Textdaten
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Autor: Otto Felsing
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Titel: Aus Noth und Tod!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 370–371
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Zum 25. Jubiläum der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger ein Rückblick auf Gründung und Entwicklung
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Aus Noth und Tod!

Zum 25jährigen Bestehen der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“.
Von Otto Felsing.

Wer an Bord eines Schiffes, von See kommend oder in See gehend, die Elbmündung berührt, erblickt weit draußen auf den grollenden grauen Wogen der Nordsee mehrere feuerroth angestrichene Leuchtschiffe, die außenbords die Bezeichnung „Elbe“ und eine Nummer in ellenhohen weißen Buchstaben tragen. Das mit der Nummer II beherbergt einen alten Seemann, der nach und nach nicht weniger als achtzig Menschen vor dem Wellentode gerettet hat – stets mit Anspannung aller körperlichen und seelischen Kräfte bis aufs äußerste und immer mit opfermuthiger Einsetzung des eigenen Lebens! Ringhoff, so heißt der Wackere, ist Schiffszimmermann auf diesem Feuerschiffe, zugleich aber gehört er zu der Rettungsmannschaft, welche die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ auf diesem ewig meerumbrausten Posten unterhält; und in ihrem Dienste hat er seine Heldenthaten vollbracht – wahre Heldenthaten, wie sie größer und segensreicher selbst in der glorreichsten Schlacht nicht vollführt werden, wenn auch kein Heldenlied von ihnen singt und sagt! Und sie stehen nicht einzig da; denn solcher „braven Männer“ wie Ringhoff giebt es viele an den deutschen Meeresküsten, eine Anzahl auf jeder von der genannten Gesellschaft angelegten Rettungsstation, und dieser Stationen sind nicht weniger als hundertunddreizehn auf dem nur etwa zweihundertundachtzig Meilen langen deutschen Küstensaume von Memel bis Borkum! Sechsundsechzig davon kommen auf die langgestreckte Küste der Ostsee und siebenundvierzig auf die minder ausgedehnte, aber weit gefährlichere der überdies viel stärker befahrenen Nordsee.

Die Leser der „Gartenlaube“ wissen aus einem Artikel im Jahrgang 1880 und den ihm beigegebenen Abbildungen ja schon zur Genüge, wie diese Rettungsstationen eingerichtet sind, wie in einem großen Schuppen die großen und kleinen, meist aus kanneliertem Eisenblech nach dem „System Francis“ gebauten Boote, die Raketenapparate, die Schwimmgürtel etc. untergebracht sind; und es ist den Lesern ebenso bekannt, daß die aus der Fischerbevölkerung der Stationsorte angeworbene Mannschaft regelmäßige Uebungsfahrten und Rettungsübungen unternimmt, um in jeder Beziehung wohlgerüstet zu sein, wenn es gilt, den rasenden Stürmen Opfer auf Opfer abzuringen; es soll daher heute des näheren nicht wieder darauf eingegangen werden – nur einen Gesammtüberblick über das möchte ich heute geben, was jene wackere Mannschaft, was jene Gesellschaft bis heute erreicht haben, erreicht in einem Vierteljahrhundert!

Am 29. Mai d. J. begeht die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ die 25. Wiederkehr ihres Gründungstages. Kaum dürfte es ein zweites deutsches, von Privatmännern geschaffenes und lediglich aus privaten Mitteln erhaltenes Unternehmen geben, das sich hinsichtlich seiner musterhaften Organisation und Verwaltung, seiner praktischen Einrichtungen und seiner großartigen Leistungen das gleiche Recht auf allgemeine Anerkennung erworben hätte! Unter dem Vorsitz ihres greisen Begründers und ersten Vorstands, des Konsuls H. H. Meier aus Bremen, hält die Gesellschaft ihre bedeutungsvolle Jahresversammlung zu Berlin, unter den Augen des Reichsoberhauptes, ab, wobei der nahe Wannsee Gelegenheit geben wird, den binnenländischen Zuschauern eine Probe des gesammten Rettungswesens im kleinen vorzuführen.

Ein eigenthümlicher, aber dabei innerlich tief begründeter Parallelismus waltet zwischen den Geschicken des Deutschen Reiches und des deutschen Seerettungswesens ob: aus unbedeutenden Anfängen erwachsen, in den ersten Jahren sonderstaatlicher Zersplitterung anheimgegeben und deshalb ohnmächtig, dann in der Verborgenheit erstarkt, bis es endlich mit einem Schlage wie ein junger Riese thatkräftig und thatmächtig hervortritt ans Licht, so ist das deutsche Rettungswesen in seinem Werden ein getreues Spiegelbild des Werdens unseres jungen Deutschen Reiches, mit dessen und durch dessen Erstarkung es seine heutige Höhe erreicht hat.

Die wenigen wackeren Männer, welche sich am 29. Mai 1865 in Kiel einfanden, um über einen engen Zusammenschluß der bisher an den Küsten der Einzelstaaten getrennt bestehenden, mit äußerst schwachen Mitteln arbeitenden „Vereine zur Rettung Schiffbrüchiger“ zu berathen, kamen fast sämmtlich nur aus den Hafenstädten und Küstenplätzen – was kümmerten sich denn auch damals die Binnenstädte um die See und das Seerettungswesen, wie konnten sie auch viel Interesse daran haben, in welcher Weise die ihnen staatlich fremden Bewohner der Küsten sich mit den Schrecken der Strandungen, dem grauenvollen, Noth und Tod bringenden Elend der Schiffbrüche abfanden! Fremd ihrem Auge, fremd ihrem Herzen war, was dort geschah, und blieb es im wesentlichen, bis die einzelnen Staaten zum einzigen, die deutschen Völker zum deutschen Volk sich geeint hatten und so von jedem Gliede am Körper der Nation empfunden wurde, was einem andern widerfuhr. So lange der deutsche Partikularismus im Staatsleben sich der Einigung widersetzte, so lange hinderte er auch das Einigungswerk und damit die Kräftigung und das segensreiche ins Große Wirken des Seerettungswesens; klarer hat sich das nie gezeigt als an jenem Einigungsversuche in Kiel, der, wenn er auch nicht scheiterte, doch nur zu einem „provisorischen“ Ergebniß führte, weil manche der Versammelten trotz aller Begeisterung für das gemeinsame Ziel sich dennoch nicht überwinden konnten, die kleinen Sonderinteressen ihrer Vereine zu opfern.

Erst im folgenden Jahre, 1866, auf einer zweiten Versammlung in Hamburg am 29. Mai, konnte die Verschmelzung der vielen kleinen Einzelvereine (Emden, Bremen, Lübeck, Danzig etc.) zur großen „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ verkündigt werden – im selben Jahre also, das nach Hader und Bruderkrieg den Anfang einer Verschmelzung der deutschen Staaten zum einigen Bundesstaat sah! Schritt für Schritt mit der Entwickelung Deutschlands ging auch die Entwickelung der Gesellschaft vorwärts, denn aus dem Interesse der Küstenländer und freien Küstenstädte war ein deutsches Interesse geworden! Und das wurde naturgemäß um so lebhafter, je mächtiger sich das Seewesen Deutschlands entfaltete, je stärker damit auch die Zahl seiner Söhne anwuchs, die, bald nach Tausenden zu berechnen, in ihrem Berufe den Kampf mit Wogen und Sturm durchfechten mußten.

Wie dieses Interesse sich bethätigte? Nun, durch den massenhaften Beitritt von Mitgliedern aus allen Gauen des Reichs und durch viele große wie unzählige kleine Spenden! Zu einer wahrhaft nationalen Einrichtung ist die Gesellschaft geworden: dafür spricht unwiderleglich die Thatsache, daß sie heute mehr als 50 000 Mitglieder zählt und lediglich mit freiwilligen Beiträgen von Privatleuten, ohne die geringste Unterstützung seitens der Regierungen, arbeitet. Die Einnahmen an Mitgliederbeitragen, Schenkungen, Vermächtnissen etc. betrugen im verflossenen Rechnungsjahre 253 000, die Ausgaben rund 179 700 Mark. Dabei ist es der Beachtung – und auch der Nachahmung! – werth, daß die Gesellschaft nicht wie so manche andere gemeinnützige Veranstaltung einen unverhältnißmäßig großen Theil ihrer Ausgaben für die Verwaltung aufwendet; im Gegentheil entfällt ein ganz ungewöhnlich kleiner Theil darauf, während dagegen bei den Gehältern der Rettungsmannschaften und bei der Ausrüstung der Stationen, überhaupt bei allem, was dem eigentlichen Zwecke [371] des Werkes förderlich sein kann, ganz gewiß das Aeußerste gethan wird, um bei den Mannschaften der Stationen Lust und Liebe zur Sache wach zu halten. Nicht nur, daß diese seetüchtigen und gut geschulten Mannschaften für jede Uebungsfahrt ihre bestimmte Löhnung, für jede Rettungsfahrt den doppelten und bei Rettungsfahrten unter besonders schwierigen Umständen (Nacht, Eis etc.) sogar den dreifachen Satz erhalten; nicht nur, daß die Gesellschaft für jedes gerettete Menschenleben eine Extraprämie von 20 Mark zahlt (übrigens gleichviel, ob diese Rettung von den Stationsmannschaften und mit den Rettungsgeräthschaften der Gesellschaft erfolgt oder nicht) – sie hat auch das Leben eines jeden einzelnen Mannes der Station versichert, so daß sich keiner dieser Wackeren während des Kampfes gegen die brüllenden Wogen in seiner Thatkraft und seinem Wagemuth von dem Gedanken behindert fühlen soll: was wird aus Weib und Kindern, wenn du bei der Rettung anderer selber „ausbleibst“!

Und es giebt nichts, was diese Tapferen zurückhält, wenn irgend woher bei Tag oder in der Wintersturmnacht ein Bote zur Station jagt mit der Meldung: „Schiff in Noth!“ Man muß sie nur einmal gesehen haben, wie sie in wenigen Minuten das Boot zu Wasser lassen und den Kampf mit der empörten See aufnehmen, um ihr mit eigener Lebensgefahr ihre Opfer zu entreißen. 1868 Menschenleben haben sie bis zum 1. Januar dieses Jahres vor dem sicheren Wellentode bewahrt, also durchschnittlich in jedem Jahre 76! Angesichts dieser Zahlen bedarf es gewiß keiner weiteren Ausführung mehr über das segensreiche Wirken der Gesellschaft – und hoffentlich auch keines besonderen Ansporns, ihr als Mitglied beizutreten oder doch ab und zu ein Scherflein in die kleinen, roth und weißen Sammelbüchsen zu stecken, die uns in so vielen öffentlichen Räumen, Wirthsstuben etc. in Gestalt eines kleinen Rettungsbootes zurufen: „Gedenket Eurer Brüder zur See!“ Jeder Pfennig hilft ja mit, ein Menschenleben zu retten und eine Familie vor bitterer Noth oder doch vor tiefstem Herzenskummer zu bewahren! Noch wissen es nicht alle, die gern hilfsbereit wären, was selbst die kleinste Gabe hier Gutes zu wirken vermag, wenn sie zum Ganzen fließt. Und wenn am Vierteljahrhundertstage der Gesellschaft viele Tausende von nah und fern an die idyllischen Ufer des Wannsees strömen, um das „Kaisermanöver“ einer Normalrettungsstation auf der mächtigen Wasserfläche dieses Havelsees mitanzusehen, die prächtigen Rettungsboote im Gebrauch zu bewundern und eine „Rettung durch die Luft“ vermittels des genial einfach konstruirten Raketenapparates zu bestaunen… möge da recht vielen Tausenden die Bedeutung und der Segen der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ zum Bewußtsein kommen und sie veranlassen, das Ihrige zu thun, und sei es noch so wenig, um diesem wahrhaft national-deutschen Werke zu immer größerer Ausdehnung, zu immer glänzenderen Siegen im Kampfe gegen Noth und Tod zu verhelfen!