Aus dem Leben einer jüdischen Familie/Aus dem Tagebuch zweier Mädchenherzen

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[151]
VI
Aus dem Tagebuch zweier Mädchenherzen


1.

Ehe ich daran gehe, über diesen neuen und so entscheidenden Lebensabschnitt zu berichten, muß ich die Geschichte meiner Schwester Erna fortführen. In meinem ersten Semester, im Sommer 1911, machte sie ihr Physikum. Die vielen Prüflinge waren in Gruppen zu je vier eingeteilt. Erna und Hans Biberstein waren natürlich in einer Gruppe und bereiteten sich zusammen vor. Sie hatten Mühe, noch zwei Gefährten zu finden, weil man ihren Fleiß und ihre guten Kenntnisse fürchtete. Da die Prüfung öffentlich war, ließ ich es mir nicht nehmen, ihr beizuwohnen. In Physiologie konnte ich sogar auf Grund meines Psychologiekollegs schon etwas vorsagen; darauf war ich sehr stolz. Erna schnitt mit dem Gesamtergebnis l ab; aber Hans, der begabte, fleißige und so ehrgeizige Hans, hatte einen „Schwanz“ – er hatte in Zoologie versagt und mußte in diesem Fach einige Zeit später noch einmal geprüft werden. Das Physikum gilt selbst mit mehreren „Schwänzen“ noch als bestanden; sie kommen häufig vor, und andere Leute tragen sie mit Humor. Hans aber kränkte sich bitter und konnte lange nicht darüber hinwegkommen; fast noch mehr ärgerte sich unsere Mutter über die „Schande“. Die gute Erna hätte von Herzen gern mit ihm getauscht und konnte ihrer blanken Eins nicht froh werden. Zum Glück ging es beim Staatsexamen besser. Hier ernteten beide auf allen Stationen eine Eins. Bald darauf durften sie die mündliche Doktorprüfung machen, ehe noch ihre Arbeiten abgeschlossen waren. Sie hatten beide in der inneren Klinik unter der Leitung eines tüchtigen jungen Assistenten – Dr. Felix Rosenthal, dem Sohn eines orthodoxen Rabbiners – serologische Untersuchungen gemacht, Erna an weißen Mäusen, Hans an Kaninchen; die Versuchsreihen waren abgeschlossen, das Zusammenschreiben der Ergebnisse durfte als unwesentlich bis nach der Prüfung verschoben werden.

Im Frühsommer 1914 waren die Prüfungen beendet. Sie hatten große Anforderungen gestellt, und nun war eine Erholung wohlverdient. Das Pärchen hätte sehr gern nach der gemeinsamen Arbeit eine gemeinsame Reise gemacht. Aber die beiden so ganz allein in die Welt hinausfliegen zu lassen, das ging doch zu sehr gegen alles [152] Herkommen. Unsere Mütter kamen uns und sich selbst ohnehin schon immer wie Hennen vor, die junge Entlein ausgebrütet haben und sie nun mit Schrecken davonschwimmen sehen. Diesmal gab es einen entschiedenen Einspruch. Da griff ich ein, teils aus treuer Schwesterliebe und Freundschaft, teils aus Freude daran, den „Leuten“ ein Schnippchen zu schlagen. Ich schlug den beiden vor, mich in Göttingen zu besuchen, und das wurde vom Familienrat genehmigt. Ob der Gedanke ursprünglich von mir oder von Hans ausging, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kamen die beiden eines Tages nach Göttingen. Erna konnte bei mir wohnen, Hans wurde von einem Breslauer Bekannten gastfreundlich aufgenommen. Dieser gute Erich Danziger und eine ältere Breslauer Freundin, die in diesem Sommer in Göttingen studierte – Toni Meyer – halfen mir treu meinen Gästen den Aufenthalt angenehm zu machen. Es war ja noch mitten im Semester, ich hatte viel Arbeit und konnte mich nur verhältnismäßig wenig um sie kümmern. Aber ich hatte einen großen Plan für sie aufgestellt und sorgte dafür, daß sie die schönen Weser- und Leineberge, Kassel und seine herrlichen Bildergalerien, das entzückende alte Hannoverisch-Münden und Hildesheim kennen lernten. Hans mußte etwas früher abreisen. Mit Erna machten Danziger und ich noch zum Schluß eine mehrtägige Harzwanderung. Ich glaube fast, daß diese Tage für Erna die friedlichsten und schönsten waren. Auch in Göttingen waren die Stunden, in denen wir alle zusammen waren, ungetrübt fröhlich. Auf den Ausflügen zu zweien aber gab es, wie ich später hörte, häufig Zusammenstöße, die die Freude an der schönen Natur und den alten Kulturstätten störten.

Wenige Wochen nach diesem Besuch brach der Krieg aus. Hans meldete sich sofort zum Felddienst. Er wurde als Feldunterarzt eingestellt – alle, die damals gerade die Prüfung bestanden hatten, erhielten gleich die Approbation, nicht wie sonst erst nach einem Praktikantenjahr; er kam zunächst in einen Lazarettzug und auf diese Weise häufig besuchsweise nach Breslau oder doch so in die Nähe, daß seine Mutter und Erna ihn besuchen konnten. Erst viel später wurde er Truppenarzt im Feld, erhielt die Beförderung zum Feldarzt und schließlich zum Feldoberarzt. Damit hatte er Offiziersrang und fühlte sich auch durchaus als Offizier. Erna wurde kurz nach Kriegsausbruch vom Chef der Universitäts-Frauenklinik, dem alten Geheimrat Küttner auf der Straße angehalten und gefragt, ob sie als Assistentin zu ihm kommen wolle. Natürlich sagte sie sofort zu: es war eine Ausbildungsmöglichkeit, auf die man im Frieden nie hätte rechnen können. Der Andrang zu diesen Stellen war sonst so groß, daß man froh war, wenn man als Volontär ankam [153] und unentgeltlich zur Arbeit zugelassen wurde. Jetzt holte sich der alte Herr seine Schülerinnen zusammen, weil fast alle seine Mitarbeiter ins Feld mußten. Ich war gerade bei Erna und ihren Freundinnen in der Klinik zu Besuch, als der Oberarzt in Uniform ins Ärztekasino kam, um sich zu verabschieden, und sagte: „Meine Damen, machen Sie sich’s hier bequem, Sie sind jetzt die Herren der Klinik“. Lilli war auch unter den „Ersatz“-Assistenten, obwohl sie noch vor dem Staatsexamen stand. Sie und Erna bewohnten gemeinsam zwei Zimmer in der Klinik. Es war eine schwere und verantwortungsvolle Tätigkeit. Oft wurden sie in die Häuser der Armen zu gefährlichen Entbindungen gerufen und mußten unter den ungünstigsten äußeren Bedingungen Eingriffe machen, die sie bisher nur als Zuschauer mitangesehen hatten oder gar nur aus Büchern kannten. Diese „poliklinische“ Tätigkeit wurde unentgeltlich geübt, weil die Armen das Material waren, an dem die jungen Ärzte lernen konnten. Es gab viel Aufregung bei diesen, oft nächtlichen, Fahrten, aber auch manche Freude. Und man reifte dabei zu Selbständigkeit und Sicherheit in der Ausübung des Berufs heran. Im Kasino herrschte ein fröhlicher, kameradschaftlicher Ton. Allerdings gab es auch Gelegenheit zu schlimmen menschlichen Erfahrungen. Wenn Erna nach Hause kam oder wenn wir sie in der Klinik besuchten, hatte sie immer viel zu erzählen. Neben der praktischen Berufstätigkeit schloß sie ihre Doktorarbeit ab und sammelte für Hans aus Büchern und Zeitschriften das literarische Material, so daß auch er die seine beenden und abliefern konnte. Auch die Sorge für seine Mutter übernahm sie an seiner Stelle. Wenn Frau Biberstein krank war, mußte sie – wenn irgend möglich – täglich nach ihr sehen. Sonst wurde sie häufig zu uns oder in die Klinik eingeladen, um ihr die Zeit zu vertreiben. So erfüllte Erna alle Pflichten einer Braut und Schwiegertochter, ohne den Namen tragen zu dürfen.

Sie war wohl etwa anderthalb Jahre an der Frauenklinik tätig gewesen, als ihr eine Stellung im Städtischen Säuglingsheim angeboten wurde. Nach längeren Überlegungen und Beratungen nahm sie sie an, da ihr ja eine gute Ausbildung auf diesem Gebiet für ihre spätere Tätigkeit als Frauenärztin sehr nützlich sein mußte. Ebenso fanden wir es für nötig, sich Erfahrung in der inneren Medizin zu erwerben. Darum ging sie im Oktober 1916 als Assistentin auf die innere Station des Rudolf-Virchow-Krankenhauses nach Berlin. Es war das erstemal, daß sie auf längere Zeit die Heimat verließ. Zur selben Zeit ging ich nach Freiburg i.Br. Ich machte die Reise über Berlin und brachte sie – zusammen mit unserm Onkel Emil Courant, der ihr die Stellung verschafft hatte – in ihr neues Heim, ehe ich weiterfuhr. Als ich Ostern 1917 für die Ferien nach [154] Breslau fuhr, hielt ich mich einen Tag und eine Nacht bei ihr auf. Das Virchow-Krankenhaus ist eine kleine Stadt für sich. In geraden, regelmäßigen Straßenzügen reihen sich die Pavillons aneinander. In einem netten Häuschen waren Ernas Station und die beiden Zimmer, die sie bewohnte. Für die Nacht überließ sie mir ihr Bett und schlief auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Wir ließen die Tür zwischen den beiden Räumen offen und sprachen abends noch lange miteinander. Ich fragte auch nach ihren Beziehungen zu Hans Biberstein, denn ich wußte, daß sie viel auf dem Herzen hatte, was nach Aussprache verlangte. Einige Zeit vorher hatte Lilli mir einmal verraten, daß Erna sich scheue, mit mir davon anzufangen, weil sie glaubte, ich hätte für solche Dinge keinen Sinn. Diese Auffassung, die wohl von der ganzen Familie geteilt wurde, war durchaus nicht richtig. Bei aller Hingabe an die Arbeit trug ich doch die Hoffnung auf eine große Liebe und glückliche Ehe im Herzen. Ohne irgendwelche Kenntnisse von katholischer Glaubens- und Sittenlehre zu haben, war ich doch ganz vom katholischen Eheideal erfüllt. Es kam vor, daß mir unter den jungen Menschen, mit denen ich zusammenkam, einer sehr gut gefiel und daß ich ihn mir als den künftigen Lebensgefährten dachte. Aber davon merkte kaum jemand etwas, und so mochte ich den meisten Menschen als kühl und unnahbar erscheinen. Auch Hans Biberstein mochte ich sehr gern, aber es stand von vornherein bei mir fest, daß er für mich nicht in Betracht käme, weil mir ganz klar war, wie Erna zu ihm stand.

Es hatte mir ein bißchen weh getan, daß sie sich den Freundinnen anvertraut hatte und mir nicht; aber ich konnte verstehen, wie es dazu gekommen war, und wußte, daß es ihr eine große Erleichterung sein würde, mit mir zu sprechen. So fragte ich geradezu: „Denkt ihr eigentlich daran, zu heiraten?“ Fast weinend kam es zurück: „Wir können ja bald nicht mehr daran denken“. Der Krieg dauerte jetzt schon das dritte Jahr und es war noch kein Ende abzusehen. Wenn Hans aber dann heimkäme, müßte er ganz von vorn mit seiner praktischen Ausbildung anfangen und könnte noch jahrelang nicht an Niederlassung denken. Außerdem hatte er immer den Wunsch gehabt, sich zu habilitieren, und sie wollte doch nicht gern, daß er ihr die wissenschaftliche Laufbahn zum Opfer brächte. Ich wußte für all diese Sorgen – vom Kriegsende abgesehen – schnell Abhilfe. „Du mußt alles darauf einstellen, daß Du Dich möglichst bald niederlassen kannst. Dann müßt Ihr für den Anfang von deiner Praxis leben“. Erna hielt es für unwahrscheinlich, daß Hans darauf eingehen würde. Aber ich ließ keine Bedenken gelten. „Es bleibt ihm doch gar nichts anderes übrig. Wie lange sollt ihr denn noch warten?“

[155] Im Sommer 1917 kamen Erna, Rose und Lilli zu mir nach Freiburg und wir gingen zusammen für einige Wochen in den Schwarzwald. Auf der einsamen Höhe des Herzogenhorn lebten wir so frei und ungezwungen und so einträchtig wie früher im schlesischen Gebirge. Als es sich um die Frage handelte, ob Erna nach Ablauf des ersten Berliner Jahres an die Frauenklinik nach Breslau zurückkehren solle, riet ich entschieden dazu, trotzdem mancherlei Unannehmlichkeiten auf sie warteten. Es schien mir der geradeste Weg zum Abschluß ihrer Ausbildung als Frauenärztin. In den folgenden Sommerferien hatten Rose und Lilli das Verlangen, etwas Neues kennenzulernen. Erna aber schloß sich ihnen nicht an, sondern zog es vor, wieder zu mir zu kommen. Wir blieben diesmal in Freiburg, und ich machte sie in meinen freien Stunden mit der schönen Umgebung bekannt. Sie stand wieder vor einer Entscheidung, über die sie mit mir beraten wollte. In einigen Monaten wollte sie sich niederlassen. Unsere Mutter wollte sie am liebsten im Hause haben und wollte ihr zwei nebeneinanderliegende Räume im Erdgeschoß als Warte- und Sprechzimmer einrichten. Andere Leute aber redeten ihr zu, eine Wohnung im Süden der Stadt zu wählen, weil dort die reichen jüdischen Familien wohnten; da wäre mehr Aussicht auf eine einträgliche Praxis als bei uns im Nordosten, wo man hauptsächlich mit Proletariern, bestenfalls mit kleinen und mittleren Beamten zu rechnen hätte, jedenfalls vorwiegend mit Kassenpatienten. Erna zog es nicht zu den reichen und verwöhnten Damen des Südens. „Ich glaube, ich würde es doch nicht verstehen, mit diesen Leuten umzugehen. Ich will ja auch keine Reichtümer sammeln; wenn ich nur soviel verdienen kann, wie wir zum Leben brauchen“. Das war durchaus in meinem Sinn. Dazu kamen noch die praktischen Erwägungen, daß in jener Zeit eine Wohnungseinrichtung kaum erschwinglich war, und daß Erna im Hause unserer Mutter stets auf die Hilfe der Schwestern rechnen konnte, während sie anderswo mit fremdem Personal arbeiten müßte. So entschlossen wir uns für einen bescheidenen Anfang in der Michaelisstr. 38.

Wenige Monate danach kam der große Zusammenbruch, das Ende des Krieges, die Revolution. Zur Beruhigung meiner Mutter ging ich damals nach Hause – nicht, als hätten die politischen Verhältnisse ihr Furcht eingeflößt; das konnten sie nicht; aber sie hätte mich in so unruhigen Zeiten sehr ungern in so weiter Ferne gewußt. Zur selben Zeit etwa gab auch Erna ihre Stellung an der Frauenklinik auf, um ihre Niederlassung vorzubereiten. Und so kehrten wir gleichzeitig ins Elternhaus zurück und bezogen wieder unser gemeinsames Schlafzimmer im Giebel. Sie durfte sich für ihre Praxis die schon erwähnten Zimmer im Erdgeschoß einrichten. Mir aber [156] stellte meine Mutter in der Freude, mich wieder daheim zu haben, den großen „Saal“ im ersten Stock als Arbeitszimmer zur Verfügung.

Es dauerte sehr lange, bis Hans aus dem Feld zurückkam. Für ihn hatte der Krieg bis zuletzt einen romantischen Schimmer behalten, und er konnte sich in den Zusammenbruch durchaus nicht finden. Als sein Hauptmann – Professor Lehnel, ein Göttinger Jurist – fiel, ließ er bei jedem Stellungswechsel die Leiche wieder ausgraben und brachte sie auf dem langen Rückzug wirklich bis in die Heimat mit – „wie die alten Goten ihren toten König“, sagte er selbst. Nach Ausbruch der Revolution sorgte er mit dem neuen Hauptmann dafür, daß ihre Mannschaften nicht auseinander liefen, sondern in geordnetem Zuge heimkämen. Mit dem Revolver in der Hand ritten sie neben den Leuten her, „um die Bande in Zucht zu halten“. Es war nicht nötig, von dem Revolver Gebrauch zu machen. Der feste Ordnungswille genügte. In Deutschland erwartete Hans, zwei große Parteien zu finden: eine republikanische und eine Kaiserpartei; und er wollte sich mit Begeisterung für den Kaiser einsetzen. Er konnte es gar nicht fassen, daß niemand es wagte, sich zur Monarchie zu bekennen. Als er Ende Dezember endlich nach Breslau gelangte, fand er seine Braut und seine Mutter als Mitglieder der „Deutschen Demokratischen Partei“, und bei den Wahlen blieb ihm auch nichts anderes übrig als sich dafür zu entscheiden, denn weiter rechts konnte er als Jude auf keine Sympathien rechnen.

Lagen so über dem Wiedersehen schwere Schatten – das Glück des Vereintseins nach der jahrelangen Trennung brach doch siegreich durch. Eines Tages erschien Hans in feierlichem Schwarz bei meiner Mutter, um nun endlich in aller Form um Ernas Hand anzuhalten. In „meinem“ Saal wurde die Verlobung von beiden Familien mit herzlicher Freude gefeiert. Bald darauf gab es allerdings eine neue Trennung. Hans mußte ja nun erst mit seiner spezialärztlichen Ausbildung beginnen. Er wollte wie sein Bruder Fritz Dermatologe werden und ging jetzt zunächst für ein Jahr zu dem Bakteriologen Professor Morgenroth nach Berlin. Berlin in der Nachkriegszeit mit seinen bolschewistischen Unruhen, den Streiks, den Drahtverhauen und Barrikaden in den Straßen – eine schlimmere Umgebung hätte es für ihn kaum geben können. Er vergrub sich ganz in seine Arbeit; er, der die Geselligkeit so liebte, hatte gar keine Lust, auszugehen. Natürlich hatte er Heimweh und war meist in sehr trüber Stimmung. Während dieses Jahres (1919) hatte ich zweimal einige Tage in Berlin zu tun. In diesen Tagen lebte er auf. Er holte mich schon früh, ehe er in seinen Dienst ging, am Bahnhof ab und brachte mich zu meinen Verwandten: seit Onkel David Courant in Berlin wohnte, hatte ich dort mein Absteigquartier, und in diesem gastlichen Haus [157] war auch Hans stets willkommen. Soviel es seine und meine Zeit erlaubte, waren wir zusammen, er ging auch mit mir ins Theater, was er sonst kaum tat. Er war sehr dankbar für diese Besuche; aber sie verstärkten noch seinen stillen Ärger darüber, daß Erna das ganze Jahr hindurch nicht nach Berlin kam. Er sah darin ein Zeichen von Gleichgültigkeit und trug es ihr noch nach, als sie schon längst verheiratet waren. Sicherlich sehnte sich Erna nicht weniger nach einem Zusammensein als er, aber sie hatte ihre junge Praxis zu versehen, und die Familie hätte sich dem Plan einer Fahrt nach Berlin „ohne besondere Veranlassung“ sicher widersetzt; bei ihrer leichten Beeinflußbarkeit genügte das für sie, um auf ihren stillen Wunsch zu verzichten. Hans spürte diesen Einfluß der Familie genau, und das wurde der Anfang einer feindseligen Einstellung, die sich immer mehr steigerte.

Für den 1. Februar hatte Erna in den Zeitungen den Beginn ihrer Praxis bekannt gegeben. Am Haus und am Gitter unseres Vorgärtchens war ein Schild angebracht und daneben eine Nachtglocke; die Leitung führte in unser Schlafzimmer. In der Nacht vom 31. Januar zum l. Februar wurde ich zum erstenmal durch die Nachtglocke geweckt. Ich mußte Erna erst rufen. Sie fuhr schlaftrunken in die Höhe. „Du mußt jetzt ans Fenster gehen“, sagte ich. Sie kam erst allmählich zur Besinnung. Richtig – es stand ein Mann unten, um sie zu seiner Frau zu holen: in ein Proletarierhaus in einer sehr finsteren Gegend. Nach einigen Stunden kam sie nach einem erfolgreichen Eingriff zurück. Die Praxis richtete sich erstaunlich schnell ein. Die ganze Familie nahm lebhaften Anteil daran und wollte am liebsten über jeden Fall genauen Bericht haben, so daß Erna manchmal kopfschüttelnd abwehrte, da es ja bekanntlich eine Schweigepflicht gäbe. Im Winter erkrankte eine ältere Cousine an einem schweren Unterleibsleiden. Sie wurde von einem „berühmten“ Frauenarzt operiert (meine Mutter und Hans nahmen das sehr übel), Erna wurde nur gebeten, der Operation beizuwohnen, und als der Zustand der Kranken sich nachher verschlimmerte und hoffnungslos wurde, verlangte sie häufig nach ihr. Einmal wurde Erna noch spät am Abend in die Klinik gerufen; zum Rückweg in der kalten Winternacht konnte sie kein anderes Gefährt finden als einen offenen Schlitten. Die Folge war ein schwerer Bronchialkatarrh, der lange nicht weichen wollte. Zusammen mit den Anstrengungen eines Arbeitsjahres, in dem sie sich keine Erholung gegönnt hatte, und den Aufregungen dieser Tage ergab das eine große Erschöpfung: sie sah elend aus und magerte ab. Im November starb unsere Cousine, im Januar 1920 kam Hans nach Breslau zurück, um dauernd daheim zu bleiben. Er begann nun seine Tätigkeit [158] an der Universitätsklinik: erst als Volontär, später als etatsmäßiger Assistent; schließlich rückte er zum Oberarzt auf. Er hatte sich herzlich auf diese Heimkehr gefreut; nun fand er seine Mutter und seine Braut leidend vor. Dieses Mißgeschick empfand er wie eine persönliche Kränkung; er empörte sich darüber wie ein verwöhntes Kind. Er verlangte, daß Erna jeden Tag Temperatur messen müsse, tatsächlich zeigte sich abends meist eine leichte Steigerung. Nun war für ihn kein Zweifel mehr, daß die Lunge angegriffen sei. Meine Mutter war außer sich. Sie kannte kein ärgeres Schreckgespenst als die „Schwindsucht“, und es schien ihr ausgeschlossen, daß in unserer gesunden Familie so etwas vorkommen könnte. Das tägliche Messen erschien ihr als die Wurzel des Übels; sie glaubte, daß Hans durch seine schwarzen Befürchtungen nur alle quälen wolle. Das war wohl nun nicht ganz richtig, aber der Ärger über die Familie spielte doch neben seiner Besorgnis eine große Rolle: Zu ihm hätte sie nicht kommen dürfen, aber um der Verwandten willen, denen sie als behandelnder Arzt nicht gut genug war, hätte sie ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen. Schließlich schickten wir sie mitten im Winter für einige Wochen ins Riesengebirge. Dort erholte sie sich schnell und konnte ihre Praxis bald wieder aufnehmen.

Als Erna abgereist war, nahm ich mir meinen Schwager vor und bat ihn um das Versprechen, Erna während ihrer Erholungszeit Ruhe zu lassen und sie mit keinerlei Klagen oder Vorwürfen zu quälen. Wenn er oder seine Mutter sich durch irgend jemanden aus der Familie beleidigt fühlten – ein Fall, mit dem man erfahrungsgemäß in kurzen Abständen immer wieder rechnen mußte – dann sollte er es mir sagen; ich wolle mir die größte Mühe geben, Abhilfe zu schaffen. Nach einigem Zögern ging er darauf ein.


2.

Ich wohnte damals nicht zu Hause. Als unsere Cousine Selma Schlesinger starb, war ich in Hamburg, kam aber bald darauf nach Breslau zurück. Ihre Mutter – Tante Bianca, die älteste Schwester meiner Mutter – hatte die letzten Jahre mit ihr allein gelebt. Die älteste Tochter war in Budapest verheiratet, die zweite leitete ein Kinderheim in Berlin. Der einzige Sohn, der Stolz der ganzen Familie, hatte eine große ärztliche Praxis in Berlin. Tante Bianca war damals 75 Jahre alt, sie hatte ein unheilbares Augenleiden und war auch sonst kränklich. Trotzdem besorgte sie ihren kleinen Haushalt noch allein mit einem ganz jungen Dienstmädchen. Die Pflege ihrer [159] jüngsten Tochter, die bis zu ihrer Erkrankung einen Vertrauensposten als Büroangestellte bekleidete, war ihre Hauptbeschäftigung. Natürlich hatte sie der Verlust dieses geliebten Kindes sehr hart getroffen, und man konnte sie jetzt nicht allein lassen. Der Familienrat beschloß, daß eine ihrer Nichten bei ihr schlafen müsse. Erst war es Grete Pick, dann Martha Burchard. Aber beide waren tagsüber außerhalb des Hauses beruflich tätig und empfanden es als große Last, wenn sie sich abends nicht in ihr gewohntes Heim zurückziehen konnten. Beim ersten Besuch nach meiner Rückkehr durchschaute ich diese Situation und sagte zu meiner Mutter, als wir aus dem Hause heraustraten, ich würde recht gern zu der Tante übersiedeln, da die andern doch offenbar nur gezwungen bei ihr blieben. Meine Mutter war sehr erfreut über diesen Vorschlag, und auch allen andern Beteiligten war er willkommen. Am Neujahrstag übernahm ich mein neues Amt. Die Tante begrüßte mich überrascht und gerührt. „Bist du wirklich zu mir gekommen? Ich habe es gar nicht glauben können“. Tatsächlich war ich in diesem Hause fremder als bei den andern Verwandten. Aus einem sehr eigenartigen Grunde hatte der Verkehr zwischen den beiden Familien Jahre hindurch geruht. Unsere älteste Cousine Jenny war in ihrer Jugend mit unserm Schwager Max Gordon verlobt. Er hatte die Verbindung gelöst, weil man ihn drängte zu heiraten, ehe er noch imstande war, eine Frau zu ernähren. Als er sich viele Jahre später mit meiner Schwester Else verlobte, wurde das von der ganzen Familie Schlesinger als eine schwere Kränkung empfunden und sie betraten unser Haus nicht mehr, obgleich meine Mutter doch an dieser Verlobung gänzlich unschuldig war. Man muß der Tante ihren Schmerz darüber zugute halten, daß ihre drei schon reichlich bejahrten Töchter noch unverheiratet waren. Als es endlich noch glückte, für ihre Älteste einen Mann zu finden – einen Witwer mit drei Töchtern – söhnte sie sich sofort mit meiner Mutter aus.

Häusliche Pflichten brauchte ich nicht zu übernehmen. Im Gegenteil, es kam darauf an, daß die Tante wieder jemanden zu betreuen hatte. Sie hatte ihr Nähtischchen auf einem erhöhten Platz am Fenster, so daß sie die Strasse gut übersehen konnte. Das mußte nun mein Arbeitsplätzchen werden. Wenn ich dort schrieb und sie nicht gerade in der Küche beschäftigt war, saß sie ganz still mit ihrem Strickstrumpf am andern Fenster und sah mir ehrfürchtig zu. Für jedes Viertelstündchen, das ich mit ihr verplauderte, war sie herzlich dankbar; ebenso, wenn ich ihr etwas vorlas, da sie selbst mit ihren schwachen Augen kaum noch etwas lesen konnte.


[160]
3.

Wenn Hans in jenen Wochen etwas auf dem Herzen hatte, holte er mich ab und ich begleitete ihn zur Klinik. Manchmal verabredeten wir uns auch in der Klinik und machten dann gemeinsam einen Besuch in der Michaelisstr. 38. Ich lernte nun aus eigener Erfahrung die Diskussionen kennen, in die Erna beständig verwickelt wurde; sie griffen mich nur viel weniger an als sie. Ich will einen Fall anführen, der mir noch in Erinnerung geblieben ist. Hans und seine Mutter wollten einen Abend bei uns zubringen. Frau Biberstein kam von ihrer Wohnung aus, Hans aus der Klinik. Er kam meist lange nach unserer gewöhnlichen Abendessenszeit. Da meine Mutter, wenn sie aus dem Geschäft kam, Verlangen nach heißem Tee hatte und überhaupt nicht gern spät aß, warteten wir nicht auf ihn. Er bekam später allein serviert. An jenem Abend hatte Rosa für ihn statt unseres einfachen Abendmahls ein Beafsteak vorbereitet, da sie fand, daß er nach der langen Dienstzeit etwas Kräftiges brauchen könnte. Es war ihr aber nicht eingefallen, auch für seine Mutter eins aufzutragen. Ich weiß nicht, ob sie schon zu Hause ihr Abendessen genommen hatte oder an dem unsern teilnahm. Jedenfalls wurde ihr Tee, süßes Gebäck und Obst vorgesetzt, wie wir alle es noch am späteren Abend zu nehmen pflegten, wenn Gäste da waren. Aber das nicht vorhandene Beafsteak wurde als Zeichen der Nichtachtung und Gleichgültigkeit schwer übel genommen. Ich blieb ganz ernsthaft, während ich diese schwere Anklage hörte. Ich versicherte natürlich mit aller Entschiedenheit, daß Rosa jede kränkende Absicht fern gelegen habe, aber ich wollte dafür sorgen, daß sie sich entschuldigte. Tatsächlich besprach ich die Angelegenheit mit ihr unter vier Augen, redete ihr gut zu, zur Wiederherstellung des Friedens dieses Opfer zu bringen, da man die Menschen nun einmal nehmen müsse, wie sie seien, und bewog sie, brieflich um Verzeihung für die unbeabsichtigte Kränkung zu bitten. Das genügte, um Mutter Biberstein zu versöhnen, und es herrschte nun wieder Ruhe bis zur nächsten Gelegenheit.

Diese Aussprachen zwischen Hans und mir dienten nur zur Befestigung der alten Freundschaft. Ich erinnere mich, daß er einmal in einer solchen Unterredung in sehr herzlichem Ton sagte: „Du weißt doch, daß ich nächst Erna zu dir das größte Vertrauen habe – ein fast unbegrenztes“. Wir gerieten nie aneinander, wie es in unserer Studentenzeit manchmal geschehen war. Das lag daran, daß ich meine Einstellung zu den Menschen und zu mir selbst völlig geändert hatte. Es kam mir nicht mehr darauf an, Recht zu behalten und den Gegner unter allen Umständen „unterzukriegen“. Und [161] wenn ich noch immer einen scharfen Blick für die Schwächen der Menschen hatte, so benützte ich das nicht mehr, um sie an ihrer empfindlichen Stelle zu treffen, sondern um sie zu schonen. Auch die erzieherische Einstellung, die ich wohl immer noch hatte, hinderte mich daran nicht. Ich hatte es gelernt, daß man Menschen nur sehr selten bessert, indem man ihnen „die Wahrheit sagt“: das kann nur dann helfen, wenn sie selbst das ernste Verlangen haben, besser zu werden, und wenn sie einem das Recht zur Kritik einräumen. So war es auch in jenen Gesprächen mit meinem Schwager für mich das Wichtigste, daß ich ihn und seine Mutter in ihrer uns so fremden Wesensart besser kennenlernte. Ich habe Erna dadurch später oft beistehen können.

Im Laufe des Jahres 1920 wurde die Hochzeit vorbereitet. Die Wäscheaussteuer wurde für beide im Guten Hirten-Kloster genäht. Die Möbel ließ meine Mutter aus gutem Holz, das sie für diesen Zweck zurückgelegt hatte, von einigen ihrer Kunden arbeiten. Hans wollte alles möglichst elegant und modern und war nicht leicht zufrieden zu stellen.

Das Schwerste war, eine passende Wohnung zu finden. Es war die Zeit der größten Wohnungsnot. Während der Kriegsjahre hatte in ganz Deutschland die Bautätigkeit stillgestanden. Dazu kam, daß sich in Breslau die Flüchtlinge aus Posen und Oberschlesien zusammendrängten. Man konnte nur auf Karten durch Vermittlung des Wohnungsamtes eine Unterkunft bekommen. Erna und Hans hatten No. 23000 (es war etwas darüber, ich weiß die genaue Zahl nicht mehr). Es war klar, daß sie darauf nicht warten konnten. Es blieb nichts übrig, als den Giebel unseres Hauses für sie herzurichten. Dazu mußte erst eine sehr unangenehme Haushälterin, die nicht in Güte zum Ausziehen zu bewegen war, durch ein langes Gerichtsverfahren ausquartiert werden.

Während dieses ganzen Jahres war ich in Breslau. Es brannte mir zwar dort der Boden unter den Füßen. Ich befand mich in einer inneren Krisis, die meinen Angehörigen verborgen war und die in unserm Hause nicht gelöst werden konnte. Doch ich hätte nicht fortgehen mögen, ehe Ernas Los entschieden war. Ihre Brautzeit war eine lang ausgedehnte Qual. Wenn sie morgens aus unserm Giebelzimmer herunterkam, saß ich gewöhnlich schon an meinem Schreibtisch bei der Arbeit. Dann kam sie regelmäßig herein, um mir zu berichten, was sich am Abend vorher zugetragen hatte. Die Verlobten waren ja täglich bei uns oder bei Bibersteins zusammen. Sehr oft fing sie mit den Worten an: „Ich weiß mir keinen Rat mehr, ich bin am Verzweifeln“. Dann ließ ich sie auf dem Stuhl neben meinem Schreibtisch – mir schräg gegenüber – niedersetzen [162] (meine Freundin Trude Kuznitzky nannte ihn immer den „Sprechstunden-Stuhl“) und alles erzählen und riet ihr, so gut ich konnte. Meine Richtschnur war immer: Nachgeben in allem, was kein Unrecht wäre. Nach der Aussprache ging sie erleichtert hinunter zum Frühstück und in ihre Sprechstunde. Es handelte sich meist um ähnliche Fälle wie der, den ich vorhin als Beispiel erzählte. Aber es stand doch etwas Ernsteres dahinter. Als Hans sich entgegen seinen jugendlichen Zukunftsplänen zur Heirat entschloß, hielt er daran fest, daß er sich von seiner Mutter nicht trennen wolle, und Erna willigte darein, daß sie zu ihnen ziehen solle. Aber die ganze Familie riet ihr davon ab, mit der Schwiegermutter gemeinsamen Haushalt zu führen, und sie selbst fürchtete sich davor. Auch Hansens Verwandte, die seine schöne und liebenswürdige Braut bald ins Herz geschlossen hatten, redeten heimlich auf meine Mutter ein, sie solle so etwas nicht zugeben, Erna würde zu viel zu leiden haben. Oft genug sagte meine Mutter in Gegenwart von Frau Biberstein, sie selbst hätte sich immer vorgenommen, niemals zu einem Kinde ins Haus zu ziehen. Praktisch löste sich die Frage dadurch, daß sich keine passende Wohnung fand. In unserm Giebel konnte die Mutter unmöglich mit untergebracht werden. Außerdem sollte sie ihre Wohnung im Süden behalten, um sie für Hans zu sichern, wenn er sich einmal niederlassen wollte. So brauchte das gefährliche Thema zwischen den Beteiligten gar nicht ausdrücklich verhandelt zu werden. Aber Mutter Biberstein und Hans spürten doch deutlich, wie froh meine Angehörigen über die ihnen so schmerzliche Lösung waren und daß selbst Erna aufatmete. Und daraus ergab sich jene Feindseligkeit besonders gegen meine Mutter, von der ich früher sprach. Die beiden wurden ganz blind gegen ihre großen menschlichen Vorzüge und behandelten sie mit so wenig Achtung, wie es ihr sonst kaum je begegnete. Daß sie sich dadurch gekränkt fühlte und dem Schwiegersohn nicht herzlich entgegenkommen konnte, ist begreiflich. Noch mehr als das, was ihr selbst widerfuhr, ging meiner Mutter das zu Herzen, was ihr Kind zu leiden hatte und vermutlich ihr ganzes Leben hindurch leiden müßte. Diese Sorge wurde manchmal so groß, daß sie eine Lösung der Verlobung ins Auge faßte, obwohl sie doch als echte jüdische Mutter nichts sehnlicher wünschte als ihre Töchter gut verheiratet zu sehen. Wenn Erna „am Verzweifeln“ war, dann tauchte auch bei ihr mitunter dieser Gedanke auf. Aber ich ließ ihn nicht aufkommen. Ich war fest davon überzeugt, daß die beiden für einander bestimmt seien und daß besonders Ernas Leben zerstört wäre, wenn die Ehe nicht zustande käme. Ich hoffte auch, daß vieles besser würde, sobald sie erst einmal verheiratet wären, weil viele Mißverständnisse durch [163] das Zusammenwachsen im gemeinsamen Leben von selbst verschwinden würden.

Anfang Dezember wurde die Hochzeit gefeiert. Es waren zwei Tage dafür nötig, weil selbst unsere großen Räume für die Zahl der Gäste nicht ausreichten. Am Tage der standesamtlichen Trauung kamen abends unsere Vettern und Cousinen sowie die nächsten Freundinnen, Lilli und Rose mit ihren Verlobten. Zur kirchlichen Trauung mit dem anschließenden Hochzeitsmahl waren nur die Geschwister des Brautpaares mit ihren Kindern und die Geschwister der Eltern geladen (d.h. zur Trauung kamen alle Verwandten und Bekannten, aber die ungeladenen Gäste zogen sich sofort danach zurück). Bei unserer ausgedehnten Familie ergab dieser „engste Kreis“ noch eine Tafel von über 50 Personen.

Mir ging es damals gesundheitlich recht schlecht, wohl infolge der seelischen Kämpfe, die ich ganz verborgen und ohne jede menschliche Hilfe durchmachte. Am Morgen der standesamtlichen Trauung, während die letzten schweren Möbel die Treppen hinauf getragen wurden, lag ich mit heftigen Schmerzen in einem unserer Schlafzimmer auf der Chaiselongue und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Als Erna einmal heraufkam, sagte sie, sie könne das nicht mitansehen und gab mir etwas Morphium. Abends war ich wieder ganz munter. Anfangs beteiligte ich mich nicht am Tanz. Aber als ich schon zu vorgerückter Stunde neben Hans am Flügel stand, begann plötzlich eine altbekannte, lebhafte Melodie. „Ist das nicht ein Dreher?“ fragte ich. Dieser Tanz war in unserer Studentenzeit aufgekommen, und ich hatte ihn von Hans gelernt. „Ja“, sagte er, „hast du etwa Lust zu tanzen? Ich habe es bisher nicht gewagt, dich zu bitten, weil es dir nicht gut war“. Wir fingen an und tanzten den ganzen etwas wilden Tanz durch. Als Hans mich dann zu einem Stuhl führen wollte, ging die Musik in einen langsamen Walzer über, „So“, sagte er, „nun müssen wir doch den Leuten zeigen, daß wir auch vornehm tanzen können“, und wir tanzten noch den ganzen Walzer durch. Es war für mich das letztemal, daß ich richtig tanzte. Nach Jahren habe ich es noch ein paarmal mit meinen Schülerinnen getan, wenn sie an Fastnacht sehr darum baten.

Die kirchliche Trauung fand bei uns im Hause statt. Ich richtete mit meinem Bruder Arno zusammen den Saal dafür her. Bei den jüdischen Trauungen sitzt die Braut zunächst auf einem abgesonderten Platz, während der Bräutigam mit dem Rabbiner und den andern Männern – es müssen mindestens zehn sein – in einem andern Raum betet. Dann spricht der Rabbiner einen Segen über sie, ehe sie der Bräutigam in feierlichem Zuge zum eigentlichen [164] Trauakt unter den „Brauthimmel“ holt. Wir stellten den Sessel für Erna an einen Pfeiler zwischen zwei Fenster, wo sonst mein Schreibtisch stand. Darüber hing ein Bild des hl. Franziskus von Cima. „Das müssen wir wohl fort tun“, sagte Arno, in dem Gefühl, daß der Heilige wohl kein ganz passender Zeuge bei einer jüdischen Trauung sei. „Laß es ruhig hängen“, erwiderte ich, „es wird niemand darauf achten“. Es blieb an seinem Platz. Erna war eine ungewöhnlich schöne Braut. Auf dem liturgisch geschmückten Sessel zwischen grünen Pflanzen saß sie wie eine orientalische Prinzessin. Ich sah auf den hl. Franziskus über ihrem Kopf, und es war mir ein großer Trost, daß er da war.

Das Brautpaar fuhr nach der Hochzeit ins Riesengebirge. Erna schrieb mir von dort einen überglücklichen Brief, Sie müßte mir sagen, wie schön es sei, weil sie wüßte, daß ich mich mit ihr freuen würde. Nun war ich beruhigt und fühlte mich frei, für mich selbst Sorge zu tragen.


[T7] ERNA BIBERSTEIN-STEIN [T8] AUGUSTE STEIN


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