Textdaten
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Autor: K. H.
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Titel: Aus alter Zeit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 763–765
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[763] 

In der Klosterkirche zu Unter-Riexingen.[WS 1]
Nach der Natur aufgenommen von Robert Heck.

[764] Aus alter Zeit. (Mit Abbildung, S. 763.) Im Skizzenbuche eines Freundes blätternd, der als feinfühliger Bildhauer häufig an den in reicherem Style ausgeführten Neubauten Stuttgarts beschäftigt ist, unterhielt ich mich mit ihm über den Aufschwung der Architectur in der Schwabenhauptstadt und über deren Eigenart, welche zu ihrem bildlichen Schmuck sehr häufig Motive aus der Pflanzenwelt verwendet und dadurch zierlich, sinnig und fein wird, während zum Beispiel in der Nachbarhauptstadt München die Bauformen gern breit, schwer und gewaltig werden. Von der Untersuchung der Gründe dieser verschiedenen Erscheinung – hier das Weinland mit seinen Hügeln, seiner feinen und doch festen Steinart, welche zu zarten Ausführungen von selbst einladet, und dabei der beweglichere Charakter des Volksstammes; dort die breit ausgegossenen Flächen der Donau- und Isarniederung, der Backsteinbau und der Biercultus – kamen wir auf die vom Urheber des Skizzenbuches so oft angewandte Benutzung der in Pflanzen und Blüthen schon gegebenen Formen für das Ornament, und es war wirklich erstaunlich, wie in diesen Zeichnungen nach der Natur die ordnende Hand des Bildhauers durch scheinbar nur unwesentliche Aenderungen oft aus den einfachsten Pflanzenformen, aus Petersilie, aus einem Waldglöckchen etc., die feinsten Motive für irgend eine Rosette oder andere Ornamentenbestandtheile herausgebildet hatte.

Es mutheten diese Zeichnungen das Auge an, wie etwa die kurze Rede eines verständigen Mannes das Ohr.

Mitten in diesen Blättern hielt ich plötzlich inne und fragte den Bildhauer: „Wo ist denn das zu finden?“ – Es war eine edle weibliche Figur in Nonnentracht, von einer spitzbogigen Nische umschlossen, welche wieder mit reichen Ornamenten und Wappenschildern umsäumt war; die ganze Erscheinung war auch diesmal nur mit wenigen Linien, das Wesentliche wiedergebend, ausgeführt.

„Ja, dies ist freilich schön,“ antwortete er; „es ist ein Grabstein in der Ruine einer Kirche in Unter-Riexingen,[WS 1] der mit noch manchen anderen, umrankt von wilden Pflanzen, dort im Innern der Kirche steht.“

Von da an ließ mir die alte Edelfrau in ihren Nonnenkleidern keine Ruhe mehr, und als eine Woche später der Himmel gar zu mailustig blaute und auf der Erde Blüthe um Blüthe sich aufschloß, da flog ich hinaus zum Stelldichein mit meiner steinernen Ersehnten. In Bietigheim, den Dampf und Ruß des Bahnzuges abschüttelnd, brachten mich schon ein paar Schritte weg vom lärmenden Gewühle und hinein in die sonnenduftige Thalebene der Enz, welche in tiefem Einschnitt hier mit vielfachen weich geschwungenen Bögen thalabwärts schleicht, um eine Stunde weiter unten sich mit dem lustigen Neckar zu verbinden. Wie so ganz anders springt die fröhliche, goldbraune und doch so bis zum Grund klare Schwarzwaldtochter weit hinten in den immergrünen Wäldern von Fels zu Fels, brausend und schäumend vor Jugendlust! Aber freilich in Wildbad schon mußte sie sich von so und so viel übercultivirten Menschen angucken und kritisiren lassen; dann legte man ihr Wehr um Wehr, Damm um Damm vor, bis sie vom vielen Stauen und Hemmen lebensmüde und vom vielen Arbeiten und Menschenverkehr schmutzig und trübe geworden ist. Aber auch auf ihr glänzte nun das Frühlingssonnenlicht und wob seinen silbernen Strahlenschleier über ihren stillen Spiegel.

Kaum eine Stunde an ihren blühenden Ufern aufwärtsschreitend, sah ich nach einer raschen Wegwanderung das Dorf Unter-Riexingen[WS 1] vor mir, auf der einen Seite mit einem neueren Schloß mit Park und einem alten Festungsthurme, auf der andern Seite von der Kirchenruine und einem sanft ansteigenden Hügel flankirt. Wo ein Dorf oder Städtchen zwei derartige Flügelmänner auf den Seiten hat, da ist im Innern desselben in der Regel wenig Einladendes zu schauen; auch hier war’s so; ich vermied deshalb die ärmlichen Häuser, schritt unter lauter blühenden Bäumen an einem munteren Bächlein hin und stand nach wenigen Minuten vor der so malerischen Kirchenruine, deren Vorplatz nun zum Kirchhofe dient; ein Sprung über die Umfassungsmauer und einige Schritte über niedrige Hügel führten mich durch die spitzbogige Thüröffnung, und ich stand vor dem steinernen Frauenbilde, das mich hierher gerufen. Aber meine Blicke blieben nicht allzu lange auf demselben haften, obgleich sie hier noch schöner und in künstlerischer Hinsicht vollendeter schien, als jene flüchtigen Skizzenstriche es ahnen ließen; denn außer ihrem Steinbilde stand noch eine ganze Reihe anderer Figuren, theils Männer in Ritterrüstung, theils Frauen im Costüme der Edeldamen des Mittelalters, theils Kinder, mit mehr oder weniger Kunstvermögen in Relief oder im lebensgroßen Rundbilde in Stein gemeißelt, vor meinem verwunderten Auge; selbst der ganze Boden war überdeckt mit Grabsteinen in ganz unverdorbener Bildhauerarbeit. Ringsum zeigten sich die Umfassungsmauern an Stellen, wo Regen und Hagel die Wand nicht erreichen konnten, mit Fresken übermalt, welche meistens Scenen aus dem jüngsten Gerichte darstellten, oft in wunderschöner Linienführung gezeichnet, aber – höchst wahrscheinlich von anderer Hand – in kindisch einfacher Weise ausgeführt.

Oben über all den Grabsteinen, Bildern und Mauern war aber keinerlei Dach mehr. Regen und Schnee, Wolken und Sonne ziehen durch die offenen Kirchenräume, und dem entsprechend sah denn auch der Kirchenboden aus; wo nur irgend eine Spalte zwischen den Grabsteinen vorhanden war, da hatte sich Erde angesammelt; Samenkörner waren vom Winde hereingetragen worden, und so hatte sich im Reiche der Kirche, der Kunst und des Todes die unsterbliche Natur immer reicher sprossend entwickelt und den jetzigen Zustand herbeigeführt; denn Epheu rankt sich auf an den Edelfrauen und Rittern; Brombeerstauden und Himbeerbüsche haben ein Viertheil des Kirchenraumes in Manneshöhe mit ihrem tiefen Grün überwuchert, und an anderen Stellen haben Holunderstauden sich schon zu kleinen Bäumen entwickelt, haben am Boden, wo die Fuge zwischen den Grabsteinen zu eng wurde, kurzweg eine Ecke der Steinplatten weggesprengt und strecken nun ihre schirmförmigen Blattkuppeln mit den weißen Blüthendolden dem Sonnenlichte zu. Ebenso seltsam, fast wunderbar sieht es im Chore aus, zu welchem vom Kirchenraume aus ein mächtiger Spitzbogen den Zutritt öffnet; dort ist kein Pflanzenwuchs auf dem Boden zu sehen, aber ein desto sonderbareres Dach steht drohend über demselben.

Zeit und Wetter haben nämlich auch hier von außen die Ziegel und Balken, welche dieselben trugen, zerstückelt und vernichtet; Regen und Schnee konnten somit ungehindert auf das Chorgewölbe einwirken und haben denn auch Kalk und Bindemittel von den Gurtbögen und den Füllsteinen der Chordecke auf’s Gründlichste weggewaschen, so daß man, unten im Chor stehend, zwischen jeder Steinfuge durch den Himmel sieht, und die ganze Decke, welche jetzt nur noch durch die gegenseitige Spannung der Steine zusammenhält, wie ein Damoklesschwert über dem Beschauer [765] hängt. Die Abschließung des Lichtes nach oben giebt aber den drei Fensteröffnungen des Chores mit ihrem edlen frühgothischen Maßwerk einen ganz eigenthümlichen Reiz, denn dieselben schließen so als schwarze Rahmen den Dämmerton des Chores ab und lassen die durch die Fenster hinaus sichtbaren Theile des Himmels und der Landschaftsferne nur in desto leuchtenderem Blau und Violett erscheinen.

In vollster Harmonie mit der Gesammtwirkung dieses Bildes steht die lautlose Stille, welche um diesen träumerisch schönen Raum ausgegossen liegt, kaum daß ein Käferlein auf den einzelnen Blüthen summt oder eine kleine Eidechse erschreckt den seltenen Eindringling anstarrt und dann scheu bei der leisesten Bewegung unter dem nächsten Busche sich birgt; sonst ist Alles lautlos still; ja selbst die Wißbegierde ist zum Schweigen genöthigt, da kein Kirchen- oder Rathhausbuch Aufschluß über das frühere Schicksal dieses Raumes giebt, sondern die ganze Geschichte desselben, sein Werden, Blühen und Vergehen aus den Steintrümmern herausgelesen werden muß.

Mit wie stolzer Freude mögen einst vor nun sechshundert Jahren die mönchischen Erbauer dieses Kirchenraumes das fertige Werk angeschaut haben! Wie verächtlich hätten ihre Gesichter drein geschaut, wenn ein Fernsehender ihnen gesagt hätte, daß kaum zwei Jahrhunderte später das Wort eines gegen seine Obern rebellischen Mönches dieser Kirchenschöpfung sowie viel tausend andern den Todesstreich versetzen würde!

Und doch kam es so. Nicht die Kriegsfurie warf die Fackel in die herrliche Kirche; nicht einmal der elektrische Funke vom Himmel bewahrte sie vor dem unrühmlichsten Ende, vor dem Verlassen- und Vergessenwerden, sondern der Blitz der Reformation verjagte auch hier die Priester, nachdem er die ganze Umgegend protestantisch und die Mönche hierdurch brodlos gemacht hatte. Eine Zeitlang mag die Verlassene noch als Begräbnißplatz für die umliegenden Edelgeschlechter gedient haben; als aber auch diese ausstarben oder verkamen und allmählich verschwanden, wurde die Kirche selbst von den Todten verlassen; das Dach verwitterte, verfaulte und stürzte endlich zusammen; die Bauern benutzten für ihre armen Hütten kleine Reste aus den Trümmern, und so schuf sich allmählich der jetzige Zustand der Ruine, der in seiner traumhaften Stille so manches Kunstschöne birgt, aber eine weit größere Fülle innerer Anschauungen über das Grundwesen des menschlichen Strebens erweckt. – Unwillkürlich tritt ein Lächeln des Mitleids über die kindliche Naivetät der Menschen jener Zeiten uns in’s Antlitz, wenn wir einen Theil jener Bilder des jüngsten Gerichtes überblicken; aber hat unser Jahrhundert nicht auch noch seinen heiligen Rock in Trier, Mariahemd und andere heilige Fetzen, Splitter und vergoldete Heiligenknochen an andern Orten? Haben wir wirklich ein so großes Recht, über die Thorheit jener Zeit uns lustig zu machen? Gewiß nicht! Aber was wir thatsächlich haben, das ist eine Fülle von gegründeter Hoffnung, dereinst völlig Sieger noch zu werden über alle jene plumpen und feineren Versuche, die ewige Wahrheit in ihrer einfachen Größe und Schönheit zu umdunkeln und zu übertünchen, und so schritt auch ich aus diesen Kirchenräumen mit ihren gesprengten Gräberdecken und mit ihrem eingestürzten Steinhimmel fröhlich hinaus in die um und um blühende, sonnenglänzende Welt, in froher Siegeshoffnung, wie schon oft, die herrlichen Prophetenworte Lenau’s wiederholend:

„Das Licht vom Himmel läßt sich nicht versprengen,
Noch läßt der Sonnenaufgang sich verhängen
Mit Purpurmänteln oder dunkeln Kutten;
Den Albigensern folgen die Hussiten
Und zahlen blutig heim, was jene litten;
Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter,
Die Stürmer der Bastille, und so weiter.“

K. H.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. a b c Vorlage: Rinxingen