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war auch Hans stets willkommen. Soviel es seine und meine Zeit erlaubte, waren wir zusammen, er ging auch mit mir ins Theater, was er sonst kaum tat. Er war sehr dankbar für diese Besuche; aber sie verstärkten noch seinen stillen Ärger darüber, daß Erna das ganze Jahr hindurch nicht nach Berlin kam. Er sah darin ein Zeichen von Gleichgültigkeit und trug es ihr noch nach, als sie schon längst verheiratet waren. Sicherlich sehnte sich Erna nicht weniger nach einem Zusammensein als er, aber sie hatte ihre junge Praxis zu versehen, und die Familie hätte sich dem Plan einer Fahrt nach Berlin „ohne besondere Veranlassung“ sicher widersetzt; bei ihrer leichten Beeinflußbarkeit genügte das für sie, um auf ihren stillen Wunsch zu verzichten. Hans spürte diesen Einfluß der Familie genau, und das wurde der Anfang einer feindseligen Einstellung, die sich immer mehr steigerte.

Für den 1. Februar hatte Erna in den Zeitungen den Beginn ihrer Praxis bekannt gegeben. Am Haus und am Gitter unseres Vorgärtchens war ein Schild angebracht und daneben eine Nachtglocke; die Leitung führte in unser Schlafzimmer. In der Nacht vom 31. Januar zum l. Februar wurde ich zum erstenmal durch die Nachtglocke geweckt. Ich mußte Erna erst rufen. Sie fuhr schlaftrunken in die Höhe. „Du mußt jetzt ans Fenster gehen“, sagte ich. Sie kam erst allmählich zur Besinnung. Richtig – es stand ein Mann unten, um sie zu seiner Frau zu holen: in ein Proletarierhaus in einer sehr finsteren Gegend. Nach einigen Stunden kam sie nach einem erfolgreichen Eingriff zurück. Die Praxis richtete sich erstaunlich schnell ein. Die ganze Familie nahm lebhaften Anteil daran und wollte am liebsten über jeden Fall genauen Bericht haben, so daß Erna manchmal kopfschüttelnd abwehrte, da es ja bekanntlich eine Schweigepflicht gäbe. Im Winter erkrankte eine ältere Cousine an einem schweren Unterleibsleiden. Sie wurde von einem „berühmten“ Frauenarzt operiert (meine Mutter und Hans nahmen das sehr übel), Erna wurde nur gebeten, der Operation beizuwohnen, und als der Zustand der Kranken sich nachher verschlimmerte und hoffnungslos wurde, verlangte sie häufig nach ihr. Einmal wurde Erna noch spät am Abend in die Klinik gerufen; zum Rückweg in der kalten Winternacht konnte sie kein anderes Gefährt finden als einen offenen Schlitten. Die Folge war ein schwerer Bronchialkatarrh, der lange nicht weichen wollte. Zusammen mit den Anstrengungen eines Arbeitsjahres, in dem sie sich keine Erholung gegönnt hatte, und den Aufregungen dieser Tage ergab das eine große Erschöpfung: sie sah elend aus und magerte ab. Im November starb unsere Cousine, im Januar 1920 kam Hans nach Breslau zurück, um dauernd daheim zu bleiben. Er begann nun seine Tätigkeit

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/174&oldid=- (Version vom 31.7.2018)