Textdaten
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Autor: / Gaston Tissandier
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Titel: Aus dem Reiche der Lüfte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 785–788
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus dem Reiche der Lüfte.


Noch immer steigt die Fluth der Kriegsliteratur. Fast jede Woche bringt uns neue Beiträge zur Groß- und Kleingeschichte unseres letzten Feld- und Siegeszuges, aber die Spenden fließen jetzt weniger aus deutschen, als aus französischen Federn. Wie gemüthlich man in den meisten dieser wälschen Stilübungen mit uns Deutschen umspringt, läßt sich begreifen. Lassen wir indeß diese Liebenswürdigkeiten heute bei Seite – und befassen uns dafür lieber mit einer Schrift, die zwar auch in die Kategorie jener Kriegsliteratur fällt, aber ausgesprochener Maßen „die Politik nicht als ihr Geschäft betrachtet“, sondern einfach die „Erinnerungen eines Luftschiffers während der Belagerung von Paris“ veröffentlichen will.

Der Verfasser unseres Buchs ist eine Autorität auf dem Gebiete der Aëronautik, Gaston Tissandier. Professor der Chemie an der „Association polytechnique“ und Vorstand des Laboratoriums der „Union Nationale“ in Paris, hat er nicht nur der Theorie der Luftschifffahrt seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit zugewandt, sondern auch, in Gemeinschaft mit anderen Aëronauten, eine Reihe von Ballonreisen unternommen, die seinen Namen in weiten Kreisen bekannt machten. Als daher trotz aller militärischen Versicherungen vom Gegentheil Paris sich als in optima forma blokirt betrachten mußte; als Graf Moltke das unerhörte Problem gelöst, eine Stadt von zwei Millionen Menschen einzuschließen – da tauchten plötzlich die so lange vergessenen Luftschiffe, die merkwürdige Erfindung Montgolfier’s, wieder auf. Sie sollten mitarbeiten an der Vertheidigung des Vaterlandes, indem sie diesem durch die Lüfte die Seele seiner Hauptstadt zutrugen … denn Paris konnte sich unmöglich lebendig begraben lassen. Ohne die Ballons wäre ja kein Brief über die Enceinte der Forts hinaus- und nicht eine einzige Depesche über dieselbe hineingedrungen! Rasch würde die geknebelte Stadt um Gnade gebeten haben.

So ward die wunderbare Luftpost organisirt, die, einschließlich der gefiederten Briefboten, der Tauben, in der That weit mehr geleistet hat, als man anfangs für wahr zu halten geneigt war. Vom 23. September an, wo Duruof vom Montmartre aus mit hundertfünfundzwanzig Kilogrammes Depeschen sich in die Lüfte erhob, um nach elfstündiger Fahrt bei Evreux unversehrt wieder auf die Erde hinabzugelangen, bis zum 28. Januar 1871, wo General Cambronne vom Pariser Ostbahnhof aus aufstieg, um der Provinz die Nachricht vom Abschluß des Waffenstillstandes zu bringen, haben im Ganzen nicht weniger als vierundsechszig Luftfahrten stattgefunden. Diese vierundsechszig Ballons haben außer den Aëronauten selbst einundneunzig Passagiere, dreihundertunddreiundsechszig Brieftauben und neuntausend Kilogramme Depeschen befördert, welche letztere ungefähr drei Millionen gewöhnlicher Briefe im Gewichte von drei Grammes das Stück repräsentiren. Fünf Ballons sind den deutschen Truppen in die Hände gefallen und zwei andere im Meere zu Grunde gegangen; alle übrigen haben mehr oder weniger ihren Zweck erfüllt. Mithin darf man den Franzosen wohl das Recht zugestehen, sich dieses Zweiges [786] ihrer Kriegsführung zu rühmen. Natürlich ließ sich die französische Regierung einen theoretisch so gebildeten und praktisch so erfahrenen Astronauten wie Professor Gaston Tissandier nicht entgehen. Schon am 29. September ward er vor die Oberpostbehörde citirt.

„Sind Sie geneigt, sich als Luftschiffer uns zur Verfügung zu stellen?“ frug man ihn.

„Sobald und so oft Sie es wünschen.“

„Gut. So rechnen wir auf Sie morgen früh sechs Uhr in der Gasanstalt von Vaugirard. Dort werden Sie Ihren Ballon gefüllt und die zu befördernden Depeschen bereit finden.“ –

„Mit zweien meiner Brüder, welche mir bis zur Station das Geleite geben wollten, verlasse ich denn früh um fünf Uhr meine Wohnung,“ erzählt Tissandier. „In der angewiesenen Gasanstalt sehe ich allerdings meinen Ballon, allein er liegt auf der Erde gleich einem Haufen Lumpen. Es ist der ‚Céleste‘, ein kleines Vehikel von siebenhundert Kubikmetern, den sein Eigenthümer der Regierung überlassen hat. Mir ist’s ein alter Bekannter, welcher mir im verflossenen Jahre beinahe den Hals gebrochen hätte. Ich betrachte ihn deshalb mit einer gewissen Pietät. Aber in welcher entsetzlichen Verfassung muß ich ihn erblicken! Es hat letzte Nacht gereift, und der Bursche ist ganz gefroren, sein Zeug steif und brüchig. Guter Gott! und bei dem Ventile sehe ich Löcher, in welche man den Finger legen kann. Rundherum aber zieht sich ein Kranz von kleineren Oeffnungen. Das ist ja kein Ballon mehr! Das ist ein Schaumlöffel!

Mittlerweile erscheinen die Aëronauten, die den Ballon füllen sollen. Sie bringen eine brave Näherin mit, welche die Beschädigungen ausbessert, während mein Bruder alle jene kleinen Oeffnungen mit Papierstreifen überklebt. Das Alles kann mich jedoch noch nicht groß beruhigen, wenn ich bedenke, daß ich in diesem elenden Gefährt allein in die Lüfte emporsteigen soll. Meine Phantasie zeigt mir schon die Preußen auf mich wartend. Ich sehe, wie sie ihre Gewehre auf mich anlegen und mein armseliges, von Alter und Gebrauch hinfällig gewordenes Luftschiff mit einem Kugelregen überschütten.

Als ich das letzte Mal mit dem Céleste aufstieg, konnte ich mich blos fünfunddreißig Minuten in der Luft erhalten! Alle diese Erinnerungen und Perspectiven waren eben nicht tröstlicher Art.

Meine Freunde gaben sich deshalb auch alle Mühe, mich von dem Wagniß mit einem solchen Ballon zurückzuhalten. Schon beginne ich zu schwanken, da trifft die Post mit ihren Briefschaften ein. Ueberdies ist der Wind sehr günstig. Er weht aus Osten, und so werde ich mich in der Normandie wieder zur Erde herablassen können. Währenddem erscheint noch Ernst Picard und überbringt mir ein kleines Bündel wichtiger Depeschen für Tours, welche ich im Falle der Noth, so empfiehlt er mir, entweder verschlucken oder verbrennen solle. Mithin gilt es kein Zaudern mehr! Mit offenen Augen, mit tapferem Herzen und Armen gebe ich mich meinem Schicksal anheim. Bis jetzt ist ja Gott noch immer mit uns Aëronauten gewesen!

Um neun Uhr ist der Ballon gefüllt. Das Schiffchen wird an ihm befestigt. Ich lege die Ballastsäcke und drei Briefpakete, zusammen ein Gewicht von achtzig Kilogrammen, hinein. Eben will ich einsteigen, als noch ein Herr angekeucht kommt, einen Käfig mit drei Tauben unter dem Arme. Es ist Van Roosebeke, dem die officielle Sorge für diese kostbaren Boten obliegt.

‚Haben Sie ja recht Obacht auf meine Pfleglinge,‘ sagt er mir. ‚Sowie Sie sich zur Erde niedergelassen haben, geben Sie ihnen zu trinken und einige Körner Gerste. Wenn sich die Vögel gesättigt haben, lassen Sie zwei davon fliegen, um uns durch sie die Meldung von Ihrer glücklich vollbrachten Luftfahrt zu senden. Die dritte Taube, die mit dem braunen Kopfe – sie hat schon große Reisen gemacht und wäre mir nicht für fünfhundert Franken feil – nehmen Sie mit nach Tours. Sehen Sie aber ja darauf, daß sie sich auf der Eisenbahn nicht zu sehr ermüdet.‘

Endlich stehe ich in der Gondel. Ich umarme meine Brüder und Freunde. Der Augenblick ist ernst und feierlich; das Herz klopft mir laut vor Aufregung, nicht vor Angst. Denn der Gedanke, daß das Vaterland in Gefahr ist, daß um mich herum brave Soldaten für dasselbe bluten, erfüllt mir die Seele.

‚Los!‘ rufe ich und schwebe schon mitten in der Luft! –

Der Ballon erhebt sich mit sehr mäßiger Geschwindigkeit. Die Gasanstalt von Vaugirard und die Gruppe der Freunde, welche mir wieder und immer wieder ihre Abschiedsgrüße zuwinken, schwinden mir nur langsam aus den Augen. Energisch schwenke ich meinen Hut zum Gegengruße, – bald indeß erweitert sich der Horizont. Zu meinen Füßen dehnt sich das ungeheure Paris aus; die Festungswerke umgeben es wie eine Schnur. Dort, bei Vaugirard, unterscheide ich den Dampf der Geschütze, deren Donner dumpf und düster bis zu mir heraufschallt. Die Forts von Issy und Vanves erscheinen mir wie Miniaturfestungen. Jetzt schwebe ich über der Seine, Angesichts der Insel Billancourt.

Es ist neun Uhr fünfzig Minuten; schon bin ich dreitausendfünfhundert Fuß hoch. Meine Augen können sich nicht trennen von der Landschaft. Doch welch herzzerreißendes Schauspiel bietet sich meinen Blicken dar! Ich werde es nimmermehr vergessen! Sind das die sonst so lachenden und belebten Umgebungen von Paris? Ist das die Seine mit ihren Booten und Nachen? Nein, das ist die Wüste in aller ihrer Oede und Entsetzlichkeit! Kein Mensch auf den Straßen, kein Wagen, kein Bahnzug. Alle Brücken zerstört, Trümmer über Trümmer! Kein Soldat, keine Schildwache, nichts, nichts, überall das Schweigen des Kirchhofs. Man könnte sich vor die Thore einer durch die Zeit zerstörten Stadt des Alterthums versetzt glauben; man muß sein Gedächtniß anstrengen, um sich zu erinnern, daß neben dieser Wüste zwei Millionen Menschen hinter einer ungeheuren Mauer eingekerkert sind!

Zehn Uhr. Die Sonne glüht und leiht meinem Ballon Schwingen. Unter der Einwirkung der Sonne dehnt sich das Gas im Céleste aus. Mit reißender Geschwindigkeit strömt es über meinem Kopfe durch den sogenannten Anhang aus und belästigt mich momentan durch seinen Geruch. Neben mir ertönt ein leises Girren. Es sind meine Tauben, die sich in ihrer Lage nichts weniger als behaglich zu fühlen scheinen und mich ängstlich ansehen.

Der Zeiger meines Breguet-Barometers dreht sich ziemlich rasch um das Zifferblatt. Er kündet mir an, daß ich ununterbrochen höhwärts steige. Mit Einem Male bleibt er stehen bei dem Punkte, der einer Höhe von sechstausenddreihundert Fuß über dem Meeresspiegel entspricht.

Die Hitze wird wahrhaft unerträglich. Die Sonne sendet mir ihre Strahlen voll in’s Gesicht und verbrennt mich; kaum, daß ich mich mit etwas Wasser kühlen kann. Ich ziehe meinen Palelot aus, setze mich auf meine Depeschensäcke, stütze den Ellenbogen auf den Rand meines Schiffchens und betrachte schweigend das wundervolle Panorama, welches sich vor mir ausbreitet.

Der Himmel ist indigoblau. Seine Klarheit, sein intensiv warmer Ton könnten mich denken lassen, ich befinde mich in italienischer Atmosphäre. Schöne Silberwolken schweben über den Landschaften in der Tiefe; manche so weit unter mir, daß es scheint, als ruhten sie weich auf den Bäumen aus. Ein paar Augenblicke überlasse ich mich einer sanften Träumerei, jenem eigenthümlichen Reize der Luftfahrten; es ist mir, als glitte ich in einem Zauberlande dahin, in einer Welt ohne lebende Wesen, der einzigen, die der Krieg noch nicht heimgesucht hat mit seiner Geißel. Der Anblick von Saint Cloud jedoch, welches ich jetzt zu meinen Füßen erkenne, drüben am andern Seineufer, führt mich in die Wirklichkeit zurück, in die traurige Gegenwart. Ich lenke meine Blicke der Richtung von Paris zu, allein dort liegt Alles schon unter einem Nebelschleier verborgen.

Indessen treibt mich der Wind constant vorwärts, wie ich aus meinem Compasse ersehe. Unter mir beginnt Versailles, die Wunder seiner Bauten und Gärten zu entfalten.

Bis hierher habe ich nur Wüsten und Einöden geschaut. Jenseit des Parkes von Versailles ändert sich das Bild. Die Preußen sind es, welche ich tief unter meinem Schiffchen sich bewegen sehe. Ich bin fünftausendsechshundert Fuß über dem Niveau der See, keine Kugel also könnte mich erreichen. So nehme ich denn mein Augenglas und beobachte aufmerksam diese Soldaten, die, von meinem Luftschiffe aus gesehen, sich noch winziger darstellen als die Krieger eines liliputanischen Heeres. Deutlich bemerke ich, wie von Trianon Officiere auf die Straße heraustreten und mich mit ihren Lorgnetten fixiren. Sie verfolgen mich lange Zeit, – und allenthalben zeigt sich eine gewisse Bewegung. Sie recken sich in die Höhe und erheben die Köpfe nach meinem Céleste. Welcher Trost für mich, daß ich ihren Gelüsten entrückt bin, daß sie meine Briefe nicht abfangen und meine Depeschen nicht lesen können! Doch da fällt mir ein, daß mir zehntausend Proclamationen in deutscher Sprache an die Adresse der feindlichen Armee übergeben worden sind.

[787] Schnell nehme ich einige Hunderte davon in die Hand und schleudere sie hinab. Ich sehe sie in die Luft flattern und langsam zur Erde niederfallen. So werfe ich nach und nach wohl tausend Stück hinab; den Rest meines Vorraths bewahre ich für die anderen Preußen, denen ich unterwegs vielleicht begegne.

Was enthielt diese Proclamation? Einige einfache Worte, die da sagten, daß wir weder Kaiser noch König mehr hätten, und daß, wenn die Preußen so vernünftig wären, dies unser Beispiel nachzuahmen, man sich nicht länger gleich wilden Bestien abzumorden brauchte. Die Worte mochten an sich nicht übel sein – aber sie waren in den Wind gesprochen und wurden vom Winde hinweggeweht, so wie sie gekommen. …

Der Céleste hält sich in einer Höhe von fünftausendsechshundert Fuß. Auch nicht eine Handvoll Ballast habe ich auszuwerfen, so heiß ist die Sonne. Es ist nicht mehr zweifelhaft, mein Ballon schneidet mit Windesschnelle durch die Luft; ohne die außerordentliche Wärme aber würde mein elendes Fahrzeug bald genug gesunken und ich vielleicht mitten unter den Preußen zur Erde hinabgekommen sein. Hinter Versailles schwebe ich über einem kleinen Gehölz, dessen Name und genaue Lage mir unbekannt sind. Alle Bäume sind gefällt, der Boden ist geebnet, und eine doppelte Reihe von Zelten erhebt sich auf zwei Seiten des Parallelogrammes.“ (Hat unser Aëronaut hier wohl recht gesehen? Wir bezweifeln es. So viel wir wissen, hat das deutsche Heer nirgends Zelte gehabt.) „Kaum stehe ich über diesem Lager, so bemerke ich, wie die Soldaten aufmarschiren; ich sehe von Weitem ihre Bajonnete funkeln. Die Gewehre werden erhoben, und aus einer Rauchwolke zuckt es auf von hundert Blitzen. Erst einige Secunden darauf höre ich unter meinem Schiffchen das Zischen der Kugeln und die Detonation der Musketen. Noch eine zweite Fusilade wird mir zugesandt, und so weiter, bis der Wind mich diesen ungastlichen Gebreiten entführt. Statt jedweder Erwiderung überschütte ich meine Angreifer mit einem wahren Platzregen von Proclamationen.

Das Panorama, welches sich den Augen des Aëronauten entrollt, erneut sich mit jeder Minute. Im unendlichen Raume schwimmend, sieht er unter seiner Gondel die Erde sich höhlen wie ein ungeheures Becken, dessen Ränder in der Ferne mit dem Himmelsgewölbe verschmelzen. Ist der Wind rapid, so hat man keine Zeit, sich die Landschaft mit Muße zu beschauen; mit jedem Augenblicke ist die Scene unten auf der Erdoberfläche eine neue. Bald sind mir die Preußen, die ihr Pulver umsonst nach mir verschossen haben, aus den Blicken entschwunden; andere Bilder harren meiner. Ich entdecke einen Wald, auf den ich mit großer Geschwindigkeit zutreibe, nicht ohne eine gewisse Unruhe, denn der Céleste beginnt zu sinken. Ballast auf Ballast werfe ich aus, und mein Vorrath ist kein überreichlicher. Indeß kann ich von Paris noch nicht sehr weit entfernt sein. Der Empfang, welchen mir der Feind zu Theil werden läßt, wenn ich über einem seiner Lager hinschwebe, macht mir keine Lust, schon niederzusteigen.

Mit Erstaunen habe ich immer beobachtet, daß der Aëronaut, selbst in ziemlich beträchtlicher Höhe, in sehr fühlbarer Weise den Einfluß des Terrains verspürt, über welchem er in den Lüften dahinsegelt. Schwebt er über den Kreidesteppen der Champagne, so empfindet er eine intensive Wärme; zu ihm herauf dringt der Reflex der Sonnenstrahlen. Zieht er über einem Walde hin, so fächelt den Luftreisenden plötzlich eine merkwürdige Kühlung an, als träte er zur Sommerzeit in einen Keller. Dieser Eindruck wird mir, während ich drei Viertel nach zehn Uhr in einer Höhe von ziemlich fünftausend Fuß über Bäumen hinwegschwimme, die ich alsbald als dem Walde von Houdan angehörig erkenne. Compaß und Landkarte gestatten mir in dieser Hinsicht keinen Zweifel. Allein das Gas empfindet gleich mir den Einfluß dieser plötzlichen Frische nach glühender Ausstrahlung. Es kühlt sich ab und sinkt zusammen; der Ballon sinkt, als riefen ihn die Bäume zu sich, als wollte er sich wie ein Vogel auf ihnen niederlassen.

Ungestüm stürze ich mich auf einen meiner wenigen Ballastsäcke und entleere ihn über Bord; mein Barometer zeigt mir jedoch an, daß ich fortwährend sinke. Die Kälte dringt mir an Mark und Bein. Dreitausendfünfhundert, dann zweitausendachthundert, jetzt gar nur zweitausend Fuß – so tief bin ich in wenigen Secunden hinabgekommen; und noch fällt der Céleste fort und fort! Ich entleere nach einander drei Säcke Ballast, um meinen Ballon wenigstens in achtzehnhundert Fuß Höhe zu erhalten, denn von Steigen ist keine Rede mehr!

In diesem Moment schwebe ich über einem Kreuzwege. Ein Haufen Menschen hat sich daselbst versammelt. Gott im Himmel! es sind Preußen. Etwas weiter hin stehen noch mehrere; dort sind gar Ulanen, die von allen Seiten angesprengt kommen! Und ich besitze blos noch einen einzigen Sack Ballast! Ich schleudere mein letztes Bündel Proclamationen hinunter; inzwischen sinkt der Ballon immer tiefer und tiefer. Seine Steigungskraft ist durch den Verlust und die Abkühlung des Gases gleich Null geworden.

Ich befinde mich nur noch etwa fünfzehnhundert Fuß hoch. Eine Kugel könnte mich leicht erreichen.

Aufmerksam blicke ich hinab. Wenn ein Soldat das Gewehr auf mich anlegt, werde ich ihm ein ganzes Briefpaket von vierzig Kilogrammes an den Kopf schleudern. Von solcher Last erleichtert, wird mein armes Luftschiff bald seine Flugkraft wieder gewinnen. So lebhaft mich der Wunsch beseelt, meine Sendung pünktlich erfüllen zu können, so werde ich doch sofort meine sämmtlichen Depeschen opfern, wenn ich dadurch mein Leben retten kann.

Zum Glück ist der Wind sehr heftig. Wie ein Pfeil sause ich über den Bäumen dahin. Erstaunt sehen mir die Ulanen nach, ohne daß mich eine einzige Kugel bedroht. Ueber grüne Wiesen geht es fort, über Gebüsch und Weißdornhecken. Es ist gleich Mittag; schon bin ich der Erde sehr nahe. Wiederum sind Menschen versammelt und sehen zu mir herauf. Diesmal aber sind’s französische Bauern, in Blousen und Holzschuhen. Sie recken die Arme in die Höhe, als winkten sie mir. Doch ich bin noch dem Walde zu nahe. Ich setze daher meine Fahrt lieber noch fort, so lange wie immer möglich. Dafür werfe ich den Leuten einige Exemplare einer Pariser Zeitung hinab, die mir der Redacteur derselben beim Abfahren übergeben hat. Wie die Bauern nach diesen Blättern springen, welche in ihrem Falle auseinander gegangen sind und vom Winde getrieben umherwirbeln!

Da erscheint am Horizont eine kleine Stadt. Es ist Dreux mit seinem dicken viereckigen Thurm. Jetzt hindere ich das Sinken meines Céleste nicht länger. Eine Menschenwoge wälzt sich mir entgegen. Ich rufe mit aller Anstrengung meiner Lunge hinab:

‚Liegen Preußen in der Gegend?‘

Tausend Stimmen antworten zugleich:

‚Nein, nein. Kommen Sie herab!‘

Ich befinde mich nur noch hundertundfünfundsiebenzig Fuß über der Erdoberfläche. Mein Leitseil streift schon die Bäume – da aber packt mich ein Windstoß und schlägt mich jählings wider einen Hügel. Der Ballon neigt sich. Ich empfange einen furchtbaren Stoß, der mir heftige Schmerzen verursacht. Meine Gondel schlägt um und mein Kopf prallt an den Boden an. Ich will meinen letzten Sack Ballast auswerfen, um das allzurasche Fallen zu paralysiren, in diesem Augenblicke aber entgleitet das Messer, mit dem ich die Ankertaue von den sie zusammenhaltenden Bändern zu lösen im Begriff bin, meinen Händen. Von Neuem erhebt sich der Céleste plötzlich auf zweihundert Fuß, dann stürzt er schwerfällig zur Erde nieder. Diesmal ist es mir gelungen, den Anker hinabzulassen und die Ventilschnüre zu zerschneiden. Der Ballon steht. In Schaaren kommen die Bewohner von Dreux herbeigeströmt. Ich selbst habe mir zwar einen Arm verstaucht und eine Beule am Kopf, aber voller Freude steige ich an’s Land – denn ich bin unter Freunden.

Alles will mir die Hand drücken. Wie steht es in Paris? Was denkt man in Paris? Wird Paris sich halten können? So gehen die Fragen durcheinander. Ich antworte, so gut ich kann, und lasse eine kleine gefühlvolle Rede vom Stapel. Dann entleere ich den Céleste und ein Wagen nimmt uns Alle auf, mich, meine Depeschen und meinen Taubenbauer. Die armen Thiere scheinen sich von ihrer Aufregung noch immer nicht erholt zu haben!

Im Postamte gebe ich meine Briefschaften ab. Ich kann sie nicht ohne eine gewisse Rührung betrachten. Da liegen vor meinen Augen mehr als dreißigtausend Briefe aus Paris! Dreißigtausend Familien werden dem Ballon danken, der ihnen hoch über Wolken hinweg Kunde von den Belagerten gebracht hat! Welche Freudenthränen umschließen diese Briefbündel! Welche Romane, welche Geschichten, welche Tragödien vielleicht bergen sich unter der groben Hülle des Postsackes! …

Jetzt zu meinen Tauben. Ich eile denn zum Souspräfecten, bei dem ich meine geflügelten Boten in Sicherheit gebracht habe. Sie sind inzwischen gespeist und getränkt worden und regen munter die Flügel in ihrem Käfig. Willig läßt sich die eine von [788] mir ergreifen. Nachdem ich ihr unter das Gefieder meine Miniaturdepesche festgebunden habe, lasse ich sie los. Aber – ruhig setzt sie sich zu meinen Füßen nieder und bleibt hier sitzen. Ich wiederhole das gleiche Manöver mit der zweiten Taube – sie nimmt neben ihrer Gefährtin Platz. Wir betrachten sie aufmerksam. Ein paar Augenblicke rührt sich keine von der Stelle. Plötzlich beginnen beide mit den Flügeln zu schlagen und schießen mit einem Schwunge hoch in die Luft empor, wohl dreihundert Fuß hoch. Dort kreisen sie zunächst nach allen Richtungen der Windrose herum, um sich zu orientiren. Ihr Schnabel oscillirt wie die Magnetnadel eines Compasses, als suche er einen geheimnißvollen Punkt. Bald aber haben sie den Weg erkannt, welchen sie einschlagen müssen; wie Pfeile fliegen sie davon, in gerader Linie gen Paris.“