generälen ihren Flügel- und Generaladjutanten, ihren Johanniter- und Malteserrittern, ihren Stabsofficieren und Generalärzten zu Theil.
Man braucht nicht Militär, auch nicht einmal absonderlicher Mililärfreund zu sein, um den Eindruck dieser Pracht geradezu für überwältigend zu erklären. Wie eine Zaubererscheinung schwebte die glanzvolle Procession an uns vorüber, und gewiß Jeder bedauerte, daß der brillante Zug den staunenden Blicken so schnell entschwand. Mit ihm erschöpfte sich indessen auch das äußere Interesse an dem officiellen Schauspiele. Was nun folgte, der endlose Einmarsch der verschiedenen Regimenter, von denen, wenigstens für das nicht militärische Auge, im Allgemeinen eines immer aussah wie das andere, war in hohem Grade ermüdend für die einer unbarmherzig herabbrennenden Sonne ausgesetzten Zuschauer, wie er eine peinliche Anstrengung für die triumphirenden Krieger gewesen ist, von denen mehrere leider diesen ihren Ruhm- und Ehrentag mit dem Leben büßen mußten, nachdem sie aus so vielen mörderischen Schlachten unverletzt heimgekehrt waren. Daß dieser bittere Tropfen dem großen Freudenbecher des Tages nicht fern gehalten werden konnte, bleibt schmerzlich zu beklagen!
Nach dem Vorbeimarsch der Suite dachten wir unsern Tribünenplatz zu verlassen, um, durch dem Festzuge abgewandte Straßen eilend, unsere Beobachtungen Unter den Linden fortzusetzen; allein die findigen Berliner um uns her boten so mannigfaltige Gelegenheit zu Volksstudien dar, daß wir uns für’s Erste auf unserem Stuhle noch festhalten ließen. Eben schwirrten die „Maikäfer“ von links heran, da erhob sich, um ihre Lieblinge besser beaugenscheinigen zu können, eine unserer Nachbarinnen von ihrem Platze. „Sitzen bleiben!“ befahlen die Hintermänner sofort; „sitzen bleiben, Sie da, A. F. Nr. 16!“ Die Schaulustige hatte nämlich ihr Taschentuch über den Kopf gelegt, um sich vor der glühenden Sonne zu schützen, und unter den Merkzeichen ihres Tuches ward nun die in ihrem Patriotismus gegen die Höflichkeit Fehlende zur Ordnung gerufen. Aehnliche Berliner Geistesblitze gaben noch mancherlei Stoff zur Erheiterung, bis schließlich die einzelnen Unternehmer unserer Plattform sich über deren Erträgniß in die Haare geriethen und einer derselben, welcher die Stühle geliefert und dafür kein genügendes Aequivalent empfangen haben wollte, mit kurzem Proceß sein Eigenthum reclamirte und uns ohne Weiteres entthronte.
Dergleichen improvisirte Schauempore hatte übrigens die Siegesstraße eine Menge aufzuweisen: Handwagen, Hökerkarren, Fässer und Kisten, und dies Alles mußte, an passenden Stellen aufgebaut, als Tribüne dienen, und alle solche Speculanten machten blühende Geschäfte. Ebenso die improvisirten und ambulanten Restaurationen, die sich neben ihnen etablirten. Unsere Estrade ward in regelmäßigen Intervallen von einem vierschrötigen Gesellen besucht, welcher in einem großen Pferdeeimer Wasser, in einem ditto Gefäße Himbeersaft feilbot und, das Glas des also gemischten Trankes zu fünf Silbergroschen verkaufend, sich eines reißenden Absatzes erfreute. Wie kolossal der Verbrauch von durstlöschenden Mitteln von Seiten des schaulustigen Publicums überhaupt gewesen ist, mögen ein paar authentische Ziffern beweisen. Die Restauration der in der Königgrätzer Straße errichteten Victoriatribüne war für fünfundzwanzig Thaler verpachtet worden. Der Pächter aber schenkte in einer einzigen Stunde fünfundzwanzig Eimer Limonade, jedes Glas zu fünf Silbergroschen, und gleichzeitig zehn Tonnen Lagerbier aus, das Seidel zu zwei und einem halben Groschen. Aus dem letztern Getränke allein erzielte er mithin einen Reingewinn von hundertfünfzig Thalern. Von der Tribüne C am Pariser Platze wurden, außer Selterserwasser etc., siebenzehn Tonnen Bier consumirt, wodurch dem Erfrischungspächter ein Gewinn von mehr als dreihundert Thalern erwuchs!
Nach einigen verunglückten Anläufen drangen wir endlich durch die Friedrichsstraße glücklich bis nach den Linden vor und eroberten uns mit Todesverachtung einen Sessel auf Kranzler’s Perron, im Augenblick, als die reitende Garde-Artillerie im Trabe vorüberdefilirte, so daß ringsum die Erde bebte. Wer aber waren auf dieser süßen Tribüne unsere Nachbarn? Zwei französische Officiere, die, jedenfalls aus irgend einer preußischen Festung entlassen und auf dem Rückwege nach der Heimath begriffen, ehrlos genug waren, sich, bei einer Schale Eis, einen Triumphzug zu begaffen, welcher für ihre Nation ein Moment der tiefsten Demüthigung bezeichnet und die französische Gloire, dies Wahnbild ihrer Eitelkeit, wer weiß, für immer ausgelöscht hat. Bedarf es eines Commentars zu diesem neuen „Beitrage zur Völker-Psychologie“?
Sollen wir noch die festliche Erleuchtung schildern, die den blendenden Schlußact des großartigen Tages ausmachte? Wir meinen, nein – dergleichen Lichteffecte sind für Feder und Stift gleich undarstellbar. Wir können es aber auch einfach nicht, weil wir, abgehetzt und abgespannt bis zum Umsinken, fast theilnahmlos durch das gas- und lampenumschimmerte Menschenchaos zogen und nach dem Nachtlager in unserm stillen Vorstadtquartiere trachteten, nachdem wir uns eine Weile an der elektrischen Sonne ergötzt hatten, welche die Quadriga auf dem Brandenburger Thore mit dem Glanze des Tages umgab, und an den buntfarbigen Feuerkugeln, die neben ihr hoch in den wolkenlosen Aether hinaufzischten.